Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Die Leipziger Buchmesse ist seit vielen Jahren ein fester Termin in meinem Kalender. Einer, auf den ich mich jedes Mal besonders freue – denn es ist immer wieder etwas Besonderes, all die literaturbegeisterten und buchaffinen Menschen zu treffen. Nicht nur auf dem Messegelände, sondern in der ganzen Stadt kommen sie zusammen; in unzähligen Veranstaltungsorten, in Cafés, Kneipen, Restaurants, Clubs. Und im Wohnzimmer meines guten Freundes Hannes, der bei jedem Leipzig-Besuch mein Gastgeber ist. Seit 2018 veranstalten wir bei ihm unsere Wohnzimmerlesungen, für die er den größten Raum seiner Wohnung leerräumt, ihn mit Bierbänken ausstattet und den Kühlschrank mit Getränken befüllt. Eine Autorin oder ein Autor tritt auf, das Wohnzimmer ist voller Menschen, von denen wir nur die Hälfte kennen und es sind wunderbare Abende mit guten Gesprächen und spannenden Begegnungen. Dieses Jahr hatten wir Kai Meyer zu Gast und ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über seine Romane »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und »Die Bibliothek im Nebel« zu reden. Und über das Leipziger Graphische Viertel, das heute nur noch als Mythos existiert. Vierunddreißig Gäste füllten jeden Quadratzentimeter des Wohnzimmers – es war eine ganz besondere Stimmung. 

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Der 1969 geborene Kai Meyer ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Phantastik-Autoren, der mittlerweile siebzig Bücher veröffentlicht hat. Zu Beginn seiner schriftstellerischen Karriere entstanden aber auch Romane zu historischen Stoffen – und mit »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und »Die Bibliothek im Nebel« kehrte er in diesen Bereich seines Schaffens zurück. Beide Bücher spielen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, sind lose miteinander verbunden und haben einen ganz besonderen Handlungsort: Das legendäre Graphische Viertel in Leipzig, das im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs unterging. Steht es beim ersten Band komplett im Mittelpunkt, so taucht es im zweiten Buch nur am Rande auf, ist aber trotzdem sehr präsent. Eine kleine, fein dosierte und schaurig-schöne Prise Phantastik verleiht dabei den historischen Settings eine ganz besondere Note. Im dritten Band – an dem der Autor gerade schreibt – wird es wieder der zentrale Ort der Handlung sein, auch hier ist eine lose Verbindung zu den anderen beiden Teilen geplant. 

Mit dem Untergang des Graphischen Viertels beginnt »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und mit dieser wuchtigen Lesestelle startete unser Wohnzimmerabend. Anschließend sprachen wir über jenes Quartier, das sich östlich der Leipziger Innenstadt befand und das Herz der Buchbranche in Deutschland war. Es gab dort etwa 2.200 Betriebe, die mit der Herstellung und dem Verkauf von Büchern, Zeitschriften, Noten und anderen Druckerzeugnissen zu tun hatten – Verlage, Buchhandlungen, Druckereien, Buchbindereien, Satzbetriebe, Schriftgießereien, Lithographische Anstalten, Antiquariate, Papierfabriken, Gravieranstalten, Hersteller von Druckmaschinen oder Logistikbetriebe. Manche Straßen beherbergten fast in jedem Haus eine Firma der Medienindustrie, ungefähr zehn Prozent der Leipziger Bevölkerung arbeitete in diesem Stadtteil; nie zuvor in der Geschichte und niemals wieder danach hat es solch ein Ballungszentrum des graphischen Gewerbes gegeben. In der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 verschwand das Graphische Viertel durch einen Bombenangriff der Royal Air Force in einem Inferno aus Feuer und Explosionen, die großen Bücherlager verbrannten, verkohlte Papierfetzen wurden bis nach Halle geweht, in den Druckereien schmolzen durch die Hitze die Drucktypen aus Blei. Schätzungsweise 50 Millionen Bücher wurden ein Raub der Flammen.

