Die Suche nach einer verschwundenen Person, ein Roadtrip durch eine Welt im Umbruch und jede Menge zeitgeschichtlicher Hintergrund: Der Klappentext zu »Morgenland« von Stephan Abarbanell versprach ein Buch ganz nach meinem Geschmack. Und genau das ist es dann auch gewesen. Ein spannender Roman, der uns eine Epoche in der Geschichte zweier Länder näher bringt, in der das eine noch gar nicht existierte und das andere in Trümmern lag. Israel und Deutschland.
Es ist das Jahr 1946 und eine Zeit des radikalen Wandels. Palästina steht unter der Kontrolle der Engländer, die aber kaum Herren der Lage sind. Es ist ein Hexenkessel: Jüdische und arabische Untergrundbewegungen kämpfen um die Oberhoheit in der Region, gegeneinander und gegen die englischen Soldaten. Bomben explodieren, Siedlungen werden attackiert, Schüsse fallen. Die Gründung eines jüdischen Staates scheint bevorzustehen, was zu einer zusätzlichen Radikalisierung führt. Gleichzeitig ist nach sechs Jahren Weltkrieg das englische Empire am Ende seiner Kräfte angekommen und beginnt an allen Ecken und Enden zu bröckeln, auch hier, im Nahen Osten. Während in Europa unzählige jüdische Displaced Persons in Auffanglagern festsitzen; Holocaust-Überlebende, Vertriebene aus Osteuropa, die zwar die Jahre der Verfolgung überstanden haben, aber keine Zukunft mehr in ihren Herkunftsorten sehen. Geflohen vor dem antisemitischen Hass ihrer ehemaligen Nachbarn, letzte Zeugen jüdischer Gemeinden, die Reste einer Schtetl-Kultur, die es nicht mehr gibt. Sie alle warten in den Lagern auf die Erlaubnis, nach Palästina einreisen zu dürfen, was allerdings die Situation dort augenblicklich eskalieren lassen würde.
Die Romanhandlung beginnt in Jerusalem. Genauer gesagt, mit der Ankunft Lilya Wasserfalls in Jerusalem. Lilya stammt aus einer jüdischen Familie mit deutschen Wurzeln, die es geschafft hat nach Palästina auszuwandern, bevor in Deutschland das große Morden begann. Nach dem Tod ihres Stiefbruders, der sich im Kampf gegen die Engländer engagierte, hatte sie sich in einen entlegenen Kibbuz ganz im Norden zurückgezogen, bis sie die Bitte eines der Anführer des Widerstands nach Jerusalem reisen ließ, um dort einen Auftrag entgegenzunehmen. »Sie hatte sich in dieser Welt aus Feldarbeit, Liedern, Lagerfeuern und traumlosen Nächten eingerichtet, einem Leben ohne Zukunft und Vergangenheit, einem Kokon aus reiner Gegenwart. Sie wusste, nun würde er zerbrechen.«
So geschieht es. Lilya wird auf eine Suche geschickt. Nach Deutschland. Auf die Suche nach einem verschwundenen Wissenschaftler, einem der brillantesten Forscher des Kaiser-Wilhelm-Instituts, wie das Max-Planck-Institut damals noch hieß. Sein Name ist Raphael Lind, ebenfalls jüdischer Abstammung, der sich stets geweigert hat, Deutschland und seine Forschung zu verlassen. Die Engländer haben ihn für tot erklären lassen, sein Bruder, mit dem sich Lilya in Jerusalem trifft, ist aber der festen Überzeugung, dass er noch lebt. Was könnte für die Briten so wichtig sein, dass sie das Überleben eines wichtigen Forschers leugnen? Was ist wirklich mit ihm passiert? Und wie könnte der jüdische Untergrund diese Informationen gegen die Engländer verwenden?
