Mit Goethe im R4

Dieser Beitrag war schon länger geplant. Angesichts der dramatischen Folgen der Corona-Pandemie war ich mir nicht sicher, ob dies der richtige Zeitpunkt für eine solche Buchvorstellung ist. Denn es mag makaber wirken, gerade jetzt von diesem grandiosen Buch zu schwärmen. Doch andererseits zeigt es uns durch seine Entstehungsgeschichte die Dimension der aktuellen Geschehnisse. Und es hat zudem – so finde ich – auch etwas Tröstliches. Doch dazu später. Erst einmal sollte ich erzählen, um welches Buch es eigentlich geht.

Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich mit seinem Projekt »Italienische Reise« einen langgehegten Traum erfüllt. Denn es handelt sich dabei nicht um irgendeine italienische Reise, sondern um diejenige von Johann Wolfgang von Goethe, der zwischen September 1786 und Mai 1788 lange in seinem Arkadien unterwegs war. Seine »Italienische Reise« ist die Grundlage dieses Buches; Helmut Schlaiß reiste jahrelang auf den Spuren des berühmten Dichters, in seinem alten R4-Kastenwagen – notdürftig zu einem mobilen Schlafplatz umgebaut – folgte er der von Goethe beschriebenen Route. Der Orignaltext ist im zweiten Teil des großformatigen Werkes komplett abgedruckt.

Was für ein Projekt! Alleine beim Autonamen »R4« bekam ich leuchtende Augen; während meiner Tramper-Zeit saß ich als Mitfahrer viele Male in dieser charmant-funktionalen Blechkiste mit der unverwechselbaren Form. Für mich ist es eines der schönsten Autos, die jemals gebaut wurden; eine Designikone des 20. Jahrhunderts, heute leider fast völlig von unseren Straßen verschwunden.

Doch es geht nicht um das Auto; es war nur das Mittel zum Zweck. Das eigentliche Ziel dieser Reise war für Helmut Schlaiß, Italien so zu sehen und zu photographieren, wie es Goethe vor über 200 Jahren vor Augen gehabt haben könnte. Dazu musste er zum einen tatsächlich exakt Goethes »Italienischer Reise« folgen. Zum anderen aber musste er versuchen, jene Eindrücke so festzuhalten, als seien nicht 200 Jahre vergangen. Denn die grandiosen Bauwerke sind die gleichen, die Aussichtspunkte mit dem Blick auf eine wundervolle Landschaft existieren noch; es ging vor allem darum, Perspektiven und Uhrzeiten zu finden, bei denen möglichst wenig Requisiten der Moderne zu sehen sind. Ohne Autos. Ohne Reklameschilder. Und ohne Touristen. Leere Plätze, zeitlos majestätisch.

Ähnliche Bilder tauchen momentan in den Nachrichtenportalen auf und doch wirken sie auf uns Betrachter anders, bedrohlich: Ein Italien mit leergefegten Straßen und Städten, Familien in Quarantäne, während die Krankenhäuser kurz vor dem Kollaps stehen. Das Corona-Virus hat in wenigen Wochen geschafft, dass ein Land stillsteht. Dies meinte ich zu Beginn mit der Dimension, die beim Betrachten der Photographien vor diesem Hintergrund klar wird.

Denn Helmut Schlaiß hat für die in diesem Buch versammelten Bilder drei Jahre gebraucht, in denen er immer wieder Italien bereiste. Hat das Kolosseum um vier Uhr morgens photographiert, um die Atmosphäre ohne Menschen einzufangen, musste manche Motive mehrmals anfahren, bis die Aufnahme gelungen war. Er kletterte auf Berge, um eine bestimmte Aussicht zu finden, harrte stunden-, manchmal sogar tagelang vor einem Bauwerk aus, bis der eine Moment gekommen war, in dem die Lichtverhältnisse stimmten und für einen Augenblick kein Tourist auftauchte. Fuhr mit seinem R4 über staubige Pisten und quälte sich durch den Großstadtverkehr, immer auf der Suche nach der von Goethe vorgegebenen Perspektive und den perfekten Bedingungen für die eine Photographie. Nichts von diesen Strapazen ist auf den Bildern zu sehen, sie wirken in ihrer Zeitlosigkeit schon beinahe meditativ.

