Eigentlich mag ich sie sehr, die Romane von Cay Rademacher, die ein historisches Setting haben. Die Hamburg-Trilogie etwa, angesiedelt in den Jahren 1947 und 1948, als es in der zerstörten Stadt für viele Menschen um die nackte Existenz ging. Oder den Roman »Die Passage nach Maskat«, in dem die Passagiere eines Ozeandampfers ein Abbild der Gesellschaft Deutschlands sind, unmittelbar vor der großen Weltwirtschaftskrise 1929 – und das inklusive einer spannenden Whodunit-Geschichte in der Tradition Agatha Christies. Der Roman, um den es in diesem Beitrag gehen soll, trägt den Titel »Nacht der Ruinen«, er führt uns nach Köln und in das Jahr 1945. Das Wort »eigentlich«, mit dem ich den Text begonnen habe, lässt erahnen, dass mich dieses Buch nicht ganz überzeugen konnte. Zumindest was die Handlung angeht; vieles wirkte zu überfrachtet und gleichzeitig zu vorhersehbar. Doch die Schilderung der vollkommen zerbombten Stadt geht unter die Haut. „Madonna in den Trümmern“ weiterlesen
Das Buch der Stunde
Über den Untergang der Weimarer Republik ist viel diskutiert, geforscht und geschrieben worden. Und doch kann man sich nicht oft genug damit befassen, denn auch wenn immer wieder beteuert wird, dass man Weimars Scheitern nicht mit unserem Heute vergleichen könne, stimmt das lediglich bedingt. Denn nur wenn wir bereit sind, von den damaligen Geschehnissen zu lernen, nur, wenn wir uns immer wieder vor Auge führen, welche verhängnisvollen Entscheidungen den Weg in die Barbarei des »Dritten Reiches« ebneten – nur dann sind wir gefeit davor, diese Fehler erneut zu begehen. Und in einem Moment, in dem konservative Politiker eine Geschichtsvergessenheit an den Tag legen, die erschreckend ist, kommt dieses Buch genau richtig: »Die Entscheidung« von Jens Bisky. „Das Buch der Stunde“ weiterlesen
Der Weg in die Finsternis
Es ist der starke Abschluss einer großartigen Reihe und es fühlt sich an wie eine Reise, die zu Ende gegangen ist. Eine Reise, die in die Finsternis führt. 2007 habe ich »Der nasse Fisch« in die Hände bekommen, den ersten Band von Volker Kutschers Buchreihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath und die Ermittlerin Charlotte Ritter. Ins Jahr 1929 schickte uns damals die Handlung – jetzt ist der zehnte Band erschienen, der den schlichten Titel »Rath« trägt und mit ihm endet die Reihe. Inzwischen befinden wir uns im Jahr 1938, mit der Pogromnacht schlägt Deutschland den letzten Schritt in Richtung Barbarei ein – von nun an wird es kein Zurück mehr geben.
Kriminalromane, die in einer vergangenen Epoche spielen, sind ein perfektes Vehikel, um Lesern geschichtliche Zusammenhänge nahezubringen – sofern sie gut recherchiert sind und das Historische nicht nur atmosphärisches Hintergrundrauschen darstellt. Volker Kutscher beherrscht dies mit seiner Rath-Reihe perfekt: Er schickt uns nicht nur auf eine spannende und zugleich erschütternde Zeitreise, sondern er zeigt Band für Band, dass das »Dritte Reich« kein Betriebsunfall der Geschichte war. Sondern dass die Entwicklung hin zu einem faschistischen Verbrecherstaat schleichend beginnt, vielleicht zu Beginn sogar etwas stockend, dann aber, sobald nur ein Zipfel der Macht in den falschen Händen ist, es kein Halten mehr gibt, gleichzeitig die Radikalisierung der Gesellschaft rasch fortschreitet und Freiheit, Gerechtigkeit und Menschlichkeit untergehen in einem Strudel der Gewalt. „Der Weg in die Finsternis“ weiterlesen
Aus Overstolz wird Camel
»Er zündete sich eine Overstolz an« – dieser Satz kündigt den Auftritt von Gereon Rath an und in den bisherigen Bänden der Buchreihe von Volker Kutscher dauert es nicht lange, bis er fällt. Diesmal nicht. In »Transatlantik«, dem neunten Rath-Roman, müssen wir bis Seite 63 warten, erst dann können wir ihn zum ersten Mal lesen. Denn inzwischen ist die Reihe im Jahr 1937 angekommen und für die Protagonisten hat sich alles verändert. Charlotte »Charlie« Rath arbeitet nach wie vor in der Detektei ihres früheren Vorgesetzten bei der Kripo und weiß nicht, ob und wo ihr Mann lebt. Gereon Rath, von SS und Gestapo verfolgt, schafft es per Zeppelin aus Deutschland heraus und versucht in New Jersey Fuß zu fassen. Und Ziehsohn Fritze, einst begeistertes HJ-Mitglied, wird zum Opfer des Systems und seiner verbrecherischen Machenschaften. Diese drei Erzählstränge bilden den Rahmen für die Handlung des Romans – der uns wieder einen Schritt weiter hinein in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« führt.
