Weg.Gegangen

Olivier Adam: An den Rändern der Welt

Das Buch »An den Rändern der Welt« von Olivier Adam habe ich vor über fünf Monaten gelesen und es hat mich seit Jahren kein Roman so berührt und getroffen wie dieser. Seither überlege ich, wie ich diese Begeisterung in Worte fassen kann. Es fällt mir diesmal nicht leicht und auch jetzt sitze ich schon seit geraumer Zeit vor dem Bildschirm und versuche es wieder einmal aufs Neue. Denn es geht um nichts weniger als alles, was mich in den letzten Jahrzehnten meines Lebens bewegt hat. Und bis heute bewegt.

Nach dieser etwas pathetisch geratenen Einleitung erst einmal ein Blick auf die Handlung: Der Ich-Erzähler Paul ist Schriftsteller, Ende vierzig und lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie an der bretonischen Küste, am äußersten Rand Frankreichs. In jüngeren Jahren war er der Shootingstar der französischen Literaturszene, erfolgreich, gefragt, ständig unterwegs. Als der Trubel irgendwann zuviel wurde, flüchtete er in die Bretagne, dort wo sich niemand für ihn interessiert. Doch nun steht er vor den Trümmern seiner Existenz. Und merkt, dass am Rand zu leben auch bedeuten kann, über den Rand zu fallen.

Aufgewachsen in einem trostlosen Ort der Pariser Banlieu hat er es mit viel Glück geschafft, dort herauszukommen, der Frau seines Lebens zu begegnen, seine Depressionen in den Griff zu bekommen, eine Familie mit zwei von ihm abgöttisch geliebten Kindern zu gründen und mit ihr vor dem Ruhm in die Bretagne zu flüchten. Doch dort, fernab aller Betäubungen, holen ihn nach ein paar Jahren seine Depressionen wieder ein, er nimmt Tabletten, trinkt, schreibt nicht mehr. Bis seine Frau die Reißleine zieht und ihn vor die Türe setzt, weil sie sein selbstzerstörerisches Tun nicht mehr mit ansehen kann und nicht mehr an ihn herankommt.

Es folgt der Anruf von Pauls Bruder, die Mutter liegt im Krankenhaus und Paul soll sich ein paar Wochen um den Vater kümmern. Widerstrebend übernimmt er diese Aufgabe und reist zurück in sein Elternhaus, zurück in seine Vergangenheit. Von dem einen Leben am Rand in ein anderes Leben am Rand.

Plötzlich ist es wieder so, als seien nicht all die Jahre vergangen, in denen er versucht hat, seinem Herkunftsort mit den ungeliebten Erinnerungen zu entfliehen. Die kalte Sprachlosigkeit zwischen ihm und seinem Vater ist immer noch da. Die Trostlosigkeit des Pariser Vororts ebenfalls. Die alten Geschichten auch. Und alle Freunde seiner Kindheit, zu denen er jahrzehntelang keinen Kontakt mehr hatte. Wo knüpft man da an?

Paul tastet sich zurück in seine Vergangenheit und findet doch keinen rechten Zugang. »Soweit ich mich mich zurückerinnern kann, hatte es immer dieses Gefühl gegeben, nicht in meinem eigenen Leben zu wohnen und die der anderen zu betrachten, als warteten sie auf mich. Ich hatte das Gefühl, es sei ganz einfach hineinzuschlüpfen. Ganz gleich, in welches Leben. Ich hatte das Gefühl, das alles sei realer, dauerhafter, weniger doppeldeutig, weniger bröckelig, weniger ungewiss.«

Das Verhältnis zu seinen Eltern ist seit Jahren von Gleichgültigkeit geprägt und seine alten Freunde sitzen auf ihren geplatzten Träumen von einem besseren Leben, während er als Einziger aus der Vorort-Tristesse entkommen konnte. Die anderen hatten weniger Glück: »Seine ganze Haltung drückte Mutlosigkeit aus, erzählte von einem Leben, das einem die Flügel stutzte, das einen für nichts und wieder nichts kaputtmachte, nur weil es eben so war, weil die ganze Welt Kopf stand und weil man auf der falschen Seite geboren war. Nicht ganz und gar auf der falschen, aber jedenfalls nicht auf der richtigen.«

