Lasst alle Hoffnung fahren?

Stephen Emmott: Zehn Milliarden

Das Buch »Zehn Milliarden« von Stephen Emmott hat es in sich. Und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist es buchgestalterisch ein echter Hingucker, mit einem aufwändig produzierten und sehr haptischen Umschlag, der Innenteil schon fast ein typographisches Gesamtkunstwerk. Und zum anderen geht es um nichts Geringeres als den Untergang unserer Welt.

Ich erinnere mich vage, irgendwo einmal von einem Zeitpunkt in der Erdgeschichte gelesen zu haben, bis zu dem Natur und Mensch sich in einem perfekten ökologischen Gleichgewicht befanden. Dieser Zeitpunkt war um das Jahr 1780 erreicht, also kurz vor Beginn der Industrialisierung der westlichen Welt. Seitdem geht es mit der Zahl der Menschen auf diesem Planeten stetig bergauf und mit dem ökologischen Gleichgewicht immer rasanter bergab. Während meiner Schulzeit in den Achzigerjahren haben wir von viereinhalb Milliarden Menschen auf diesem Planeten gesprochen, jetzt sind es sieben Milliarden und in absehbarer Zeit werden zehn Milliarden Menschen hier leben. Als Zahl: 10 000 000 000. Was bedeutet das? Für die Menschheit? Für den Planeten? Für jeden von uns? Genau darum geht es in diesem Buch.

In kurzen, einfachen und prägnanten Sätzen erläutert der Autor die Zusammenhänge zwischen Bevölkerungswachstum, Umweltschäden und der Vernichtung ganzer Ökosysteme. Auf jeder Seite gibt es immer nur kurze Textstücke, diese sind präzise formuliert und typographisch gekonnt strukturiert. Manchmal steht der Dramatik zuliebe nur ein Satz auf einer Seite, machmal eine Graphik, immer wieder ein perfekt ausgewähltes Bild. Seite um Seite wächst das Unbehagen, denn die nüchterne Zusammenstellung dieser Fakten in klaren Ausführungen geht unter die Haut. Man liest das Buch zuerst wie ein unbeteiligter Zuschauer, so wie man ein Sachbuch aus der Freude am Erkenntnisgewinn lesen mag. Es übt eine Faszination aus, durch die wenigen Sätze auf jeder Seite möchte man ständig wissen, was als nächstes kommt und wie schlimm es wohl werden wird. Und man blättert und liest. Blättert und liest. Immer schneller, es ist wie ein Sog. Aber bald wird klar: Wir sind keine unbeteiligten Zuschauer und es geht nicht um Erkenntnisgewinn. Es geht um eine nicht aufzuhaltende Entwicklung, deren Teil jeder von uns ist.

Ein beeindruckendes Beispiel ist die Schilderung der Autoproduktion:
»Was kostet ein Auto?
Volkswagen, Ford, Toyota & Co. erzählen uns immer wieder, dass man schon für etwa 12.000 Euro ein neues Auto bekommt.
Das stimmt nicht. Sehen wir uns an, was ein Auto wirklich kostet.«

Es folgen drei Doppelseiten mit Bildern – ein riesiger Parkplatz voller Autos, ein gigantischer Berg Autowracks und ein unendliches Feld mit einer qualmenden Reifendeponie. Anschließend erläutert der Autor nüchtern und sachlich die Herkunft und Produktion des Stahls für die Karosserie, des Kautschuks für die Reifen, des Kunststoffs für das Armaturenbrett, des Leders für die Sitze oder des Bleis für die Batterie mit allen umweltbelastenden Konsequenzen wie Abbau, Transport und Herstellung.

»Das alles passiert, bevor auch nur ein einziges Auto zusammengeschraubt, geschweige denn zum Autohaus gebracht worden ist, damit Sie es kaufen können.
Und bevor Sie auch nur einen einzigen Liter Benzin getankt haben und Ihren Teil zur Klimaproblematik beitragen.

Was kostet also ein Auto? Ein wahres Vermögen.

Die tatsächlichen Kosten der Umweltzerstörung, der Verschmutzung durch Bergbau, Industrie und Güterverkehr, des sich daraus ergebenen Verlusts von Ökosystemen und des Klimawandels müssen Sie allerdings nicht bezahlen. Diese ›externen Kosten‹, wie die Ökonomen das gern nennen, werden Ihnen nicht in Rechnung gestellt.

