Im letzten Drittel des Buches finden wir sie, die Schlüsselstelle in Volker Kutschers Kriminalroman »Märzgefallene« steht auf der Seite 487: »Es kam ihr vor, als sei Berlin voll von Leuten, die nur auf diese neue Regierung gewartet hatten und plötzlich aus ihren Löchern hervorkrochen und ihr wahres Gesicht zeigten. Als sei da die ganze Zeit, irgendwo tief unter der Stadt, ein dunkles Berlin gewesen, das nun durch alle Ritzen nach oben kroch, wie Abwasser, das ein zu hoher Grundwasserspiegel durch die Kanaldeckel auf die Straße drückt. Aber so war es natürlich nicht, es waren dieselben Menschen, die durch dieselben Berliner Straßen liefen. Die neue Regierung hatte ganz einfach nur ein besonderes Talent darin, bei jedem Menschen das Schlechteste nach außen zu kehren.« »Märzgefallene« ist der fünfte Band aus der Reihe rund um den Kriminalkommissar Gereon Rath der Berliner Kriminalpolizei. Er spielt im Frühjahr 1933.
Die Kriminalromane von Volker Kutscher sind vor allem eines, nämlich spannend geschrieben. Dazu perfekt recherchiert und bevölkert mit interessanten und vielschichtigen Charakteren. Der erste Band »Der nasse Fisch« spielt 1929, Gereon Rath, gebürtiger Kölner, hatte sich in seiner Heimatstadt mit einer Zeitungsdynastie angelegt und es für besser gehalten, weit weg in Berlin neue berufliche Herausforderungen zu suchen. »Berlin, das war jetzt seine Heimat, diese seltsame Stadt, die einem so wenig Heimeligkeit bot und einen doch nicht mehr losließ.« Das Besondere an dieser Reihe ist die gekonnte Einbindung des politischen Geschehens der damaligen Zeit. Es sind die letzten Jahre der Weimarer Republik und der Beginn der dunkelsten Epoche in der deutschen Geschichte. Diese dramatischen historischen Ereignisse erlebt der Leser mit, von Band zu Band nehmen sie mehr Raum ein, wie ein literarisches Experiment, um das Unfassbare für uns Nachgeborene greifbar zu machen. Während bei den ersten Fällen ab und zu von Straßenschlachten zwischen Nazis und Kommunisten die Rede ist, der ein oder andere Kollege aus seiner nationalen Gesinnung kein Hehl macht, beeinflusst im vierten Band »Die Akte Vaterland« ein erster Ausläufer des kommenden politischen Umbruchs maßgeblich die Ermittlungsergebnisse.
Und nun also der fünfte Band. Gekonnt wie immer führt uns Volker Kutscher durch das Berlin der frühen Dreißigerjahre; ich kenne kaum einen Autor, der es schafft, Lokalkolorit und Alltagsdetails der beschriebenen Zeit so perfekt einzubauen, dass es nicht wie angelesen oder irgendwie künstlich wirkt. Vielmehr hat man als Leser das Gefühl, sich tatsächlich hier und jetzt in dieser Epoche zu befinden. Und ist ziemlich froh, nicht wirklich dort zu sein. Denn Hitler ist gerade zum Reichskanzler ernannt worden und seine braunen Schergen übernehmen nach und nach die Macht in Berlin und überall in Deutschland. Gereon Raths Verlobte Charlotte ›Charlie‹ Ritter, ebenfalls bei der Kripo, sieht eine düstere Zeit auf Deutschland zukommen, doch Rath will von alldem nichts wissen, er denkt, dass der Spuk bald wieder vorbei sein wird, schaut nicht nach links und rechts sondern konzentriert sich auf seine Ermittlungen. Die zunehmend durch die dramatischen Entwicklungen beeinflusst werden. Der Polizeipräsident wurde aufgrund seiner jüdischen Herkunft abgesetzt, die politische Abteilung der Kripo wird massiv aufgestockt, pöbelhafte SA-Männer spielen sich als Hilfspolizisten auf. Bei einem Besuch bei seinen Eltern in Köln wird er Zeuge, wie der Oberbürgermeister Konrad Adenauer – ein guter Freund seines Vaters – vom braunen Mob regelrecht aus dem Amt geputscht wird. Der Rechtsstaat kommt ins Wanken, nach anfänglichem Knirschen ist irgendwann kein Halten mehr, es wird wahllos verfolgt, verhaftet, eingesperrt, gefoltert. Gereon und Charlie müssen sich entscheiden, wo ihr Platz in dem neuen System ist. Beide tun es auf ihre Weise.