So stolpert er durch die Geschichte seiner Jugend, sorgt dadurch für Komplikationen bis hin zu einer dramatischen Zuspitzung auf Leben und Tod, die er nicht hat kommen sehen. Und findet den möglichen Grund für seine depressive Grundstimmung heraus, ein gut gehütetes Geheimnis. Hilf- und sprachlos steht er neben dem Leben seiner Eltern, die sich in einem lieblosen Pragmatismus eingerichtet haben, die alle ihre Bedürfnisse stets zurückgestellt oder verleugnet haben, die ein Leben gelebt haben, in dem die Jahre in all ihrer Eintönigkeit verstrichen sind. Bis sie zu alt waren, um sich ihre Wünsche nach einem Ausbruch aus dem Alltag zu erfüllen.

Bei alldem gerät der parallele Handlungsstrang, nämlich Pauls Sehnsucht nach seiner Frau und seinen Kindern, nicht in den Hintergrund, sondern sorgt für zusätzliche Komplikationen und Zerwürfnisse. Stilistisch hat man das Gefühl, dass einem immer mal wieder Philippe Djian zwischen den Zeilen zuzwinkert – der Protagonist ein Schriftsteller, einst erfolgreich, aber jetzt am Ende; Gedanken über das Leben, die in ihrer kristallklaren Schönheit ihresgleichen suchen – doch Olivier Adam kopiert ihn nicht, sondern hebt dessen Stil auf eine emotionalere Ebene.

Soviel zum Inhalt. Natürlich ist die Geschichte viel komplexer, als es meine paar Sätze vermuten lassen, aber es soll nicht zu viel verraten werden. Doch was macht nun dieses Buch so besonders für mich?

Nein, ich bin nicht in einer Vorstadt-Tristesse aufgewachsen und wenn ich auch manchmal zu Melancholie neige, sind mir Depressionen glücklicherweise fremd geblieben. Doch das Getriebene, das Rastlose, das kenne ich gut. Veränderungen um der Veränderung willen, Weggehen, Vertrautes hinter sich lassen, Unterwegssein als Lebenseinstellung, das Wort Zuhause eher als Bedrohung empfinden – so habe ich einige Jahre gelebt, gedanklich, aber auch im realen Leben. Es waren gute Jahre, spannend und traurig zugleich, anstrengend, aber im Nachhinein wichtig, prägend und unverzichtbar. Auch wenn Freundschaften und Beziehungen dabei auf der Strecke geblieben sind.

Jetzt bin ich etwa im gleichen Alter wie der Protagonist Paul und sein Blick zurück wirkt vertraut. Dieses Gefühl, bei der Ankunft in seiner Heimatstadt mit einem Schlag wieder derjenige sein zu müssen, der einst von dort aufgebrochen ist, so, als wären die Jahre der Abwesenheit und der Veränderungen nie dagewesen. Und trotzdem ein Fremder zu sein; ein Fremder, der dort keine Anknüpfungspunkte mehr findet und doch mit einem Schlag wieder voller Erinnerungen ist. Jugenderinnerungen, Gedankensplitter, vieles, was man glaubt vergessen zu haben und auch gerne vergessen würde. Ein Gefühl, als wäre man ein Besucher seiner eigenen Vergangenheit und könnte sie nicht in Einklang bringen mit dem Menschen, der man geworden ist. Obwohl sie einen, wie man gleichzeitig immer wieder feststellen muss, bis heute geprägt hat.

»Ich saß in dieser Stadt fest, die ich nicht mochte, die mich aber, dessen war ich mir durchaus bewusst, geformt hatte, mit der mich jedoch nichts wirklich verband, sicher, alles erinnerte mich ständig an eine Kindheit und Jugend, die zwar kein Martyrium gewesen waren, deren Erwähnung mir jedoch stets einen Stich ins Herz gab, seit meiner Ankunft hatte ich ständig das Gefühl zu ersticken.« Eine lange Zeit wären das genau die Worte gewesen, die ich immer gesucht habe, um meine Heimatstadt zu beschreiben, und plötzlich stehen sie vor mir, in diesem Buch, einfach so. 

