Stefan Zweigs Europa

Stefan Zweig: Die Welt von Gestern

2014 jährte sich der Ausbruch des ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Aus diesem Anlass erschienen eine Flut von neuen Büchern, die sich mit diesem Thema beschäftigen. Zu Recht gilt dieser Krieg als Ur-Katastrophe des 20. Jahrhunderts, die nicht nur Millionen von Menschen das Leben kostete, sondern Europas Landkarte und Gesellschaft radikal veränderte. Doch ein Buch, welches das Europa vor dem ersten Weltkrieg eindrucksvoll beschreibt, ist keine Neuerscheinung. Stefan Zweigs »Die Welt von Gestern« ist ein Buch, das mich schon lange beschäftigt. Es wurde 1943 posthum publiziert und ist das Vermächtnis des großen Dichters. Am 23. Februar 1942 hatte er im brasilianischen Exil seinem Leben selbst ein Ende gesetzt. Sein Abschiedsbrief endete mit den Worten: »Ich grüße alle meine Freunde! Mögen sie die Morgenröte noch sehen nach der langen Nacht. Ich, allzu Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.«

Was ist das für ein Buch, das jemand zu Ende schreibt, um sich kurz danach das Leben zu nehmen? Es ist dem Untertitel zu entnehmen: »Erinnerungen eines Europäers«. Erinnerungen eines kosmopolitisch lebenden, sich nicht von Staatsgrenzen oder Nationalitäten beeindrucken lassenden Menschen an eine Welt – an seine Welt – die es nicht mehr gibt. Die verschwunden ist in der langen Nacht. Erinnerungen eines Mannes, der heimatlos und seiner Welt beraubt, nicht mehr weiß, wo er hingehört. Er schreibt: »Zwischen unserem Heute, unserem Gestern und Vorgestern sind alle Brücken abgebrochen … Ich musste wehrloser, machtloser Zeuge sein des unvorstellbaren Rückfalls der Menschheit in längst vergessen geglaubte Barbarei.«

Stefan Zweigs Schilderung der Welt von gestern ist die Beschreibung eines untergegangenen Europas – eines Europas, welches für abendländische Kultur und humanistisches Denken stand. Dieses Europa war allerdings bereits in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs verschwunden. Zweig nennt die Zeit vor 1914 »das goldene Zeitalter der Sicherheit« und mehr als die Hälfte des Buches bezieht sich auf diese Epoche. Doch dabei sollte man nicht aus den Augen verlieren, dass er aus einer privilegierten Gesellschaftsschicht stammte. Seine Erinnerungen an ein vergangenes Europa sind Erinnerungen an ein Leben ohne existentielle oder finanzielle Nöte. Diese Gesellschaftsschicht machte nur einen unbedeutenden Bruchteil der Bevölkerung Europas aus. Hannah Arendt schrieb dazu in »Portrait of a Period«: »Natürlich ist die Welt, die Zweig schildert, alles andere als die Welt von gestern; natürlich lebte der Autor dieses Buches nicht eigentlich in der Welt, sondern nur an ihrem Rande.«

Stefan Zweig selbst schreibt über diese Zeit: »Nichts vielleicht macht den ungeheuren Rückfall sinnlicher, in den die Welt seit dem Ersten Weltkrieg geraten ist, als die Einschränkung der persönlichen Lebensfreiheit des Menschen und der Verminderung seiner Freiheitsrechte. Vor 1914 hatte die Erde allen Menschen gehört. Jeder ging, wohin er wollte und blieb, solange er wollte.«  Diese Sätze repräsentieren Zweigs Denkhaltung, aber man ist versucht zu fragen, ob er einfach die Vergangenheit verklärt darstellte oder in einer Art Elfenbeinturm lebte. Er beschreibt ein Europa und die Welt der Privilegierten, nicht der Völker. Oder die Idealvorstellung eines Europas, wie es sein sollte. Aber niemals war und niemals sein wird.