Vor diesem unruhigen Hintergrund gilt es einen Fall aufzuklären. Ermordete Weltkriegsveteranen, ein aus einer Irrenanstalt entflohenes Mädchen, ein hinkender Mörder, ein ungesühntes Verbrechen aus Kriegszeiten, ein dubioser und blasierter Ex-Offizier, der seine völkisch verklärten Fronterlebnisse veröffentlichen will und ein verschwundener Goldschatz geben Gereon Rath Rätsel auf. Wir treffen alte Bekannte wieder, wie etwa Doktor Marlow, eine Berliner Unterweltgröße, zu dem Gereon Rath intensiveren Kontakt pflegt, als es für einen Polizisten gut ist.
Am Tag der entscheidenden Reichstagswahl Anfang März 1933 fährt Gereon Rath mit seinem Auto in Richtung Köln. Bedrückend ist die Beschreibung der Fahrt: »Er verließ Magdeburg und fuhr weiter Richtung Westen, immer der Sonne entgegen. In den Dörfern und kleinen Städten, die er durchquerte, fielen ihm die Hakenkreuzfahnen auf, die aus den Fenstern hingen, manchmal auch vor amtlichen Gebäuden wehten. Natürlich, es war Wahltag, und da liebten es die Deutschen, Flagge zu zeigen, aber auf der ganzen Fahrt sah Rath keine einzige schwarz-rot-goldende Fahne mehr, geschweige denn eine rote. Es sah aus, als hätten die Nazis schon die Herrschaft über sämtliche Rathäuser in Preußen übernommen, obwohl doch heute erst gewählt wurde. Auf dem platten Land waren die neuen Machthaber längst akzeptiert, während Berlin und andere Städte sich noch wehrten.«
Am Ende wird der Fall gelöst sein, scheinbar nicht zusammenpassende Mosaiksteinchen werden sich zu einem großen Ganzen zusammengefügt haben. Und das »Dritte Reich« wird Realität geworden sein, der flackernde Lichtschein brennender Bücher bietet die beunruhigende Kulisse für das Finale der geschickt verschachtelten Handlung. Und dann ist sie da, die aus allen Ritzen gekrochene große Dunkelheit. Für zwölf lange Jahre. Wir dürfen gespannt sein, wie es Gereon Rath und Charlotte Ritter ergehen wird, denn das literarische Experiment ist noch nicht zu Ende. Und ich freue mich jetzt schon auf den Folgeband, wenn es wieder heißt »Gereon Rath zündete sich die nächste Overstolz an.« Eine Zigarettenmarke übrigens, die das tausendjährige Reich überlebt hat.
Buchinformation
Volker Kutscher, Märzgefallene
Verlag Kiepenheuer und Witsch
ISBN 978-3-462-04707-3
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Hier sei auch auf die sehr informative Seite GereonRath.de verwiesen, auf der man zahlreiche historische Hintergrundinformationen und viele Photodokumente findet.
Hi Uwe,
meine Aufholjagd, die Bücher um Gereon Rath betreffend, nimmt immer konkretere Züge an. Durch diesen Band bin ich nur so hindurchgehuscht und kann deine Begeisterung zu dieser Reihe einfach nur teilen, auch wenn mir der Fall selber etwas zu „gewollt“ erschien. So bin ich immer mehr davon fasziniert, wie gekonnt der Autor die Historie in die Geschichte einwebt und es so authentisch wirken lässt. Ich kann mir nicht mal im entferntesten vorstellen, wie das damals gewesen sein muss als die Nazis ihre Herrschaft zu festigen begannen. Dieser Band (und sicher auch die Folgenden) macht das auf jeden Fall erlebbar und das auf sehr erschreckende Weise.
Viele Grüße
Marc
Hi Marc,
schön, von Deiner Begeisterung für die Reihe zu lesen – und ja, die Authentizität, die nie aufgesetzt wirkt wie bei vielen anderen historischen Romanen, macht die Bücher so besonders.
Viele Grüße
Uwe
Jetzt schon mal ein Vorsatz für’s neue Jahr: Kutscher lesen. Im Rest des aktuellen widme ich mich noch ein bisschen dem vielen Ungelesenen hier im Regal.
(der 2. Kutscher steht hier übrigens schon eine Weile, mir fehlt nur der erste zum Einstieg)
Guter Vorsatz, bin schon gespannt, wie Dir die Bücher gefallen…