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Die Beschäftigung mit der Geschichte dieses Viertels ist seit meiner Zeit in Leipzig ein Herzensthema von mir und daher war es für mich besonders spannend, mit Kai Meyer darüber zu sprechen. Er erzählte von seiner Idee, einen Roman genau dort anzusiedeln, von seiner Recherche und von seiner Idee, das Graphische Viertel als einen düsteren, rauchverhangenen und nebligen Ort darzustellen – nicht zu Unrecht, denn die vielen Schornsteine der Tag und Nacht arbeitenden Druckereien dürften für entsprechenden Smog gesorgt haben. Wir sprachen über die verschiedenen zeitlichen Handlungsebenen, über den Buchhändler und Buchbinder Jakob Steinfeld, seinen Sohn Robert Steinfeld, der seinen Vater nie kennenlernte und sich 1971 anschickt, dessen Schicksal (und sein eigenes) aufzuklären, den Verleger Pallandt, über einen geheimnisvollen Fremden, der mitten in den Kriegswirren seltenen Büchern hinterherjagt und über viele andere Personen, die den Roman bevölkern; über echte und erfundene Orte wie etwa die Buchhandlung »Montechristo«, die mit ihren Schaufenstern voll warmen Lichts wie eine leuchtende Oase in den düsteren Straßen des Viertels liegt – eine wunderschöne Reminiszenz an »Sempere & Söhne« aus Carlos Ruiz Zafóns Barcelona-Romanen.

Und wir redeten über den Buchhandelsgehilfen Grigori Gomorow, der eigentlich als Nebenfigur der Handlung angelegt war, aber hinter dessen fabulierenden Erzählungen sich mehr verbirgt, als wir zu Beginn ahnen können. Für Kai Meyer ist Grigori beim Schreiben zur Lieblingsfigur geworden und er ist das Bindeglied zum zweiten Roman. Denn in »Die Bibliothek im Nebel« treffen wir ihn wieder und lernen seine Lebensgeschichte kennen. Oder zumindest einen weiteren Teil davon, gut versteckt zwischen den vielen Anekdoten, die er zu erzählen weiß. 

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Auch in »Die Bibliothek im Nebel« gibt es verschiedene Zeitebenen. Die Handlung schickt uns auf eine rasante Reise durch eine Epoche, in der das alte Europa auseinanderfällt. Wir erleben das St. Peterburg des Jahres 1917 in den letzten Tagen der Zarenherrschaft, als sich der Umbruch gewaltsam Bahn brach und alles in Chaos und Gewalt versank. Machen Station in einer Verlegervilla in Leipzig im gleichen Jahr. Blicken zurück in das Jahr 1914 und sind zu Gast im Nobelhotel Château Trois Grâces an der  Côte d’Azur, in dem wir uns 1928 und 1957 wieder einfinden werden, denn hier auf dem Dachboden liegt ein Schlüssel zur Vergangenheit. Zu einer mörderischen Vergangenheit, deren Auswirkungen über all die Jahre spürbar sind. Die Zeitebenen verknüpfen sich, es geht um eine verschwundene Person, um dubiose Todesfälle, um Rache, um Liebe und Loyalität, um den Lauf der Geschichte, die keine Rücksicht auf die Schicksale der Menschen nimmt. Um eine jahrzehntelange Suche. Und – natürlich – um Bücher. 

Im Mittelpunkt stehen die Schicksale zweier Verlegerfamilien, der Kalinins in St. Petersburg und der Eisenhuths in Leipzig, die geschäftlich miteinander verbunden sind, in jenem Hotel gemeinsame Ferienzeiten verbringen und die beide in einem sich auflösenden Europa untergehen werden. Zurück bleiben Gepäckstücke auf dem Hoteldachboden, in denen 1928 Liette, die Nichte des Hoteldirektors, beim Spielen ein Buch findet, dessen Geheimnis ihr Leben prägen wird.

Im Wohnzimmer erzählte Kai Meyer, was es mit den eingelagerten Gepäckstücken auf sich hatte. In der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg reisten viele russische Familien nach Südfrankreich, um dort ihre Ferien zu verbringen. Da es sehr aufwändig war, die zahlreichen Schrankkoffer mit all der Kleidung, dem Schmuck und den anderen Utensilien für ein standesgemäßes Auftreten per Zug durch ganz Europa zu schaffen, boten viele Hotels an, die Dinge bis zur nächsten Saison auf den Dachböden aufzubewahren. Dann kam der Krieg. Dann die russische Revolution, mit der diese Gesellschaftsschicht blutig hinweggefegt wurde. Nur ihre Truhen, Koffer und Taschen auf den Dachböden blieben übrig. Und ein Bericht über jene Gepäckstücke war für Kai Meyer die entscheidende Inspiration für seinen Roman »Die Bibliothek im Nebel« – auch das verriet er uns an diesem Abend.