Mit dem Ende des Ersten Weltkriegs war auch das Ende des »goldenen Zeitalters der Sicherheit« gekommen. Revolution, Inflation, Wirtschaftskrise und die politischen Polarisierungen fegten die bürgerlichen Wertvorstellungen hinweg. Für Stefan Zweig allerdings war die Zeit nach 1918 die der großen schriftstellerischen Erfolge und der internationalen Anerkennung. Seine Welt und sein Leben waren die eines völlig Unpolitischen. Als »die lange Nacht« über Europa hereinbrach, blieb ihm zum Schluss nur ein Ausweg, sich in seine Welt zu retten. Seine Wertmaßstäbe waren die der Zeit vor 1914 und eigentlich müsste seine Autobiographie heißen: »Die Welt von vorgestern«.

In dem 1994 erschienenen Roman »Judiths Liebe« des israelischen Autors Meir Shalev gibt es folgende Szene: In einem Dorf sitzt jeden Abend ein alter Mann, von dem niemand Genaueres weiß, vor seinem Haus, liest in einem Buch und weint. Als er eines Tages gestorben ist, wollen die anderen Dorfbewohner wissen, was ihn jeden Abend zum Weinen gebracht hat und blättern in dem Buch. Es ist ein altes Kursbuch der Eisenbahnstrecken Wien – Budapest und Berlin – Prag.

Das war das Europa Stefan Zweigs, dessen »Welt von Gestern« ein beeindruckendes Zeugnis eines großen Intellektuellen, eines Weltbürgers und Pazifisten ist. Und ein immer wieder lesenswertes Buch.

Mehr zu der im obigen Photo abgebildeten Ausgabe des Werkes steht im Beitrag »Papiergewordene Geschichte«.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Herkunft und Heimat.

Buchinformation
Stefan Zweig, Die Welt von Gestern
Fischer Taschenbuch
ISBN 978-3-596-21152-4

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14 Antworten auf „Stefan Zweigs Europa“

  1. Über Notizhefte bin ich auf Ihren tollen Beitrag gestoßen. Danke! und wie man sieht, der Mensch lernt nichts dazu.
    Wenn ich die Ungeduld des Herzens beenden werde, möchte ich mich auch der Welt von gestern widmen.
    Meine Frage wäre, wo kann ich den Beitrag Hannah Arendts finden: Portrait of a period? In ihrem Werkverzeichnis konnte ich ihn nicht finden. Über einen Hinweis würde ich mich freuen.
    Liebe Grüße, Gerhard

  2. Das ist defintiv eines meiner Lieblingsbücher und umso mehr freut es mich, dass es dir auch gefallen hat. Ich finde, du hast genau die richtigen Worte gefunden, um die Wichtigkeit dieser Biografie hervorzugeben und was für ein faszinierender Intellektueller Zweig selbst gewesen sein muss.
    Falls es dich irgendwann noch zu Zweig verschlagen sollte, möchte ich wärmstens seinen Roman „Ungeduld des Herzens“ empfehlen!

    Liebe Grüße
    Katha

    1. Vielen Dank für Deinen Besuch hier – dadurch habe ich Deinen Blog entdeckt, auf dem ich mich sicherlich des Öfteren mal umsehen werde.
      Liebe Grüße
      Uwe