Bevölkert ist »Transatlantik« mit vielen Personen aus der Welt des Gereon Rath, die Volker Kutscher nunmehr seit fünfzehn Jahren mit akribischer Recherche und schriftstellerischer Leidenschaft geschaffen hat. Und wie es so ist beim neunten Band einer Reihe: Selbstverständlich kann man ihn auch einzeln lesen, im Großen und Ganzen ist die Handlung in sich abgeschlossen. Doch natürlich gibt es zahllose Verweise und Anspielungen auf die vorhergehenden Bände, so dass es empfehlenswert ist, mit Teil eins zu beginnen. Dann nämlich entfaltet die Reihe ihren ganz besonderen Reiz. „Aus Overstolz wird Camel“ weiterlesen
Keine Heldengeschichten
Am 30. Januar 1933 war die Weimarer Republik am Ende, die Nationalsozialisten an der Macht, und das erste längere demokratische Experiment auf deutschem Boden versank in Gewalt und staatlichem Terror. Die Dynamik, mit der dies geschah, ist erschreckend: »Für die Zerstörung der der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.« Dieses eindrucksvolle Zitat stammt aus dem Buch »Februar 33 – Winter der Literatur« von Uwe Wittstock. Anhand der Schicksale vieler der damaligen Literaturschaffenden rekonstruiert er die dramatischen Ereignisse. Furchteinflößend und mitreißend gleichzeitig, denn er schafft es, uns so dicht an diese alles verändernden Wochen heranzuführen, wie es mit der Macht der Sprache nur möglich ist. „Keine Heldengeschichten“ weiterlesen
Täterland ist abgebrannt
»So hätte ein Roman beginnen können, der im Reich der Toten spielte: mit den Schemen von Häusern, die sie fühlte, obwohl sie nicht mehr da waren, Geistergebäude, blumengeschmückt, fahnenbehängt, an jedem Fenster schreiende Menschen, ihre Heil-Rufe ein Echo, so wie alles in Deutschland nur noch ein Echo war – von Schamlosigkeit und Obszönität und Gier, von Hass, von weißer Farbe, die auf Schaufensterscheiben klatschte, von klirrendem Glas, von Zahnbürsten auf Straßenpflaster, vom Wegschauen, Schulterzucken, dem Was-hätte-ich-denn-tun-können, dem Das-ging-mich-nichts-an. Das schlimmste und lauteste Echo, der wahre Grund für all dies. Sie fragte sich, was käme, wenn die Echos irgendwann verhallt wären, wenn es still wurde.«
Der Roman »Ritchie Girl« von Andreas Pflüger ist voller Textstellen, die einen den Atem stocken lassen und die einen tief in die erzählte Geschichte hineinziehen. Doch diese starke Passage ragt noch einmal daraus hervor und ich konnte nicht anders, als die Buchvorstellung mit ihr beginnen zu lassen. Denn mit wenigen Worten skizziert der Autor darin ein Land in Trümmern, besiegt, zerstört, am Ende. Und beladen mit einer Schuld, wie es sie nie zuvor gegeben hat. „Täterland ist abgebrannt“ weiterlesen
Mordermittler in einem Mörderstaat
Im Jahr 2007 startete Volker Kutscher seine Buchreihe um den Kommissar Gereon Rath, den es 1929 von Köln nach Berlin verschlägt und der dort den Weg in die Dunkelheit des »Dritten Reiches« miterleben wird. Ich weiß noch, wie ich den ersten Band – »Der nasse Fisch« – zum ersten Mal sah und durch das Buchcover sofort meine Neugier geweckt wurde: Eine Straßenszene aus den Zwanzigerjahren, eine Limousine, die am Bürgersteig parkt und von Kindern bewundert wird, daneben eine Litfaßsäule, die wie eine Reminiszenz an »Emil und die Detektive« wirkt. Seitdem begleite ich Gereon Rath und Charlotte Ritter auf ihrem Weg durch die immer finsterer werdende Geschichte und auch dreizehn Jahre später ist meine Begeisterung für diese Reihe ungebrochen; der im November 2020 erschienene achte Band »Olympia« spielt im Jahr 1936. Und Gereon Rath ist inzwischen ein desillusionierter Polizist, der sich Gedanken macht über den Sinn von Mordermittlungen in einem Land, das von Mördern regiert wird. „Mordermittler in einem Mörderstaat“ weiterlesen
Ein Diktator im Fadenkreuz
Als der Diktator im Fadenkreuz auftauchte und der Zeigefinger des Schützen am Abzug lag, kam ein leichter Wind auf. Der Luftzug zwang ihn, das Präzisionsgewehr nachzujustieren und in diesen wenigen Sekunden wurde er von den Sicherheitskräften überwältigt. Damit beginnt der Roman »Einzelgänger, männlich« von Geoffrey Household. Jener Schütze ist der Ich-Erzähler, der berichtet, wie er anschließend in das große Anwesen gebracht und gefoltert wurde. Ohne Fingernägel und mit einem zugeschwollenen, stark verletzten Auge wird er eine Felswand hinabgeworfen, um seinen Tod wie einen Unfall aussehen zu lassen. Denn anhand seiner Papiere identifizierten seine Peiniger ihn als einen prominenten Angehörigen der englischen Oberschicht, den sie nicht einfach verschwinden lassen konnten. Wie durch ein Wunder überlebt er den Sturz und es beginnt eine dramatische Jagd.