Und dazu der Blick auf die Vergänglichkeit; Eltern, die sterben, und man fragt sich, was sie für Träume hatten, bevor das Alter, die Gebrechlichkeit und der Tod sie eingeholt haben. Plötzlich spiegelt sich das eigene Leben darin, die Frage, wohin die Reise gehen soll, die einmal in der fremdgewordenen Heimat begonnen hat; eine Heimat, die schon lange keine mehr ist und es auch nie wieder werden wird. Doch wo ist das Zuhause? Wo gehört man hin? Was ist mit den eigenen Träumen? Werde auch ich ihnen einmal nachtrauern und mich fragen, wohin all die Zeit so schnell gegangen ist?

Es ist ein bisschen viel »ich, ich, ich« in diesem Beitrag, ich bitte dies zu verzeihen. Doch diese Gedankenfetzen, die ich nur mühsam in Worte gefasst bekomme, wirbelten mir beim Lesen von Olivier Adams grandiosem Roman durch den Kopf. Und das hat dieses Buch für mich zu einem ganz besonderen Leseerlebnis gemacht.

Was, wenn man es schaffen würde, sich von allem gedanklichen Ballast zu befreien? Diese Frage stellt sich Paul, der Schriftsteller, als er die letzte Nacht in seinem Elternhaus verbringt und mit der Antwort, die er sich selbst gibt, möchte ich diese Besprechung schließen.

»Ich wartete lange darauf, dass die Erinnerungen auf mich einstürmen, dass die Gefühle mich überwältigen würden. Doch nichts dergleichen geschah. Ich schlief ein, so leer, nackt, geschichts- und erinnerungslos, wie das Haus bald sein würde, sobald die Wände neu gestrichen wären und ein neuer Teppichboden gelegt worden wäre. Ich löschte die Erinnerungen aus. Ich löschte die Spuren aus. Jahr für Jahr. Lebensabschnitt für Lebensabschnitt. Pinselstrich für Pinselstrich. Bis nur noch die letzte Schicht übrig blieb. Der Rest war unleserlich geworden.«

Buchinformationen
Olivier Adam, An den Rändern der Welt
Aus dem Französischen von Michael von Killisch-Horn
Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98004-2

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28 Antworten auf „Weg.Gegangen“

  1. Zeitnah erschien (oder las ich) Eribon „Rückkehr nach Reims“, etwas ähnlich, und doch ganz anders. Keine Kopie, das Thema ähnlich, Leute, die zurück bleiben und ihre Träume nicht erfüllt bekommen…

  2. Gut, dass die Einleitung der Besprechung nicht mit „Der Ich-Erzähler Paul ist Schriftsteller, Ende vierzig“ beginnt, denn das wäre für mich normalerweise ein klarer Indikator, dass mich diese Geschichte ganz sicherlich überhaupt nicht interessiert. Ich-Erzähler, Schriftsteller, Ende vierzig und dann auch noch Paul! Ich hab wegen der dringlichen Vorrede doch weitergelesen und finde das jetzt dann doch ganz interessant…

  3. Danke für diese Besprechung. „Infandum renovare dolorem“, sagte Aeneas, als er von dem zerstörten Troja zu erzählen begann. Und Troja war ja genau genommen auch kein Intelligenznest, sondern hat sich seinen Untergang redlich verdient. Das Ende ist mir aber nicht konstruktiv genug. Aeneas bereitete schließlich die Gründung Roms vor, und die Götter haben ihm keine Ruhe gelassen, bis er das gemacht hatte.

  4. Welch ein existenzieller Gegensatz der Befindlichkeit als Grundgefühl des Lebens! Ein Marcel Proust mit seiner Suche nach der verlorenen Zeit und Ihrem Autor. Eine behütete und geborgene Kindheit hat einen der schönsten Romane der Weltliteratur hervorgebracht mit einem Reflexionsvermögen größter Subtilität.(Madelaine) Der Schriftsteller (Dichter) lebte natürlicherweise hauptsächlich in der Vergangenheit.

