Berlin – Chicago – Jerusalem

Dana Vowinckel: Gewaesser im Ziplock

Der Roman »Gewässer im Ziplock« von Dana Vowinckel wurde schon einmal hier erwähnt, gehört er doch zu den fünfzehn besten Büchern, die ich im letzten Jahr gelesen habe. Nun durfte ich die Autorin bei einer Veranstaltung des Kölner Literaturhauses live erleben und das ist eine gute Gelegenheit, ihr Buch endlich ausführlich vorzustellen. »Gewässer im Ziplock« ist eine Familiengeschichte. Eine Familiengeschichte, durch die sich Risse ziehen; manche sind unübersehbar, andere ganz fein und im täglichen Leben kaum wahrzunehmen. Doch gerade die feinen Risse sind es, aus denen die Schatten der Geschichte hervorquellen und die sich jederzeit in aufplatzende, tiefe Furchen verwandeln können. „Berlin – Chicago – Jerusalem“ weiterlesen

Vor dem Untergang

Eric Sonneman: Der letzte Sommer / The Last Summer

Bevor der Mannheimer Photolaborant Erich Sonnemann seinen Namen in Eric Sonneman ändern würde, besuchte er ein letztes Mal seine Verwandtschaft in Freudental – einem Dorf  in der schwäbischen Provinz, irgendwo zwischen Ludwigsburg und Heilbronn. Mit dabei hatte er seine Kamera, mit der er die Familie seines Onkels und dessen Freunde photographierte. Und die Arbeit auf den Feldern, denn es war Erntezeit, damals im Sommer 1938. Ob Erich Sonnemann wusste, dass es danach kein Wiedersehen geben würde? Er emigrierte kurz darauf in die USA und aus seinen Bildern jenes Sommers sind heute Dokumente der Zeitgeschichte geworden. Denn fast alle der darauf abgebildeten Menschen waren einige Jahre später tot, ermordet von ihren Landsleuten und Mitbürgern. Weil sie Juden waren. In dem schmalen Band »Der letzte Sommer« aus der Reihe »Freudentaler Blätter« können wir einige der Photos anschauen. Und erhalten einen Eindruck von trügerischer Normalität, die keine drei Monate später zerbröseln sollte wie ein morsches Stück Holz. Die Photographien sind das Denkmal einer verschwundenen Welt, untergegangen in Barbarei, Leid und Tod. „Vor dem Untergang“ weiterlesen

Gegen das Vergessen: Bücher für junge Leser

Gegen das Vergessen: Buecher fuer junge Leser

Für das Leseprojekt Das Unerzählbare wurde hier auf Kaffeehaussitzer eine Bücherliste zusammengestellt, die sich mit dem Thema Holocaust beschäftigt. Auslöser dafür ist eine Entwicklung, die man zunehmend mit Sorge betrachten muss: Jener monströse Zivilisationsbruch gerät langsam aber sicher aus dem Bewusstsein vieler Menschen, ewiggestrige Geschichtsrevisionisten wittern Morgenluft, Antisemiten unterschiedlichster Couleur versprühen immer aggressiver ihr Gift. Und in der Literatur droht die Auseinandersetzung mit unserer Vergangenheit zum bloßen atmosphärischen Hintergrundrauschen einer Romanhandlung zu verkommen.

Jetzt hat dieses Leseprojekt eine hochwillkommene Ergänzung erhalten, nämlich eine Titelliste speziell für junge Menschen. Sie stammt von der Journalistin, Autorin und Übersetzerin Ute Wegmann, die sich seit vielen Jahren mit dieser Thematik auseinandersetzt und sich durch Initiierung von Projekten wie »HEIMSPIEL – Kölner Autoren lesen in Kölner Schulen« in der Leseförderung engagiert. 2018 erschien ihre Übersetzung von Judith Kerrs Autobiographie »Geschöpfe« – einer Autorin, mit deren Persönlichkeit und Werk sie sich schon lange intensiv beschäftigt. „Gegen das Vergessen: Bücher für junge Leser“ weiterlesen

