Wer ist ein Held?

Nickolas Butler: Die Herzen der Maenner

Vor ein paar Jahren hatte mich das Buch »Shotgun Lovesongs« von Nickolas Butler sehr begeistert. Umso gespannter war ich auf seinen nächsten Roman »Die Herzen der Männer« und als ich erfuhr, dass Butler dieses Buch im Literaturhaus Köln vorstellen würde, war klar, dass ich mir das auf keinen Fall entgehen lassen konnte. Das ist inzwischen einige Monate her und dieser Text hätte schon längst geschrieben sein sollen, aber einen solch wunderbaren Abend mit einem sympathischen Autor vergisst man nicht. 

In der Straßenbahn auf dem Weg zum Literaturhaus habe ich mit »Die Herzen der Männer« begonnen; fast hätte ich die Haltestelle verpasst, da schon die ersten Seiten einen Sog entwickelten, der mich als Leser direkt in die Geschichte hineingezogen hat. Einen herzzerreißenden Sog, denn wir lernen Nelson kennen, einen dreizehnjährigen Jungen im Zeltlager der Boy Scouts, einen Außenseiter, einer, der keine Freunde findet und die Schilderung seiner Einsamkeit tut in der Seele weh. Wir befinden uns im Jahr 1962.

Um das Buch zu verstehen, muss man wissen, was es mit den Boy Scouts auf sich hat. Sie mit den europäischen Pfadfinder-Bewegungen zu vergleichen, trifft zu kurz. Zwar stehen bei den Boy Scouts ebenfalls Naturerlebnisse und das Gemeinschaftsgefühl im Vordergrund, ebenso wichtig ist aber auch ein militärischer Drill, eine strenge Hierarchie und das Erlernen von Überlebenstechniken in der Wildnis. Ein mehrwöchiger Aufenthalt in einem Sommercamp gehört seit Jahrzehnten zum festen Jahresablauf von Millionen Kindern und Jugendlichen, denn die Boy Souts sind stark verwurzelt in der gesellschaftlichen Mittelschicht der USA und haben dort eine immense Bedeutung. Eine Bedeutung, die in unserer Zeit allerdings zunehmend zurückgeht. Nickolas Butler erläuterte die Idee dahinter, als er erklärte, dass durch die Boy Scouts exzellente Soldaten und durchsetzungsfähige Businessmenschen herangezogen werden sollen. Er selbst war von sieben bis 17 selbst ein Boy Scout, weiß also sehr genau, über was er schreibt – auch wenn aus ihm eher kein erfolgreicher Businesstyp geworden ist, sondern jemand, der sich als Kaffeeröster, Kneipenbesitzer oder Hausmeister bei BurgerKing versucht hat, bevor ihm der Durchbruch als Schriftsteller gelang.

Zurück zur Geschichte, zurück zum einsamen Nelson, der als Außenseiter am Sommercamp teilnimmt und seine Isolation dadurch wettmachen möchte, dass er Jahr für Jahr möglichst viel Abzeichen sammelt und Aufgaben erfüllt, um so seinen Platz in der Hierarchie der Boy Souts zu finden. Und sich dadurch als Streber weiter isoliert. Es ist ein Teufelskreis. Nelson ist ein introvertierter, zurückhaltender Junge, dessen Schüchternheit und Einsamkeit seinen Vater zur Weißglut bringen, der wiederum seiner Enttäuschung über den Außenseiter-Sohn Schläge folgen lässt. Dies alles erfahren die Leser gleich auf den ersten Seiten; Nickolas Butler entwirft mit wenigen Sätzen ein Familienleben, das den Schein nach außen wahrt, aber nach innen vollkommen zerrüttet ist. Auch Jonathan hat dort seinen ersten Auftritt, ein Nachbarsjunge, ein Sunnyboy – mit dem sich Nelson tatsächlich anzufreunden beginnt. Selbstverständlich ist Jonathan ebenfalls ein Boy Sout.

