Große Gefühle in Wisconsin

Shotgun Lovesongs

»Shotgun Lovesongs« von Nickolas Butler ist eine Geschichte über Freundschaft, Liebe, Vertrauen, Heimat und die Lebensentwürfe von fünf Freunden, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Große Gefühle in dem 1.500-Einwohner-Städtchen Little Wing in Wisconsin, einer amerikanischen Kleinstadt, die zu veröden beginnt, umgeben von Sojafeldern, Rinderweiden und Maisplantagen. Das ist das Zuhause von Henry, Beth, Ronny, Kip und Lee. Sie sind dort aufgewachsen und kennen sich schon ihr ganzes Leben.

Henry ist der Bodenständigste von ihnen. Er hat die schöne Beth geheiratet und die Farm seiner Eltern übernommen. Hier leben sie mit ihren zwei Kindern das harte Leben einer Farmerfamilie, oft nur knapp über dem Existenzminimum. Henry ist der Fels in der Brandung, er ruht in sich selbst. Aber bald wird etwas geschehen, das diese Ruhe brüchig werden lässt: »Wir glauben, die Welt sei ein fester, verlässlicher Ort; ein Ort, der unter unseren Füßen seine Bahnen durch das All zieht, Tag und Nacht, im Regen und Sonnenschein. Und dann, eines Tages, fällst du einfach von diesem Planeten herab und treibst davon, hinaus in den Weltraum. Die Schwerkraft ist fort.«

Beth ist mit Henry verheiratet. Ihr Leben wirkt auf sie manchmal vorbestimmt, dabei gab es Zeiten, in denen es alles andere als das war. Sie und Henry haben ein erfülltes und glückliches Familienleben, aber es gibt eine Kleinigkeit, die sie ihrem Mann nie erzählt hat.

Ronny hat die Schule abgebrochen, um als Rodeoreiter durch den mittleren Westen zu tingeln. Bis der Alkohol übermächtig wurde, er im Suff stürzte und sich eine Hirnblutung zuzog. Seitdem ist er nicht mehr der Alte, der ganze Ort sorgt sich um ihn, obwohl ihm diese Fürsorge manchmal wie ein Gefängnis vorkommt, aus dem er ausbrechen möchte.

Kip ist nach Chicago gegangen und hat als erfolgreicher Broker viel Geld gemacht. Er kommt mit seiner Frau – ebenfalls eine erfolgreiche Managerin – zurück nach Little Wing und restauriert die verfallene Futtermühle mit den riesigen, alles dominierenden Getreidesilos, um ein Geschäfts- und Veranstaltungszentrum daraus zu machen. Völlig überdimensioniert für den kleinen Ort, aber diese Mühle spielte eine wichtige Rolle im Leben der Freunde, als sie jung waren und Kip ist auf der Suche nach seinen Wurzeln.

Lee ist die schillerndste Gestalt von allen. Als mäßig erfolgreicher Musiker, halb gescheitert und unglücklich verliebt, spielte er in einem behelfsmäßig als Tonstudio eingerichteten alten Hühnerstall alleine das Album »Shotgun Lovesongs« ein – und hatte damit den Durchbruch. Jetzt ist er ein Rockstar, seine Platten verkaufen sich in riesigen Stückzahlen auf der ganzen Welt. Hin- und hergerissen zwischen der Welt des Glamour und Little Wing weiß er nicht, wo er hingehört. Henry ist sein bester Freund, ihn beneidet er oft um seine Bodenständigkeit.

Jedes Kapitel des Buches ist abwechselnd aus der Sichtweise von einem der Fünf geschrieben. Immer in der Ich-Form, was dem Leser den Eindruck gibt, unmittelbar am Geschehen teilzuhaben und dabei alle unterschiedlichen Sichtweisen zu verstehen. Und auch einige Sachen zu wissen, die besser ungesagt blieben. Rückblicke, Erinnerungen und die aktuelle Handlung vermischen sich zu einem großen Ganzen, die Handlungsstränge werden gekonnt miteinander verwoben. Die Story ist manchmal ein wenig vorhersehbar, aber niemals banal. Und alleine wegen der wunderbaren Sprache lohnt es sich, sie zu lesen. Leicht, quasi über den Weiten des mittleren Westens schwebend, doch immer auf eine angenehme Art tiefgründig. Am Ende des Buches hat man fünf neue Freunde gefunden und es ist schade, sie mit dem Zuklappen des Buchdeckels verlassen zu müssen.

Die Weite der Landschaft in Wisconsin spielt eine große Rolle in der Geschichte. Endlose Straßen, Wälder, Flüsse, Felder bis zum Horizont, ärmliche Farmhäuser, Scheunen, alte Traktoren, entschleunigtes Leben. »Ich fuhr durch Süd-Wisconsin, immer weiter in Richtung Norden. Die Espen erstrahlten in einem so tiefen Gelb, dass man tatsächlich meinen konnte, sie gäben einen Ton von sich, wenn sie von einem Sonnenstrahl getroffen wurden, einen unendlich hohen Ton, der so rein und klar war, dass ich nur schwer die Augen offen halten konnte; es war wie der Klang eines göttlichen Schwerts, das durch die Luft schnitt.«

Gerne werden die Red-Wing-Stiefel angezogen, bevor die Akteure ihre Häuser verlassen und in ihre Pick-ups steigen. Das gefällt mir besonders gut, denn auch meine Red-Wing-Stiefel liebe ich sehr, besonders im Winter. Unverwüstliches Farmer-Schuhwerk. Aber als Stadtmensch bin ich – ehrlich gesagt – trotzdem ganz froh, nicht irgendwo in Wisconsin zu leben. Doch durch das Buch habe ich angefangen, mir wieder mehr über den Begriff Heimat Gedanken zu machen. Mal sehen, was dabei herauskommt.

Red Wing Boots

Buchinformation
Nickolas Butler, Shotgun Lovesongs
Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel
Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98008-0

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