Vor zwei Jahren startete das Leseprojekt Erster Weltkrieg, als sich der Beginn dieses vierjährigen Gemetzels zum hundertsten Mal jährte. Vier Jahre sind eine lange Zeit, doch auch in diesem 51monatigen Morden gab es Fixpunkte, die bis heute symbolisch für die industrialisierte Kriegsführung stehen, bei der Millionen von Soldaten nichts weiter waren als Menschenmaterial oder Kanonenfutter. Der Kampf um Verdun und die Schlacht an der Somme gehören ohne Zweifel dazu. Und beide Ereignisse sind 2016 genau ein Jahrhundert her. Der Graphic-Novel-Künstler Joe Sacco beschreibt in seinem Werk »Der Erste Weltkrieg – Die Schlacht an der Somme« die Geschehnisse an der Somme auf eine ganz besondere Weise.
Zu Verdun wurde im Zuge dieses Leseprojekts bereits das Werk des Historikers Olaf Jessen vorgestellt. Die Schlacht an der Somme hing unmittelbar mit Verdun zusammen; als die Kämpfe immer verbitterter wurden, die Verluste immer größer, sollte an der Somme von Seiten der Engländer eine neue Offensive eröffnet werden. Um den Druck an der Front in Verdun herauszunehmen, aber natürlich auch, um den festgefahrenen Grabenkrieg endgültig aufzubrechen. Es war eine Kriegsführung der Superlative: Ein noch nie zuvor dagewesenes Trommelfeuer ging sieben Tage lang auf die deutschen Stellungen nieder, eine Woche, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Unvorstellbar. Am 1. Juli 1916 erfolgte der Angriff, die britischen Soldaten kämpften sich durch die verwüsteten Stacheldrahtverhauhe, über die aufgewühlte Erde Meter um Meter an die deutschen Stellungen heran. Die durch das immense Trommelfeuer zwar beschädigt, aber nicht zerstört waren. Maschinengewehre mähten die Angreifer reihenweise nieder, am Abend waren 19.000 britische Soldaten tot, es gab unzählige Verwundete und der Angriff war auf ganzer Front gescheitert. Dieser erste Tag an der Somme war einer der katastrophalsten in der Geschichte Großbritanniens und ist dort im Gedenken verankert bis heute.
Aber das war nur der Anfang, die Angriffe wurden fortgesetzt, wochen-, monatelang, bis in den November 1916 hinein. Über eine Million Briten und Deutsche bezahlten diesen Irrsinn mit ihrem Leben. Nicht gezählt die Verletzten, Verstümmelten, Traumatisierten, all die menschlichen Wracks. Und der Frontverlauf war in etwa wie zuvor. Ähnlich wie in Verdun.
Verdun und Somme – zwei Synonyme für die absolute Sinnlosigkeit eines Krieges. Wie kann man heute darüber reden oder schreiben? Wie die richtigen Worte finden? Oder die richtigen Bilder? Die Bildsprache ist der Ansatz Joe Saccos. Er ist einer der renommiertesten Graphic-Novel-Zeichner, der sich durch seine politischen oder historischen Themen einen Namen gemacht hat und sich selbst als zeichnenden Journalisten sieht – einem Anspruch, dem er durch seine akribischen Recherchen und die Genauigkeit seiner Bilder gerecht wird. Der Schlacht an der Somme nähert er sich in einer ganz eigenen Form der Darstellung an, indem er den Verlauf des verhängnisvollen ersten Tages aus Sicht der Briten zeichnet.
Doch dieses Werk ist keine Graphic Novel im bekannten Sinne, es ist ein einziges Blatt, ein ausfaltbares Leporello mit fester Vorder- und Rückseite. Ohne Umschlag und Vorsatzblätter ist allein das Bild 6,66 Meter lang, ganz aufgefaltet benötigt es auf dem Boden mehr als einen Raum in der Wohnung. Wir können es von links nach rechts betrachten und dabei diesen blutigen Tag Revue passieren lassen. Das einzigartige Kunstwerk enthält so viele Details, dass sie gar nicht alle auf einmal erfassbar sind, es wirkt wie ein Wimmelbild aus der Hölle: Tausende exakt gezeichneter Figuren zeigen den Aufmarsch endloser Truppenkontingente, das Feuern der Geschütze, das nächtliche Warten in überfüllten Schützengräben, den Beginn des Angriffs, das Gegenfeuer und die Vernichtung allen Lebens zwischen den Fronten in einem Inferno aus Feuer, Rauch und Explosionen; ein Niemandsland, übersät mit Toten, Verwundeten, Zerfetzten. Schließlich den Rückzug unter weiterem Beschuss in die Gräben. Am Ende der sechs Meter und sechsundsechzig Zentimeter sehen wir die überfüllten Feldlazarette und das Ausheben der Massengräber.
Joe Sacco zeichnet diesen Tag als Chronist, detailgetreu, detailverliebt, aber ohne den Krieg zu ästhetisieren. Vielmehr leidet der Betrachter beim Anblick der Menschenmengen zu Beginn mit, wir kennen den Ablauf des Tages und wissen, was diesen Männern bevorsteht. Sacco zeichnet die Soldaten als Masse, meistens sind die Gesichter durch Helme oder Mützen verdeckt. Immer wieder aber kann man einzelne Personen erkennen, was umso deutlicher macht, dass es eben nicht nur eine anonyme Menge ist, die hier zur Schlachtbank geführt wird. Sondern Menschen.
Dazu gibt es ein zweisprachiges Begleitheft, das den Verlauf der Schlacht an der Somme schildert. Mit Hilfe einer Abbildung des Leporellos werden Details der riesigen Zeichnung erläutert. Und in der Einleitung schreibt Joe Sacco über die Entstehung des Werkes, über seine Recherchen, um den Ablauf dieses schrecklichen Tages exakt darzustellen. Das alles gibt es zusammen mit dem Leporello in einem hochwertigen Schuber.
Ein unglaublich beeindruckendes Werk, kein Buch, sondern ein Kunstobjekt. Eines, das den mörderischen Wahnsinn des Krieges drastischer zeigt, als so manche Dokumentation.
Eine sehr lesenswerte Besprechung dieses Werkes gibt es im Blog lustauflesen.de
Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Erster Weltkrieg.
Buchinformation
Joe Sacco, Der Erste Weltkrieg – Die Schlacht an der Somme
Edition Moderne
ISBN 978-3-03731-122-6
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