Lilya macht sich auf den Weg und findet ein Puzzleteil nach dem anderen. Mühsam fügen sich die bruchstückhaften Informationen nach und nach zu einem Bild zusammen. Ein Bild, das viel, viel mehr Facetten hat, als sie ahnen konnte. Es entsteht das Porträt eines hochintelligenten Menschen, eines Wissenschaftlers mit seinem unbedingten Glauben an den Fortschritt, egozentrisch, erfolgreich, verschollen. Sie entdeckt das Drama einer großen unglücklichen Liebe. Sie findet die Geschichte zweier Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten, »Brüder, vom Leben in eine unfreiwillige Gemeinschaft gezwängt.« Und wie sie bald merken muss, ist sie nicht die einzige, die sich für den Verbleib Raphael Lunds interessiert.
Über London reist sie – offiziell als Angehörige einer Hilfsorganisation – nach Deutschland, ins Land der Täter. Nach Kriegsende hatte es etwas gedauert, bis in Palästina aus anfänglichen Gerüchten und Befürchtungen Gewissheiten geworden waren. »Vieles hatte bittere Bestätigung erfahren, Eltern, Geschwister, Vettern und Cousinen, Freunde, Schulkameraden, sie waren tatsächlich verschwunden. Das ganze Ausmaß dessen, was in Deutschland und Europa geschehen war, wurde nach und nach deutlich, und das Wissen um die Ungeheuerlichkeiten brandete auch an die Eingangstüren der Cafés.« Und Lilya ist jetzt vor Ort, eine junge Jüdin, die durch ein zertrümmertes, verwüstetes Deutschland fährt, ein Land voller Schuld, das aufgehört hat zu existieren.
Lilyas Suche führt ins Camp Föhrenwald – einst eine Zwangsarbeitersiedlung, jetzt eines der größten Lager für Displaced Persons, für Menschen, die nirgendwo mehr hin gehören. Oder ins Offenbach Archival Depot, wo Millionen geraubter Bücher aus jüdischen Bibliotheken gesammelt werden, um sie nach Möglichkeit ihren rechtmäßigen Besitzern zurückzugeben. In den meisten Fällen ein hoffnungsloses Unterfangen. Sie kommt nach Berlin, redet mit Opfern und Tätern, wird verfolgt, beginnt Zusammenhänge zu erahnen. Weitere Stationen sind ein Kibbuz mitten im Nachkriegsdeutschland und als apokalyptischer Höhepunkt das ehemalige Konzentrationslager Bergen-Belsen. Und ständig ist sie von der allgegenwärtigen Zerstörung umgeben, der Not, dem Elend. Aber auch von der Hoffnung der Überlebenden, dem vorsichtigen Aufatmen nach all dem Schrecken und der langen Dunkelheit. Und zum Schluss findet sie etwas ganz anderes heraus, als sie eigentlich gesucht hat.
»Morgenland« ist ein Buch, dessen spannende Handlung und manchmal nachdenklich-melancholische Sprache mich begeistert hat; etliche Handlungsstränge, von denen ich die meisten hier gar nicht erwähnt habe, laufen gekonnt nebeneinander her, bis sie sich einer nach dem anderen zusammenfügen. Besonders gelungen ist die Beschreibung der Nachkriegswirklichkeit, die Dimension der Nazi-Verbrechen, die nach und nach immer klarer zutage tritt. Aber auch die der Situation in Palästina, die außer Kontrolle zu geraten droht, wo Gewalt und Terror an der Tagesordnung sind. Es ist eine Zwischenwelt, deren Türen zur Vergangenheit nicht geschlossen, die zur Zukunft aber noch nicht geöffnet sind; ein Morgenland nicht nur als geographischer Begriff.
Und alles hängt miteinander zusammen. Mit Folgen bis heute.
Buchinformation
Stephan Abarbanell, Morgenland
Blessing Verlag
ISBN 978-3-89667-517-0
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Das hört sich richtig spannend an, und Nachkriegsgeschichte interessiert mich auch sehr. Ich werde die Augen nach dem Buch offen halten! Vielen Dank für die Vorstellung, das wäre mir sicher entgangen!
Bin auch zufällig darüber gestolpert, weil mich – wie so oft – das Cover und der Titel spontan angesprochen haben. Und es hat sich gelohnt.
Uwe, das klingt verdammt gut.
Danke. Ich fand es ein bemerkenswertes Buch, da es diese beiden Regionen miteinander in Verbindung gebracht hat – beide im Umbruch durch Ereignisse, die unmittelbar miteinander zu tun haben.