Butler hat drei Erzählebenen in seinen Roman eingezogen: Vordergründig geht es um die beiden Leben von Nelson und Jonathan. Um die über mehr als fünf Jahrzehnte erzählte Geschichte ihrer Freundschaft, um das Verschwinden von Vätern, das Scheitern von Beziehungen und Auseinanderbrechen von Familien, um Verlust und Trauer. Einer der beiden Jungs wird als Erwachsener zum traumatisierten Eigenbrötler, der andere zum zynischen Versager mit Playboy-Allüren. Und über allem steht die Frage, was Freundschaft eigentlich bedeutet. Oder ob sie manchmal nur in unserer Einbildung existiert. Am Abend im Literaturhaus gab Nickolas Butler keine eindeutige Antwort darauf: »Nelson und Jonathan kennen sich fast 60 Jahre lang. Aber verbindet sie eine Freundschaft? Das lässt sich nicht einfach mit ja oder nein beantworten, das gemeinsam verbrachte Leben ist bei aller Unterschiedlichkeit aber auf jeden Fall eine starke Verbindung.«

Die zweite Erzählebene ist die Geschichte der abwesenden Väter. Väter gehen rund um die Uhr arbeiten. Väter verschwinden – in den USA wird jede zweite Ehe geschieden. Väter ziehen in Kriege, in die ihr Land sie schickt. Nickolas Butler berichtet an diesem Abend viel von seiner eigenen Familiengeschichte: Sein Urgroßvater starb in einer Kohlenmine, sein Großvater wuchs ohne Vater auf. Der Großvater war während und nach dem Zweiten Weltkrieg Seemann in der Handelsmarine und nie zu Hause, sein Vater wuchs ohne Vater auf. Und sein Vater selbst entpuppte sich als gewalttätiger, trinkender Familientyrann; als Nickolas Butler 17 war, ließ seine Mutter sich scheiden. Wie prägt die permanente Abwesenheit der Väter das Aufwachsen der Söhne, die dann irgendwann selbst zu Vätern werden?

Und in der dritten Erzählebene des Romans geht es um die Folgen der Kriege, die Amerika führte und führt – Zweiter Weltkrieg, Korea, Vietnam, Afghanistan, Irak. Was geschah dort in den letzten Jahrzehnten mit den Männern, was machte das mit ihnen? Und was gaben sie an ihre Söhne weiter, wie wurde daraus eine toxische Form der Männlichkeit geformt, kriegerisch, brutal und gewalttätig? Und dann kommen wieder die Boy Scouts ins Spiel, die all dies transportieren und trainieren. Hat vielleicht in den Männlichkeitsidealen der Rückzug in die Natur deshalb einen so hohen Stellenwert, um dort die seelischen und körperlichen Narben zu pflegen? Darüber sprach Nickolas Butler ebenfalls sehr ausführlich, spielt doch die Natur eine wichtige Rolle in seinen Romanen. So wie das Boy Scouts-Camp der zentrale Ort der Handlung von »Die Herzen der Männer« ist, denn hier beginnt die Geschichte, hier laufen die Erzählebenen zusammen und hier endet alles.

Viele Fragen werden in »Die Herzen der Männer« gestellt. Und viele davon lässt der Autor offen, doch bei einer Frage gibt es für ihn eine ganz klare Antwort. Denn die geschilderte Form der Männlichkeit läuft darauf hinaus, sich auf rabiate Weise durchzusetzen, zu siegen, zum Held zu werden. Und der Begriff des Helden ist seit Jahrhunderten, seit Jahrtausenden mit gewaltsamer Auseinandersetzung verbunden. Doch kann man nur im Krieg zum Held werden? Und was genau ist eigentlich ein Held? Nickolas Butler erzählte von der Scheidung seiner Eltern und wie ihm danach klar geworden ist, dass seine Mutter jahrelang einen schlagenden Trinker als Ehemann ertragen hat, nur um ihrem Sohn einen Vater zu ermöglichen. Für ihn sind solche Frauen wie seine Mutter Helden. Echte Helden. Ganz trocken blieben seine Augen nicht, als er das sagte.

Die Männer in seinem Buch sind kalt, hartherzig, grausam, sind Betrüger, Ehebrecher und Schlimmeres; Nickolas Buttler wollte Männer in all ihrer Ambivalenz schildern. Aber er hofft, so sagt er an jenem Literaturhausabend, dass sich das Männerbild mit jeder Generation ein kleines Stückchen weit verändert, verbessert – denn die Männer jeder Generation sind auch Gefangene der jeweiligen Zeit und ihrer Konventionen. 1962, zu Beginn des Buches, hatten Männer eine andere Sensibilität als die jüngsten der Protagonisten des Romans, der bis in unsere Zeit hineinreicht. Und irgendwann kann der Kreislauf der Väter-Abwesenheit oder der gewalttätigen Stärke vielleicht durchbrochen werden, kann sich die Definition von Männlichkeit verändern – so hofft Butler und formuliert das in seinem Roman so:

