Der im Steidl Verlag erschienene, monumentale Band »The Soviet Photobook 1920 – 1941« ist ein Photobuch. Über Photobücher. Über sehr besondere und sehr seltene Photobücher. Mikhail Karasik hat in jahrelanger mühsamer Kleinarbeit in russischen Archiven nach Photobänden aus der Zeit zwischen 1920 und 1941 gesucht, einer Epoche, in der die Photographie in die Propagandamaschinerie der Sowjetunion fest eingebunden war, in der aber auch Meisterwerke der Photokunst und der Gestaltung entstanden sind. Diese Bücher sind heute zu großen Teilen kaum noch bekannt und nur sehr schwer zu erhalten; es ist das Verdienst der Herausgeber mit dem vorliegenden Prachtband einen spannenden Einblick in diese Epoche der Photographie zu geben.
Durch die Bilderserie am Schluss dieses Beitrags kommt noch eine weitere Dimension hinzu: Ein Photoalbum zu einem Photobuch über Photobücher.
Mit der Machtübernahme der Bolschewiki am 25. Oktober 1917 – nach dem Julianischen Kalender – begann in Russland eine der gewaltigsten gesellschaftlichen Umwälzungen aller Zeiten. Gewaltig in beiden Bedeutungen des Wortes: Allein das schiere Ausmaß der Verwandlung des rückständigen Zarenreiches in die Sowjetunion war schwindelerregend. Genau so, wie die eingesetzte Gewalt gegenüber der eigenen Bevölkerung unfassbar bleibt – von mehreren Millionen Verhungerten durch die Zwangskollektivierung über die unzähligen im Gulag Ermordeten bis hin zu den Opfern von Stalins Verfolgungswahn und mörderischen Psychosen.
Gleichzeitig war die frühe Sowjetunion für viele die Vision einer gerechteren Gesellschaft, die Möglichkeit, tatsächlich den neuen Menschen zu erschaffen. Allein durch politischen Willen ein riesiges Land von einem feudalistischen Agrarstaat zum einem modernen Industriestaat umzuformen, in dem es irgendwann keinen Mangel und keine Armut mehr geben würde. In ein Paradies der Werktätigen. Doch selten klafften Anspruch und Wirklichkeit so weit auseinander wie in der UdSSR.
Viele Intellektuelle und Künstler waren von diesem ideologischen Experiment fasziniert und übersahen geflissentlich das Leiden der einfachen Menschen, die desaströsen Folgen der Planwirtschaft und die Willkür der Staatsorgane. Denn gleichzeitig war diese Zeit eine Epoche völlig neuer Möglichkeiten in der Kunst, eine Zeit der Experimente und der Avantgarde. Photographen, Gestalter und Typographen stellten ihr Talent in den Dienst des neuen Staates, teils aus Überzeugung, teils unter Druck. Denn es gibt kein totalitäres System ohne Propagandamaschinerie, doch in der Sowjetunion entstanden daraus gerade im Bereich des Films und der Photographie künstlerische Wegmarken, die weltweit ihresgleichen suchten.
Eine neue Kunstform waren die Photobücher, die ein pathetisches Bild des kommunistischen Staates, aber besonders des Alltags liefern sollten. Zwar hatten die gezeigten Motive meist wenig mit dem täglichen Leben in einer Diktatur zu tun, nichtsdestotrotz entstanden beeindruckende Photographien, die künstlerische Maßstäbe setzten. Und dazu dienten, die Sowjetunion im In- und Ausland in das richtige Licht zu rücken. Zahllose Photographen waren daran beteiligt, in den Jahren 1920 bis 1941 entstanden wahre Schmuckstücke, die jeden Aspekt des Lebens ausleuchteten – von der Heroisierung der bolschewistischen Führer über die Industrialisierung, die Schulen, die Landwirtschaft, das Kino, die Armee bis hin zu Bänden über die exotisch wirkenden, zentralasiatischen Sowjetrepubliken oder den Kampf russischer Einheiten im spanischen Bürgerkrieg.
Im Vorwort von »The Soviet Photobook« steht dazu folgendes: »The Soviet Union was unique in its formidable and dynamic use of the illustrated book as propaganda. Through the book, the U.S.S.R. articulated its totalitarian ideologies and expressed its absolute power. This was achieved in a manner, that was unprecedented – through avant-garde writing and radical artistic design that was in full flower during the 1920s and 1930s. No country, nation, government or political system promoted itself by attracting and employing so many acclaimed members of the avant-garde.«
Ein Stück Kunstgeschichte, ein sowjetisches Bilderbuch und eine faszinierende Zeitreise in ein Land, das so niemals existierte.
Herausgeber und Verlag haben sich bei der Erstellung dieses beeindruckenden Werkes selbst übertroffen. Eine überzeugende graphische Gestaltung in Verbindung mit aufwändigen Reproduktionen der sowjetischen Photobücher machen das Buch zu einem echten Schmuckstück. Der durchgehend englische Text behandelt sämtliche Facetten der Propaganda-Photographie, beschreibt deren Hintergründe und den künstlerischen Anspruch. Erst chronologisch, später thematisch werden die zusammengetragenen Photobücher einzeln vorgestellt, jedes mit den herausragendsten Seiten abgebildet. Wir erfahren alles über Erscheinungsjahr, verwendete Techniken, propagandistische Ziele und viele weitere Details. Im Anhang des Buches findet sich ein ausführliches Register mit Kurzbiographien der beteiligten Photographen, auch dieses reichhaltig bebildert.
Als besonderes Gestaltungselement wird das Buch einzeln verpackt in einem eigens dafür hergestellten und bedruckten Karton geliefert – schon das Auspacken gerät damit zu einem fast schon feierlichen Erlebnis, einem Zelebrieren der Buchkunst. Und ist eine perfekte Verschmelzung von Buch- und Photokultur zu einem einzigen Kunstobjekt. Formvollendet.
Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Tragödie eines Volkes.
Buchinformation
Mikhail Karasik/Manfred Heiting (Hrsg.), The Soviet Photobook 1920 – 1941
Steidl Verlag
ISBN 978-3-95829-031-0
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Da bleibt einem ja die Spucke weg, um es mal salopp zu sagen.
Salopp und treffend. Das Buch ist wirklich ein Meisterwerk.