  5. Also würden Sie sagen, eine Geschichte darüber, wie jemand seine Kindheit und Jugend doch noch hinter sich lässt, und seinen Eltern verzeiht? Ich meine, immerhin, manche werden in diesem Sinne nie erwachsen.
    Und dann ist da noch die Reflexion im Umgang mit dem Tod. Oder habe ich etwas wichtiges in der Rezension nicht verstanden? Mir scheint scheint, da wäre noch etwas mehr in dem Buch.

    1. Vor allem geht es darum, die Gespenster der Vergangenheit hinter sich zu lassen, um sein eigenes Leben zu leben. Etwas, das viele Menschen nicht schaffen.

    2. Gerne möchte ich den letzten Satz aus meiner Rezension hier einbringen, um noch eine andere Sichtweise aufzuzeigen. Gelesen habe auch ich das Buch aufgrund der schönen Besprechung des Kaffehaussitzers.

      „Vielleicht ist es das, was das Leben an den Rändern, das so viele Leserinnen und Leser in welcher Art auch immer betrifft, ausmacht. Dass alles so bleibt, wie es ist, unabhängig davon, wo man Zuflucht sucht.“

  6. So. Seit heute lese ich – auf diese deine Besprechung hin- das Buch, auf das ich warten mußte, bis es in der Leipziger Stadtbibliothek verfügbar wurde. Offenbar habe auch andere dein Lob wahrgenommen. :-)

  7. Danke für Deine Rezension, Uwe. Super geschrieben und hat mich sehr berührt. Hätte (wenn ich es denn genausogut koennte wie Du) auch ich schreiben können. Werde das Buch auf jeden Fall lesen! Liebe Grüße. Sandra

    1. Liebe Sandra,
      schön, auf diesem Weg von Dir zu hören. Es freut mich, dass Dir der Text gefallen hat und ich bin schon gespannt auf Deine Meinung zu diesem Buch.
      Alles Gute und viele Grüße
      Uwe

  8. Danke für diese Rezension (und gleich noch für das immer anregungsreiche Jahr auf deinem Blog), lieber Uwe. Das Buch hol ich mir, lebe ich doch selbst nach einigen Jahren in der Fremde nun wieder im Dorf, in dem ich aufgewachsen bin – mit Gedanken dazu, die ich noch nie so richtig an ein Ende führen konnte; vielleicht komme ich ja ein paar Schritte weiter beim Lesen dieses Buches.
    Viele Grüsse
    Gregor

  9. Lieber Uwe,

    eine Ruhelosigkeit, die belächelt wird und auf Unverständnis trifft, denn mit Eintritt des Erwachsenenalters sollte ein jeder wissen in welche Richtung sein Leben verlaufen soll. Sollte wissen, welcher Beruf, welcher Mensch, welcher Ort der/die/das Richtige ist. Weiter entwickeln wird kategorisch abgelehnt.
    Deine Worte haben mich berührt, denn ich kann sie gut nachvollziehen. Für manche der Erfahrungen fehlt mir noch ein bisschen Lebensweg, aber gerade das Gefühl der Suche ist mir sehr bekannt.
    Und ist es nicht großartig, wenn man dem Buch begegnet, das einen spiegelt, das aus der Seele spricht?
    Deine Rezension weckt in mir den Wunsch, das Buch lesen zu wollen. Vielen Dank für die Vorstellung.

    Viele liebe Grüße und eine besinnliche Weihnachtszeit.
    Nanni

    1. Liebe Nanni,
      vielen Dank für die netten Worte. Ja, Leben bedeutet Veränderung, Stillstand lässt das Leben enden. Kafka hat das so wunderbar formuliert: „Solange du nicht zu steigen aufhörst, hören die Stufen nicht auf, unter deinen steigenden Füßen wachsen sie aufwärts.“ Dieser Satz hat mich vor vielen Jahren getroffen wie eine Erleuchtung. Wo, wie und warum habe ich aufgeschrieben: https://kaffeehaussitzer.de/positiv-denken-mit-franz-kafka/
      Dir alles Gute.
      Liebe Grüße
      Uwe

    1. Freut mich, wenn ich eine Lesempfehlung geben konnte. Ich bin selbst nur zufällig in einer Buchhandlung über das Buch gestolpert, es hat mich neugierig gemacht und: Volltreffer. Deshalb liebe ich Buchläden…
      Viele Grüße, Uwe

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