»Das Einzige, was du tun kannst, ist, zu versuchen, selbst ein besserer Mensch zu werden, verstehst du? Du benutzt solche Momente wie diesen hier, um daraus zu lernen. Du denkst dir so etwas wie: ›Das ist nicht die Art von Vater, die ich selbst einmal sein möchte. Das ist nicht die Art von Ehemann, die ich sein möchte.‹ Und das behältst du dann in deinem Innern, wie eine Erinnerung, aber wichtiger, größer. Du machst es zu einem Verhaltenskodex.«

Bei alldem ist das Buch nicht nur als rein männerspezifische Parabel zu sehen, so Butler. Denn jeder Mensch macht Fehler, jeder hat anderen Menschen weh getan. Wichtig ist dabei, wie man damit umgeht, was man daraus lernt, wie man sein Verhalten verändert.

Es war ein sehr intensiver Abend im Literaturhaus. Nach einer Signierrunde konnte ich mich persönlich von Nickolas Butler verabschieden, noch ein paar Worte mit ihm wechseln. Sein Buch regt zum Nachdenken an, viele Gedanken über Vater-Sohn-Beziehungen, über angelernte Verhaltensweisen, über den Zustand unserer Gesellschaft und natürlich über die Vorstellung von Männlichkeit kreisen danach im Kopf.

Denn eine bessere Welt ist möglich – wenn wir es wollen. Und vielleicht trägt Nickolas Butler mit seinem großartigen, traurigen und einfühlsamen Roman »Die Herzen der Männer« ein kleines Stück dazu bei. In unserer Zeit der Rückkehr Ewiggestriger sind Bücher wie dieses wichtiger denn je. Die Lektüre jedenfalls kann ich jedem und jeder nur empfehlen, sie lohnt sich sehr. Ebenso empfehlen möchte ich die Buchbesprechung von Brigitte von Freyberg im Blog Feiner reiner Buchstoff, die sich intensiv mit dem Roman und dessen Botschaft auseinandersetzt.

Buchinformation
Nickolas Butler, Die Herzen der Männer
Aus dem Amerikanischen von Dorothee Merkel
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-98313-5

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7 Antworten auf „Wer ist ein Held?“

  1. Lieber Uwe, auch mich hat das Buch sehr eingenommen. Auch ich habe Shotgun Lovesongs aufgesaugt und sehr gerne gelesen. Aber das hier ist echt eine andere Liga. Wenn Du die Kurzgeschichten von Butler noch nicht gelesen haben solltest, dann die heiße Empfehlung von mir. Unterm Lagerfeuer – auch bei Klett – Cotta erschienen. Aber kurz noch zu den Männerherzen. Der Hintergrund zu den Boy Scouts fehlte mir zwar, dennoch hatte ich nicht das Gefühl, etwas nicht zu vestehen. Denn die Männergessellschaft funktioniert sehr häufig so, wie Butler das beschreibt. Das ist leider nicht unbedingt außergewöhnlch. Und ja, er zeigt alle Facetten, aber eben das ist so faszinierend. Denn er zeigt ja auch, was für wahre männliche Eigenschaften es auch gibt: Rücksichtnahme, Stärke und Güte. Wenn Du magst, guck mal hier: https://feinerbuchstoff.wordpress.com/2018/04/09/staerke-ruecksichtnahme-und-guete-der-stoff-aus-dem-wahre-maenner-gemacht-sind/ Liebe Grüße, Bri

    1. Liebe Bri,

      vielen Dank für Deinen Kommentar und für den Link zu Deiner Besprechung – die mich sehr begeistert hat. Wir haben da bei demselben Buch unterschiedliche Aspekte herausgearbeitet, die sich – wie ich finde – perfekt ergänzen.

      Liebe Grüße
      Uwe

      1. Ja, so kam es mir auch vor, als ich Deine Besprechung las. Beide zusammen vermögen sie vielleicht all das zu greifen, was Butler so genial in diesem Buch eingefangen hat. Danke für das Lob, das ich nur zurückgeben kann. Liebe Grüße. Bro

  2. Klingt interessant, danke. Kleiner Tipp: Es gibt zu dieser Thematik ein gutes Fachbuch namens „Der ferne Vater. Zur Psychoanalyse von Vatererfahrung, männlicher Entwicklung und negativem Ödipuskomplex“ von Josef Christian Aigner, das sich zur weiteren Lektüre lohnt.
    LG,
    Anton

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