Nach knapp eineinhalb Stunden ging die Wohnzimmerlesung zu Ende. Zum Schluss sprachen wir über Kai Meyers Arbeitsweise, denn ich wollte von ihm wissen, wie er als Autor an Bücher mit solch komplexen Handlungen, zahlreichen Figuren und verschiedenen Zeitebenen herangeht. Als Faustregel gilt für ihn: 50 Prozent Plotten und 50 Prozent Schreiben. Er plant seine Bücher akribisch, überlegt sich auch die feinsten Verästelungen der Handlung im Voraus – und muss dann »nur« noch schreiben. Doch auch bei einer solch genauen Vorbereitung geschieht es, dass ein Protagonist wie Grigori ihm ganz besonders an Herz wächst. Mir als Leser übrigens auch. Und ich hoffe, dass wir ihm erneut begegnen werden. 

Ein kleines Detail noch zum Schluss: Die Wohnung, in der unsere Lesungen stattfinden, befindet sich unter dem Dach einer alten Leipziger Verlegervilla; vermutlich war es einst der Dienstbotentrakt gewesen. Das ist natürlich sowieso ein schöner Rahmen, aber inhaltlich hat es dieses Mal besonders gut gepasst. Wir standen dort noch lange zusammen, tranken, redeten, lachten. Es war ein wunderschöner Abend! 

Vielen Dank, lieber Kai, dass du dabei warst – unser Gespräch hat großen Spaß gemacht. Vielen Dank, lieber Hannes, für deine großzügige Gastfreundschaft – ohne dich wäre Leipzig nicht Leipzig. Und vielen Dank an alle Teilnehmenden – es war uns ein Fest. Die nächste Wohnzimmerlesung findet zur Leipziger Buchmesse 2025 statt. Und das ist dann bereits ein halbrundes Jubiläum. Wir freuen uns schon. 

»Manche Menschen sind für die Bücher gemacht und nur die Ahnungslosen glauben, es sei umgekehrt.« 
Aus: Die Bibliothek im Nebel

Bücherinformationen
Kai Meyer, Die Bücher, der Junge und die Nacht
Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-22784-8

Kai Meyer, Die Bibliothek im Nebel
Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-22808-1

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Geschichte und Geschichten

Stefan Ineichen: Principessa Mafalda | Leipziger Wohnzimmerlesung 2023

Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ein Abend, der für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden ist. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen

Abhandengekommen

Demian Lienhard, Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat

In Köln gibt es die Redewendung: »Beim ersten Mal haben wir es ausprobiert, beim zweiten Mal ist es schon Tradition und beim dritten Mal Brauchtum.« Allerdings geht es jetzt nicht um Köln, sondern um Leipzig. Genauer gesagt um die Wohnzimmerlesung anlässlich der Leipziger Buchmesse. Diese Lesung fand dieses Jahr zum zweiten Mal statt, ist nach obiger Definition also schon eine Tradition. Und genau so hat es sich angefühlt, etliche der letztjährigen Besucher waren wieder dabei, aber auch einige neue Gesichter. Zu Gast war dieses Jahr Demian Lienhard mit seinem Roman »Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat«. Ein Buch, dass den Lesern die dramatische Situation im Zürich der Achtzigerjahre nahebringt. Sehr nahe. „Abhandengekommen“ weiterlesen

Literatur im Wohnzimmer

Mareike Fallwickl: Dunkelgruen, fast schwarz

Die Leipziger Buchmesse hat dieses Jahr für mich bereits im Januar begonnen. Und zwar während der Lektüre des Romans »Dunkelgrün, fast schwarz« von Mareike Fallwickl. Warum das so war und wie es zu einer großartigen Wohnzimmerlesung in der ehemaligen Dienstbotenwohnung einer Leipziger Gründerzeitvilla kam, möchte ich hier erzählen.

Aber eines nach dem anderen: Ich hatte das Buch im Dezember als Vorabexemplar zugesandt bekommen – so wie viele meiner Bloggerkolleginnen und -kollegen. Schließlich ist die Autorin ebenfalls Literaturbloggerin und wir sind schon seit einigen Jahren vernetzt, kennen und schätzen uns, sehen uns auf den Buchmessen oder bei Verlagsveranstaltungen. Und auf ihrem Blog Bücherwurmloch finde ich regelmäßig Buchtipps, die genau meinen Literaturgeschmack treffen. Man kann sich also vorstellen, dass ich sehr gespannt auf ihren Debütroman war. Damit war ich nicht alleine. Anfänglich stand die Frage im Raum, ob es möglich ist, ein Buch objektiv zu bewerten, wenn man die Autorin kennt und mag – aber diese Bedenken verflüchtigten sich schon nach ein paar ersten Leseminuten, so sehr hat mich der Text von Beginn an fasziniert und mich alles andere um mich herum vergessen lassen. „Literatur im Wohnzimmer“ weiterlesen