Das Unerzählbare. Ein Leseprojekt

Das Unerzaehlbare: Ein Leseprojekt gegen das Vergessen

Das Unerzählbare. Mit diesem Begriff umschreibt der Autor Daniel Kehlmann die Beschäftigung mit dem Thema Holocaust und dem mit deutscher Gründlichkeit organisierten Massenmord an sechs Millionen Menschen. Denn wie soll man, wie kann man über diesen monströsen Tiefpunkt der Zivilisation und der deutschen Geschichte reden, schreiben, sprechen? Und gleichzeitig muss man darüber reden und darüber schreiben und darüber sprechen, damit dieses Unerzählbare niemals in Vergessenheit gerät. Deshalb habe ich für ein Leseprojekt Bücher zusammengestellt, die sich mit diesem Thema beschäftigen. „Das Unerzählbare. Ein Leseprojekt“ weiterlesen

Flüchtling im eigenen Land

Ulrich Alexander Boschwitz: Der Reisende

Als ich das Buch »Der Reisende« von Ulrich Alexander Boschwitz zu Ende gelesen hatte und es zugeschlagen neben mir auf dem Tisch lag, musste ich erst einmal tief durchatmen. Um die Anspannung zu lösen, mit der ich bis zuletzt Seite für Seite umgeblättert habe. Und um das Gefühl der Beklemmung loszuwerden, denn »Der Reisende« ist kein gewöhnlicher Roman. Vielmehr ist dieses Buch ein Zeitdokument in Romanform, das uns einen tiefen Einblick gewährt in das Deutschland des Novembers 1938. „Flüchtling im eigenen Land“ weiterlesen

Europas offene Wunde

Zwei Bücher: Yuri Dojc und Katya Krausova, Last Folio und Alter Kacyzne, Poyln

Gerne wird momentan von der abendländischen Kultur Europas geredet, um unsere Identität gegenüber Menschen aus anderen Kulturkreisen abzugrenzen. Und gerne wird dabei auf den christlich-jüdischen Hintergrund unserer kulturellen Entwicklung hingewiesen. Dabei drücken diese Wörter eine Symbiose aus, die es so nie gab; die vor dem Hintergrund eines jahrtausendealten europäischen Antisemitismus wie blanker Hohn wirkt. Es ist eher so, dass in Europa trotz aller Anfeindungen und Verfolgungen eine lebendige jüdische Kultur existierte, die erst durch den industrialisierten Massenmord des Holocaust so dezimiert wurde, dass sie heute nur noch vage wahrnehmbar und in vielen Gegenden – insbesondere Osteuropas – vollkommen verschwunden ist. Zwei Bücher möchte ich hier vorstellen, eines, das auf eindrucksvoll photographierte Art und Weise letzte Spuren dieser Welt zeigt, Zeugnisse des Verfalls und des endgültigen Verschwindens. Und eines, das uns an jene verschwundene Welt in seltenen Photographien erinnert. „Europas offene Wunde“ weiterlesen

Ermittler mit Scheuklappen

Volker Kutscher: Lunapark - Gereon Raths sechster Fall

Es gibt wenig Bücher, in denen Zeitgeschichte so lebendig wird, wie in der Buchreihe um den Ermittler Gereon Rath. Ich mag diese Reihe sehr und habe mich bereits mehrmals auf Kaffeehaussitzer damit beschäftigt. Sie ist ein spannendes und faszinierendes Projekt, denn der Autor Volker Kutscher schafft es darin, die verhängnisvollsten Jahre in der deutschen Geschichte am Beispiel seiner Protagonisten zu erzählen. Gemeinsam mit Gereon Rath erleben wir das Ende der Weimarer Republik und den Weg in die Dunkelheit der Nazi-Diktatur. Und das alles verpackt als spannende Kriminalfälle mit akribisch recherchiertem historischen Hintergrund. Der Roman »Lunapark« spielt im Jahr 1934 und ist der sechste Band der Reihe; die Nationalsozialisten sind dabei ihre Macht weiter zu festigen, die SA terrorisiert die Bevölkerung, das Bürgertum – ursprünglich froh, der kommunistischen Gefahr Herr geworden zu sein – beginnt zu realisieren, auf was für eine Art Staat Deutschland unaufhaltsam zusteuert. „Ermittler mit Scheuklappen“ weiterlesen