Zumindest noch nicht. Aber irgendjemand wird in Zukunft für diese Kosten – die Folgekosten der Herstellung, die ECHTEN Kosten eines Autos aufkommen müssen.

Vielleicht Sie. Vermutlich Ihre Kinder.«

Etwas effekthaschend? Mag sein. Aber es wirkt. Denn das ist nur ein kleiner Ausschnitt des Buches, ein Beispiel. Natürlich geht es nicht nur um Autos, sie sind eines von vielen großen Problemen, die unser Planet hat. Stephen Emmott benennt sie alle, eines nach dem anderen. Seite um Seite. Es ist ein schmales Buch. Zum Glück. Aber es reicht, um danach erst einmal sprachlos dazusitzen, durchzuatmen und wiederaufzutauchen aus dem Katastrophenszenario. Das leider keines ist. Sondern ein realistischer Blick in die Zukunft. Das Ende der Welt ist zwar nicht nahe, aber wir sind auf dem besten Weg dorthin. Unaufhaltsam, so wie es aussieht.

Stephen Emmott und den Herstellern des Suhrkamp Verlags ist ein sehr beeindruckendes Buch gelungen. Kein Sachbuch, keine Streitschrift. Irgendetwas dazwischen. Lesen lässt es sich schnell. Aber im Gedächtnis nachwirken wird es sehr lange.

Buchinformation
Stephen Emmott, Zehn Milliarden
Aus dem Englischen von Anke Caroline Burger

Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3-518-42385-1

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3 Antworten auf „Lasst alle Hoffnung fahren?“

  1. Hallo Uwe,

    beim Stöbern in Deinem Blog bin ich auf diesen Eintrag gestoßen und habe mir das Buch als Taschenbuchausgabe direkt bestellt, lese gerade fleißig. Danke für den Tipp, ich finde es ebenfalls sehr, sehr lesenswert! *daumenhoch*

    Zwei Anmerkungen zu dem Buch: Einerseits empfinde ich es als Leserin ebenfalls als spannend aufgemacht, wenn der Autor nur wenige Sätze auf einer Seite schreibt. Andererseits empfinde ich genau das gerade bei diesem Thema als Verschwendung – das Buch hätte auf deutlich weniger Papier gedruckt werden können, wenn der Autor im normalen „Fließtext“ geschrieben hätte. Ich glaube auch nicht, dass dem Buch etwas von seiner Dramatik genommen worden wäre.

    Dann ist die dramatische Entwicklung der Bevölkerungszahlen natürlich eines der größten Ursachen der dargestellten Probleme. Ob die Menschheit mit der Natur jedoch immer so im Gleichgewicht war, wird inzwischen stark angezweifelt. Neuere Forschungen haben zutage gebracht, dass immer dort, wo der Mensch infolge von Einwanderungswellen neue Gebiete besiedelte, recht schnell (= erdgeschichtlich recht schnell = innerhalb weniger tausend Jahre) ein nicht gerade geringes Massensterben einsetzte, das v.a. die Megafauna (also je nach Definition Säugetiere ab 2 – 1000 kg) mit durchschnittlich 50% Artenverlust betraf. Der Mensch scheint also schon wesentlich früher massiv seine Umwelt beeinflusst zu haben. Gut nachlesen kann man dies in folgenden Büchern:

    – „Eine kurze Geschichte der Menschheit“ von Yuval Noah Harari (http://www.randomhouse.de/Paperback/Eine-kurze-Geschichte-der-Menschheit/Yuval-Noah-Harari/e441313.rhd) – ich fands manchmal polemisch, trotzdem ist es gut geschrieben und recherchiert

    – „Das sechste Sterben“ von Elizabeth Kolbert (http://www.suhrkamp.de/buecher/das_sechste_sterben-elizabeth_kolbert_42481.html), das ähnlich wie Emmot die Auswirkungen des massiven Eingreifens des Menschen in seine Umwelt und die daraus resultierenden Folgen zum Thema hat

    Und wenn ich hier schon einen Kommentar schreibe, nutze ich die Gelegenheit gern, um Dir zu Deinem wirklich tollen Blog zu gratulieren – ich stöbere hier gern, Deine Rezensionen sind ansprechend und die Gestaltung wunderbar.

    Einen schönen Tag noch!
    Andrea

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