Es ist immer wieder spannend, beim Stöbern im heimischen Bücherregal verborgene Leseschätze zu entdecken; viele Bücher lagern dort schon seit Jahren. »Einzelgänger, männlich« hatte ich mir irgendwann quasi im Vorbeigehen gekauft, weil mir Titel und Cover gefielen – und weil der Verlag Kein & Aber es schafft, bibliophile Taschenbücher herzustellen. Ich mag diese Gestaltung mit dem schlichten Cover und dem bei Paperbacks außergewöhnlichen Farbschnitt sehr. Und auch wenn ich normalerweise versuche, den Kauf von Taschenbüchern zu vermeiden, mache ich bei dieser Reihe gerne eine Ausnahme. Auch dieses Mal wurde ich nicht enttäuscht. „Ein Diktator im Fadenkreuz“ weiterlesen
Ein Fenster in die Geschichte
In diesem Beitrag geht es um das Buch »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« von Bernard von Brentano. Ich vermische damit Berufliches mit Privatem, da ich seit Sommer 2019 für den Eichborn Verlag arbeite, in dem die Neuausgabe dieses lange vergessenen Werkes erschienen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es hier im Blog nicht zu solchen Überschneidungen kommen sollte, doch dieser Titel ist in meinen Augen ein so wichtiges Zeitzeugnis, dass ich einfach nicht anders kann als darüber zu schreiben.
Das Buch erschien ursprünglich im Jahr 1932 und war das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an war der Journalist Bernard von Brentano auf langen Fahrten durch Deutschland gereist. Er wollte herausfinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der das Land mit voller Wucht getroffen wurde – und was er sah, war dramatisch. Brentano besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie lange ihre Betriebe noch durchhalten würden, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen. Er schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten. Lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln und Regionen, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirren würden. „Ein Fenster in die Geschichte“ weiterlesen
Ein Mahnmal aus Papier
Für das zentrale Spektakel war in Berlin auf dem Opernplatz ein großer Scheiterhaufen aufgebaut worden. Doch nicht nur dort, sondern in vielen anderen deutschen Orten loderten am Abend des 10. Mai 1933 die Flammen. Verbrannt wurden unzählige Bücher, die fanatisierte Studenten zuvor aus den Bibliotheken gezerrt hatten. Entweder waren ihre Autoren dem sich immer stabiler konstituierenden Nazi-Regime ein Dorn im Auge oder ihr Inhalt entsprach nicht »dem deutschen Geist«. Organisiert wurde die barbarische Aktion nicht von der NSDAP, sondern durch die Deutsche Studentenschaft, dem Dachverband der studentischen Selbstverwaltung. Diese Kampagne ist einer der Tiefpunkte unserer Geistesgeschichte, an Symbolik kaum zu überbieten.
Das Datum dieses widerwärtigen Schauspiels jährt sich 2018 zum fünfundachtzigsten Mal. Ein Grund, hier »Das Buch der verbrannten Bücher« vorzustellen, mit dem Volker Weidermann den verfemten, verfolgten und zu einem nicht unbedeutenden Teil heute vergessenen Autoren ein Denkmal gesetzt hat. Natürlich eines aus Papier. Bereits vor zehn Jahren erschienen, ist es heute immer noch erhältlich und ich hoffe, dass dies noch lange so bleiben möge. „Ein Mahnmal aus Papier“ weiterlesen