Entstanden sind sie als Schwarz-Weiß-Photographien, »bunte Bilder verweigern sich der Geschichte und lenken das Auge des Betrachters vom Gesamteindruck des Motivs ab.« Verwendet wurde ausschließlich ein Normalobjektiv, »um den begrenzten Blick des Menschen als das Maß meiner Fotografie zu nehmen«, so Helmut Schlaiß im Begleittext. »Goethes Augen, seine Sicht der Dinge, sollten nicht mit einem Weitwinkel oder anderem fototechnischen Schnickschnack verfremdet werden.«

Der Photograph war viele Jahre in der Werbung tätig, für ihn bedeutete dieses Projekt eine Rückbesinnung auf die schöpferischen Wurzeln seiner Arbeit. Er schreibt im Vorwort: »Der Dichter hat in Italien, seinem Arkadien, wieder zu sich gefunden. Er konnte zurückkehren nach Weimar, gewappnet für die Anfechtungen seiner politischen Ämter und voll poetischer Inspiration für neue literarische Werke. Ich, als Fotograf, der mit Begeisterung dem Weg des Dichterfürsten folgte, fand in dem heutigen Italien ebenfalls mein Traumland.« Herausgekommen sind dabei absolut großartige Photographien.

Ein menschenleeres Italien hatte bisher für mich stets etwas Besinnliches, fast schon Mystisches. Vor vielen Jahren kam ich frühmorgens gegen drei Uhr mit dem Zug in Rom an; zusammen mit einem meiner besten Freunde war ich auf der Rückfahrt von Palermo nach Mailand und wir stiegen aus einer Laune heraus mitten in der Nacht in Roma Termini aus. Nach und nach wurde es hell, wir streiften durch die barocke Altstadt, waren die einzigen Menschen am Trevi-Brunnen – mit Ausnahme eines Priesters, der die Treppe der Kirche neben dem Brunnen kehrte, liefen weiter und weiter, stiegen die Treppen zum Kapitol hinauf und sahen die Sonne hinter dem Kolosseum aufgehen. Und die Stadt begann zu erwachen. Das war 1994 und diesen Morgen werde ich nie vergessen. Niemals hätte ich mir damals vorstellen können – auch noch nicht zu Beginn dieses Jahres – dass die leeren Straßen Roms auch bedrohlich, geradezu dystopisch wirken können. Doch das Corona-Virus hat unsere Gedanken und unsere Vorstellungen komplett über den Haufen geworfen.

Ich widme diesen Beitrag allen Menschen, die im Moment alleine sind mit ihrer Angst vor der Zukunft, die erkrankt sind oder sich um ihre Angehörigen sorgen – in Italien, bei uns und überall auf der Welt. Und den vielen Helferinnen und Helfern, die sich mit all ihrer Kraft dem Drama entgegenstemmen. Es ist eine Zeit, die sich momentan vollkommen surreal anfühlt, und die täglich mehr unsere Wirklichkeit verändert.

Doch beim Betrachten der Bilder von Helmut Schlaiß »Italienischer Reise« denke ich nicht an eine menschenleere Dystopie. Sondern an das Schöne, an das Italien, das seit Goethe viele Menschen liebten und immer lieben werden. An die zeitlose Eleganz der Bauten und Plätze und Häuserzeilen und Gassen. An das Versprechen von pulsierendem Leben, das diese Bilder ausstrahlen. Und hoffe und bete, dass dieses Leben bald wieder zurückkehren möge.

Nicht nur in Italien.

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Buchinformation
Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise
Ein fotografisches Abenteuer von Helmut Schlaiß
Manesse Verlag
ISBN 978-3-7175-2490-8

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5 Antworten auf „Mit Goethe im R4“

  1. Genau, was wenige vom deutschen Goethe wissen: Er war Italienfan und Rom-Wiedergeburts-Süchtiger…

    Durch Bilder im Vaterhaus wurde Goethe von Jugend an inspiriert zu seiner geheimen Italienreise und zum Leben in seiner heimlichen geistigen Hauptstadt: Rom

    „Ja, ich bin endlich in dieser Hauptstadt der Welt angelangt! […] Nun bin ich hier und ruhig und, wie es scheint, auf mein ganzes Leben beruhigt. Denn es geht, man darf wohl sagen, ein neues Leben an, wenn man das Ganze mit Augen sieht, das man teilweise in- und auswendig kennt. Alle Träume meiner Jugend seh’ ich nun lebendig; die ersten Kupferbilder, deren ich mich erinnere, seh’ ich nun in Wahrheit, und alles, was ich in Gemälden und Zeichnungen, Kupfern und Holzschnitten, in Gips und Kork schon lange gekannt, steht nun beisammen vor mir; wohin ich gehe, finde ich eine Bekanntschaft in einer neuen Welt, es ist alles wie ich mir’s dachte und alles neu…“

  2. Da tauchen beim Lesen sofort jede Menge Bilder auf im Kopf. Und Gedanken in die Vergangenheit. Und in die Zukunft – Italien, warte auf uns! Es gibt noch soviel zu entdecken! –

    Danke dem Kaffeehaussitzer für die Gedankenreise!

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