Ein Vorhang der Wirklichkeit

Philip K. Dick: The Man in the High Castle - Das Orakel vom Berge

Jetzt bin ich tatsächlich über Amazon auf ein Buch aufmerksam geworden. Ausgerechnet. Wer schon öfters einmal hier war, der weiß, dass die Firma Amazon mit ihren rabiaten Geschäftspraktiken auf Kaffeehaussitzer Hausverbot hat. Gleichwohl fand ich die Nachricht interessant, dass der Gemischtwarenkonzern aus Seattle jetzt als Film- bzw. Serienproduzent agiert, um sich im Streaminggeschäft Marktanteile zu sichern. Eines der ersten großen und offensiv beworbenen Serienprojekte ist »The Man in the High Castle«, die filmische Adaption des 1962 erschienenen, gleichnamigen Romans von Philip K. Dick. Eines Klassikers der phantastischen Literatur, der seit vielen Jahren in deutscher Übersetzung als »Das Orakel vom Berge« vorliegt. Und von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte.

Um was geht es? Es ist die Beschreibung, wie unsere Welt aussehen würde, wenn Nazi-Deutschland und Japan gemeinsam mit Italien den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Eine düstere Was-wäre-wenn-Dystopie, die einen komplett anderen Verlauf der Weltgeschichte schildert. Im Jahr 1962, in dem der Roman spielt, existieren die USA nicht mehr. Der östliche Teil gehört zum Deutschen Reich, der westliche Teil rund um Kalifornien zum Japanischen Kaiserreich, den beiden Weltmächten. Dazwischen liegt eine rückständige Pufferzone der restlichen US-amerikanischen Staaten, rechtlos, in halbkolonialem Verhältnis zu den Siegermächten. Und der Rest der Welt? Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, Hitlers Reich beherrscht fast ganz Europa, den Nahen Osten und halb Afrika, zu Italien gehört Nordafrika und die gesamte östliche Ägäis, Japan nennt große Teile des asiatischen und pazifischen Raumes sein Eigen. Und es gärt zwischen den einstmals verbündeten Supermächten.

Der Leser erfährt diese Details nach und nach im Verlauf der Romanhandlung, die vor allem in Kalifornien und in der halb rechtlosen Pufferzone des einstigen Mittleren Westens der USA spielt. Dort leben alle diejenigen, die der brutalen Unterdrückung im deutsch besetzten Amerika entkommen konnten. Oder die nicht mehr unter der blasierten Herrschaft der japanischen Kolonialherren leben möchten. Und irgendwo dort wohnt ein geheimnisvoller Schriftsteller, der ein Buch geschrieben hat, das vieles verändern könnte. Oder sogar alles?

Wir lernen die unterschiedlichsten Personen kennen. Robert Childan aus San Francisco etwa, der mit amerikanischen Antiquitäten handelt, Unikate aus dem Bürgerkrieg, aber auch Armbanduhren mit Disneymotiven. Sein Verhältnis zu den Japanern ist ambivalent, er spürt ihre fein dosierte Verachtung, wünscht sich aber, ihren Lebensstil zu kopieren. Oder Frank Frink, ein gerade arbeitslos gewordener Feinmechaniker, der sich zusammen mit einem Kollegen mit der Anfertigung stilisierter »amerikanischer« Schmuckstücke durchschlagen will. Seine Frau Juliana Frink hat ihn verlassen und lebt in Colorado, in dem verbliebenen Rest-Amerika. Eine zufällige Begegnung wird sie auf die Reise ihres Lebens schicken. Da ist Mr. Tagomi, ein hoher Funktionär der japanischen Behörden, nach außen hin undurchsichtig wirkend, im Innern zweifelnd. Wir begegnen Rudolf Wegener, einem Angehörigen der deutschen Abwehr, der im Auftrag seiner Vorgesetzten Kontakt mit japanischen Militärs aufnehmen soll, um zu vermeiden, dass das angespannte Verhältnis der beiden Mächte in einen Krieg mündet. Allerdings gegen den Willen des Sicherheitsdienstes Reinhard Heydrichs, der grauen Eminenz im Deutschen Reich. Kurz nach Wegeners Ankunft rüttelt die Nachricht von Hitlers Tod die Welt auf; in Berlin startet umgehend ein gnadenloser Machtkampf um seine Nachfolge. Und auch in Kalifornien beginnt die Situation zu eskalieren.

