Ein schemenhafter Gruß

Thomas Asbridge: Der größte aller Ritter - Das Leben von Guillaume le Maréchal

Gemeinhin bezeichnen wir das Mittelalter als »finster«, zum einen, weil das Leben damals oft hart, kurz und entbehrungsreich war. Zum anderen aber auch, weil wir nicht viel darüber wissen. Aus alten Handschriften, Büchern, Aufzeichnungen oder durch die Arbeit der Archäologen lässt sich zwar einiges der damaligen Lebensverhältnisse rekonstruieren. Doch direkte Lebensbeschreibungen, also noch im Mittelalter verfasste Biographien, sind äußerst rar. Und genau das macht das Buch »Der größte aller Ritter« von Thomas Asbridge zu einem fulminanten Leseerlebnis und zu einer Reise mitten hinein in diese »finstere« Zeit. Wobei es interessant wäre, wie ein Mensch von damals wohl die heutige Weltlage beurteilen würde. Aber das ist ein anderes Thema.

Wer war »der größte aller Ritter«? Es ist die Lebensgeschichte Guillaume le Maréchals, aufgeschrieben im 13. Jahrhundert, die erste und wohl einzige bekannte Biographie eines Ritters, die während des Mittelalters niedergeschrieben wurde. Schon die Entdeckung der mittelalterlichen Handschrift, die das Leben Maréchals detailliert beschreibt, gleicht einem Krimi. Sie tauchte 1861 während einer Versteigerung bei Sotheby’s in London auf und wurde dort von dem französischen Mittelalterstudenten Paul Meyer entdeckt. Dieser war Abgesandter der Französichen Nationalbibliothek und sollte versuchen, mittelalterliche Dokumente bei dieser Versteigerung zu erwerben. Leider mit viel zu schmalem Budget, um gegen Sir Thomas Phillipps mithalten zu können, einem begeisterten, beinahe schon fanatischen Sammler historischer Dokumente. Dieser erwarb die Handschrift und sie verschwand in den Tiefen seiner umfangreichen, öffentlich nicht zugänglichen Privatbibliothek. Doch Paul Meyer vergaß sie nicht.

Als Phillipps im Jahr 1879 starb und seine riesige Bibliothek aufgelöst wurde, schlug Meyers Stunde, der inzwischen ein renommierter und angesehener Wissenschaftler war. Wie die Handschrift beinahe verloren ging, wie Meyer sie letztendlich in den Händen halten und für die Nachwelt auswerten konnte – das alles wird ausführlich in der Einleitung des Buches beschrieben. Das uns dann anschließend direkt in das England des Jahres 1152 katapultiert. Guillaume le Maréchal war damals fünf Jahre alt. »Über die ersten Jahre von Guillaume le Maréchal wissen wir nichts außer dem schlichten Faktum, dass er sie überlebt hat. In der Mitte des 12. Jahrhunderts war das durchaus keine Selbstverständlichkeit.« Er starb 72jährig im Jahr 1219.

Maréchal führte ein bemerkenswertes Leben: Vom ungeliebten Sohn eines unbedeutenden Landadligen, der ihn kaltblütig als Geisel bei einem Vertragsbruch fast geopfert hätte, brachte er es bis zu einem Earl und wurde eine der Stützen des englischen Königreiches. Dies hatte er – neben einer gehörigen Portion Glück – zwei Eigenschaften zu verdanken, seinem Kampfesmut und seiner Loyalität. Er muss ein begnadeter Kämpfer gewesen sein, der keiner Herausforderung aus dem Weg ging. Als junger Ritter schlug er sich eine Weile als Turnierkämpfer durch, ein Schicksal, das er mit vielen verarmten Adligen teilte. Dabei erfahren wir, dass der Begriff »Ritterlichkeit« damals etwas anders besetzt war und selbstverständlich auch das Denken an den eigenen Vorteil beinhaltete. Schließlich waren Turniere eine Möglichkeit, sich ein eigenes Vermögen zu erkämpfen, da der Besitz des Unterlegenen in den des Siegers überging. Man konnte dabei aber auch alles verlieren. Und irgendwann schaffte er es, in den Dienst der englischen Königsfamilie aufgenommen zu werden, natürlich vorerst am unteren Ende der Hof-Hierarchie. Doch alleine die verschlungenen Wege voller Zufälle bis dorthin lesen sich wie ein spannender Roman, von seinem weiteren Werdegang bis an die Spitze des englischen Adels ganz zu schweigen.

Maréchals Loyalität brachte ihm den Respekt auch seiner Gegner ein. In einer Zeit der Fehden, Revolten oder sogar Bürgerkriege wechselte er niemals die Seiten, blieb stets demjenigen ergeben, dem er Treue geschworen hatte. Mit Mut und Loyalität schaffte er es, sich und die Familie, die er gründete, einigermaßen sicher durch die Kämpfe dieser Epoche zu bringen. Denn gekämpft wurde eigentlich immer irgendwo.