  3. Zu Hananh Arendt:
    Jürgen Ede schrieb dazu: „die in einer längeren Rezension der „Welt von gestern“ nicht mit dezidierter Kritik geizt. Von Politik habe Stefan Zweig sich „vornehm ferngehalten“ – „und dies in einem solchen Maße, dass ihm noch rückblickend die Katastrophe […] wie ein Blitz aus heiterem Himmel erscheint, wie eine ungeheuerliche, unbegreifliche Naturkatastrophe“. –
    Hannah Arendt, selbst aus Deutschland verjagt, wirft dem Mit-Exilanten vor, er begreife die Nazis nur als Verursacher ganz persönlicher Demütigungen, ohne allen Zusammenhang. Sie führt das auf die Verblendung einer Schicht jüdischer
    großbürger zurück, die nicht sehen konnten oder wollten, dass allein
    der Erfolg ihre gesellschaftliche Existenz sichern konnte: „Die sehr vergoldeten
    Gitterstäbe dieses eigenartigen Naturschutzparks waren sehr dicht und benahmen
    de[m] Insassen jeden Blick und jede Einsicht, die [seinem] Erleben und
    genießen hätte störend werden können.W Zitiert nach: Hannah Arendt: Die verborgene Tradition. Acht Essays, Frankfurt/M. 1976, Zitate S. 75. S. 7 – zitiert nach:
    JüRGEN EDER: „IncIpit Hitler“. Stefan Zweig und der Nationalsozialismus. Aus: SBORNÍK PRACÍ FILOZOFICKÉ FAKULTY BRNĚNSKÉ UNIVERZITY
    STUDIA MINORA FACULTATIS PHILOSOPHICAE UNIVERSITATIS BRUNENSIS
    https://stefan-zweig.com/wp-content/uploads/2015/11/Eder_BrunnerBeitratgeGermanistikNordistik_22-2008-1_8.pdf – Abruf 19.02.2019 –

  4. In vielerlei Hinsicht ein Top-Buch.

    Es zeigt aber auch die Naivität des Intellekutellen. Stefan Zweig hat teils mit Pazifismus und Kommunismus angebändelt, wie man lesen kann. Selbst dafür kann er dem Leser noch Sympathie abgewinnen, es ist immer glaubwürdig, aber es war bestenfalls ein romantischer Irrtum.

    Vor allem aber ist die „Welt von gestern“ natürlich eine Anklage gegen das EU-Europa der Nivellierung, des Konsums, der wahnwitzigen Schuldenmacherei, und der ideologischen Gängelung. Es ist eine Warnung davor, dass die Geschichte auf niemanden wartet. Die kuk-Monarchie war völlig überaltert, und so ist es mit dem EU-Europa ebenfalls. Ohne Reformen wird der Laden auseinanderfliegen, das ist absehbar.

    Die Idee, aus Europa eine Art USA light zu machen, noch dazu in ökonomischem Gegensatz zur Hegemonialmacht USA, war von Anfang an eine Schnapsidee. Europa tickt anders. Kleinteiliger. Und wird immer einen Hegemon brauchen. Weniger ist manchmal mehr.

  5. Stefan Zweigs unglaublich einfühlsame Art zu schreiben hat mich seit jeher begeistert. Von der Ungeduld des Herzens bis hin zur Schachnovelle ist sein ursprünglichstes Talent sicherlich das Gespür für den Menschen an sich, der zu Zweigs Epoche mitunter seine dunkelsten Facetten offenbarte. „Die Welt von Gestern“ ist ein bemerkenswertes Porträt dieser Zeit und ein Werk, das heutzutage leider viel zu wenig gelesen wird.

  6. Zweigs ‚Dämonen‘ haben mich, nach der Schachnovelle und Marie Antoinette, eigentlich davon abgehalten, nochmal ein Buch von Zweig in die Hand zu nehmen. Im positiven Sinne, irgendwie denke ich immer noch über die ‚Dämonen‘ nach. Aber auf dieses Buch schiele ich schon lange… vielleicht wird es mal langsam Zeit….

  7. Oh, vielen Dank, dass das nochmal geteilt wurde. Eine sehr schöne und wichtige Empfehlung. Besonders interessant wird die Erklärung durch die verschiedenen Perspektiven.

    Ich kann verstehen, wie einen so ein Buch lange beschäftigt.

    1. Dankeschön! Deinen Beitrag „Die Zeit vor dem ersten Weltkrieg“ kann ich nur empfehlen, zumal das eine Epoche ist, die mich sehr interessiert und die letztendlich unser heutiges Leben maßgeblich beeinflusst hat. Momentan lese dich „Die Schlafwandler“ von Christopher Clark. Hochinteressantes Buch, zu dem es sicher auch das ein oder andere zu sagen geben wird.

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