Die Lebensläufe der Personen des Romans beginnen sich zu verknüpfen, wobei sie alle eines gemeinsam haben: Jeder ist auf seine Weise in dieser Welt verloren, alle sind sie auf der Suche. Nach dem Glück, nach einem Sinn, für den es sich zu leben lohnt. Nach ihrer Identität. Eine wichtige Rolle spielt dabei das Orakel des I Ging, das im japanischen Reich den Status einer Staatsreligion hat. Gleichzeitig ist immer wieder von diesem geheimnisvollen Schriftsteller die Rede, einem gewissen Hawthorne Abenden, dessen visionärer Roman »Die Plage der Heuschrecke« angeblich den Weg zu weisen vermag. Ein Buch, verboten und verbrannt in der deutsch besetzten Zone, das aber im japanisch kontrollierten Gebiet frei zugänglich ist und enormen Eindruck bei allen Lesern hinterlässt. Denn es zeigt die Vorstellung einer anderen Welt, einer Welt, in der die Alliierten den zweiten Weltkrieg gewonnen haben und die Erde dadurch komplett anders aussieht. 

Dieses Suchen ist das verbindende Element der Handlungsstränge, so etwas wie der rote Faden des Romans. Dessen Spannungskurve immer wieder unterbrochen wird durch spröde, fast schon sperrige philosophische Erklärungen – die aber wiederum das gesamte Stimmungsbild verdichten helfen und nötig sind, um das manchmal irrational wirkende Agieren der Protagonisten zu verstehen.

Schließlich nimmt die Handlung Fahrt auf, Nazischergen und Killer kommen ins Spiel, Schüsse werden fallen und es wird Tote geben. Doch bei alldem mutiert das Buch nicht zu einer actiongeladenen Spionagegeschichte oder zu einem Verschwörungsthriller. Es bleibt das düstere Modell einer alternativen Zeitgeschichte und ist ein faszinierendes Spiel mit der Wirklichkeit. Dabei hat Philip K. Dicks Zukunftsvision bei aller Finsternis einen gewissen Charme des Unvollständigen: Er beschreibt eine Welt mit Überschall-Raketenflugzeugen und Raumschiffexpeditionen zum Mars. Aber auch mit Schallplattenspielern und vom Amt durchgestellten Ferngesprächen, kleine Reminiszenzen an die Gegenwart zum Entstehungszeitpunkt des Romans.

Einige der Protagonisten führt die Handlung weit weg von ihrer Wahrnehmung der Welt, einer schafft es beinahe, den Vorhang ein Stück zur Seite zu ziehen und einen kurzen Blick dahinter zu werfen. Was er dort sieht? Vielleicht die Wahrheit. Vielleicht aber auch nicht. Denn von Platons Höhlengleichnis bis zu zum Film »Matrix« der Wachowski-Geschwister beschäftigt die Menschen seit jeher eine Frage: Was ist die Wirklichkeit? Das, was wir sehen? Oder das, was wir sehen wollen?

Buchinformation
Philip K. Dick, Das Orakel vom Berge
Aus dem Amerikanischen von Norbert Stöbe
Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-596-90562-1

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Die im Photo verwendete Weltkarte stammt aus dem sehr ausführlichen Wikipedia-Artikel zu diesem Buch.

6 Antworten auf „Ein Vorhang der Wirklichkeit“

  1. Ja, was man denn nicht alles Tolles hier findet! Als pensionierter Bibliothekar die reinste Freude, hier herein zu schnuppern und sich inspirieren zu lassen! Als ob ich nicht ohnehin Unmengen von Titeln im Kopf hätte, die ich „unbedingt“ noch lesen sollte! Aber hier wird echte Abhilfe geboten und optimal die Essenz eines Buches vorgestellt! Danke für all diese wunderbaren Hinweise und Empfehlungen! Schönen Abend noch!

  2. @zeilentiger – sehe ich ebenso. Dicks bester? Für mich: „Die drei Stigmata des Palmer Eldritch“. Jedoch – einmal auf Philip K. Dicks Universum eingelassen, braucht es eigentlich kein „Bester/Bestes“.

    1. Ein wenig sperrig fand ich das Buch auch, aber ich mag solche Spielereien mit der Zeitgeschichte. Auch wenn das nur im Vordergrund stattfindet. Einen anderen Roman kenne ich ehrlich gesagt nicht von ihm.

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