In jener Zeit erstreckte sich das englische Reich auch über weite Teile des heutigen Frankreich. Der französische Regent wollte dies verständlicherweise ändern, französische Grafen verschworen sich gegen ihre englischen Lehnsherren, aber auch innerhalb der englischen Dynastie der Plantagenets gab es Aufstände, Komplotte und kriegerische Handlungen.

Eleonore von Aquitanien, Heinrich II., Richard Löwenherz, Johann Ohneland, viele berühmte Namen der Geschichte tauchen auf. Guillaume le Maréchal hat sie alle gekannt, hat für oder auch gegen sie gekämpft und gestritten, ist mit ihnen in den Krieg gezogen, hat seinen Besitz vermehrt, hat aber auch Jahre der Ungnade überstanden. Er ist wie ein fester Punkt in dieser wilden Zeit der englischen Geschichte; sogar an der Entstehung der Magna Carta, wohl des wichtigsten Verfassungsdokuments Englands, war er beteiligt: Maréchal ist einer der Unterzeichner. Wahrlich ein Leben, das sich ein Schriftsteller nicht spannender hätte ausdenken können.

Mit Guillaume le Maréchal als Fixpunkt entsteht ein lebendiges Bild des so fernen Mittelalters. Das in vielen Bereichen aber etwas unscharf bleibt. Emotionale Regungen lassen sich aus den alten Texten nicht herauslesen, Beweggründe für diese oder jene Handlung lassen sich nicht immer nachvollziehen, da keine direkten Quellen wie Briefe oder Tagebücher vorhanden sind. So bleibt bei aller Detailtreue vieles Spekulation.

Was man zudem nicht vergessen darf: Die Biographie beschreibt das Leben eines Adligen, eines Privilegierten, der in der gesellschaftlichen Schicht lebte, die ihm einen Aufstieg möglich machte. Die Menschen des einfachen Volkes, die leibeigenen Bauern, Tagelöhner, Mägde oder Knechte, sie tauchen nur als stumme Statisten am Rande auf. Wenn wieder eines ihrer Dörfer niedergebrannt wurde, sie wieder zwischen die Fronten der immerwährenden Machtkämpfe gerieten und den ständigen Hunger nach Land und Macht der Herrschenden mit ihrem Leben bezahlen mussten. Ihr Dulden und Leiden bleibt lediglich erahnbar.

Aber dennoch gibt uns das Buch einen grandiosen Einblick in eine ferne Welt. Eine Welt, die pötzlich nah wirkt, fremd und vertraut zugleich. Denn auch wenn viele Gepflogenheiten der damaligen Zeit eigentümlich auf uns wirken mögen, so haben sich die Triebfedern menschlichen Handelns nicht verändert.

Eine Statue Maréchals ist im House of Lords in London zu sehen. Sein Name war schon immer bekannt gewesen, aber erst die vor 150 Jahren gefundene Handschrift mit seiner Biographie hat uns verraten, welches unglaubliche Leben dahinter verborgen war. »Der Text fügte plötzlich den Knochen dieses längst vergessenen Mannes Fleisch hinzu. Er beschreibt Maréchals Weg von relativ bescheidenen Anfängen durch den Prunk ritterlicher Turniere und die brutale Realität des Kriegs bis hin zu den reichen Königshöfen Europas. Der Text folgt ihm auf seinen Reisen duch die mittelalterliche Welt – von seinem Geburtsort in England bis zum Fuß der Pyrenäen und ins ferne Heilige Land -, und er zeichnet seinen Aufstieg zum Ruhm und die Gründung der Maréchal-Dynastie nach.« Die bald wieder in den Wirren der Geschichte verschwinden sollte.

Am Ende dieses Buches wirkt es beinahe so, als wolle uns Guillaume le Maréchal noch einmal zuwinken, wie ein schemenhafter Gruß aus einer längst vergangenen Zeit.

Buchinformation
Thomas Asbridge, Der größte aller Ritter
Aus dem Englischen von Susanne Held
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-94923-0

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6 Antworten auf „Ein schemenhafter Gruß“

  1. Was für eine Rezension!
    Ich habe schon seit Jahren keinen historischen Roman mehr gelesen, aber jetzt gerade wünschte ich, in die Buchhandlung gehen und dieses Buch kaufen zu können. Schade drum.

    1. Es ist keine Autobiographie, sondern eine Aufzeichnung, die sein Leben beschreibt, aber wohl nach seinem Tod entstanden ist. Asbridge benutzt diese Quelle eines unbekannten Chronisten, um das Leben Maréchals nachzuerzählen. In eigenen Worten.

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