Ein Vorhang der Wirklichkeit

Philip K. Dick: The Man in the High Castle - Das Orakel vom Berge

Jetzt bin ich tatsächlich über Amazon auf ein Buch aufmerksam geworden. Ausgerechnet. Wer schon öfters einmal hier war, der weiß, dass die Firma Amazon mit ihren rabiaten Geschäftspraktiken auf Kaffeehaussitzer Hausverbot hat. Gleichwohl fand ich die Nachricht interessant, dass der Gemischtwarenkonzern aus Seattle jetzt als Film- bzw. Serienproduzent agiert, um sich im Streaminggeschäft Marktanteile zu sichern. Eines der ersten großen und offensiv beworbenen Serienprojekte ist »The Man in the High Castle«, die filmische Adaption des 1962 erschienenen, gleichnamigen Romans von Philip K. Dick. Eines Klassikers der phantastischen Literatur, der seit vielen Jahren in deutscher Übersetzung als »Das Orakel vom Berge« vorliegt. Und von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte.

Um was geht es? Es ist die Beschreibung, wie unsere Welt aussehen würde, wenn Nazi-Deutschland und Japan gemeinsam mit Italien den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Eine düstere Was-wäre-wenn-Dystopie, die einen komplett anderen Verlauf der Weltgeschichte schildert. „Ein Vorhang der Wirklichkeit“ weiterlesen

Bestseller eines Massenmörders

Sven Felix Kellerhoff: »Mein Kampf« - Geschichte eines deutschen Buches

Im Sommer des Jahres 2000 reiste ich die kroatische Adriaküste entlang, von Zadar bis nach Dubrovnik. Der Krieg auf dem Balkan war noch nicht lange vorbei, immer wieder sah man ausgebrannte Häuser oder ganze Stadtlandschaften mit komplett neu gedeckten Dächern. Zwei weitere Dinge fielen mir auf: Es gab kaum Buchhandlungen, aber eine Menge mobile Buchverkaufsstände. Und fast auf jedem Stand war neben allen möglichen Romanen die kroatische Version von Hitlers »Mein Kampf« zu finden. Offensichtlich gab es dafür eine Nachfrage. Das wirkte auf mich sehr befremdlich; mutmaßlich waren es Raubdrucke, da die offiziellen Abdruckrechte seit 1945 unter Verschluss gehalten wurden. Bis vor kurzem, als Anfang 2016 die Urheberrechte nach 70 Jahren frei geworden sind. Die Diskussion, wie jetzt mit diesem giftigen Erbe umgegangen werden soll, läuft momentan auf Hochtouren. Ein guter Zeitpunkt, um sich einmal näher damit zu beschäftigen und deshalb habe ich Sven Felix Kellerhoffs »›Mein Kampf‹ – Geschichte eines deutschen Buches« gelesen. Jedem, der sich für diese Thematik interessiert, kann ich – soviel sei vorab gesagt – Kellerhofs Buch unbedingt empfehlen. „Bestseller eines Massenmörders“ weiterlesen

Reise durch die Zwischenwelt

Stephan Abarbanell: Morgenland

Die Suche nach einer verschwundenen Person, ein Roadtrip durch eine Welt im Umbruch und jede Menge zeitgeschichtlicher Hintergrund: Der Klappentext zu »Morgenland« von Stephan Abarbanell versprach ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und genau das ist es dann auch gewesen. Ein spannender Roman, der uns eine Epoche in der Geschichte zweier Länder näher bringt, in der das eine noch gar nicht existierte und das andere in Trümmern lag. Israel und Deutschland. „Reise durch die Zwischenwelt“ weiterlesen