Anfang Februar saß ich an einem Samstagnachmittag am Küchentisch und las in der ZEIT Burkhard Müllers mitreißende Besprechung des Romans »Die Mauer« von John Lanchester. Direkt danach stand ich auf, zog mir die Jacke an, ging ein paar Straßen weiter zu einer der Buchhandlungen meines Vertrauens, kaufte das Buch, kehrte an den Küchentisch zurück und las es durch. Und war beeindruckt von dem düsteren Stimmungsbild, das John Lanchester geschaffen hatte; ein dystopisches Szenario, das in einer nicht weit entfernten Zukunft spielt. Wobei »nicht weit entfernt« etwas vage klingt. Denn eigentlich sind es nur ein paar Schritte, die uns von dieser Zukunft trennen mögen.
»Es ist kalt auf der Mauer.« In der ewigen Hitliste der besten Buchanfänge ist John Lanchester mit diesem Satz ganz weit oben eingestiegen. Ich muss ihn noch einmal schreiben, denn er führt mitten hinein in die Geschichte und nimmt die gesamte Stimmung des Romans vorweg: »Es ist kalt auf der Mauer.«
»Die Mauer« ist wörtlich gemeint, sie ist eine hohe Befestigungsanlage, die rings um die britische Insel verläuft. Es gibt keine Strände mehr, keine weiten Blicke über das Meer, nur noch diese Mauer. Denn das Meer ist zur Bedrohung geworden. In jener nahen Zukunft des Romans hat der Klimawandel das Leben auf der Erde endgültig aus der Bahn geworfen. Ganze Küstenabschnitte Afrikas und Asiens sind versunken, Hitze und Dürre haben halbe Kontinente unbewohnbar gemacht. Millionen und Abermillionen Menschen sind auf der Flucht. Die Ereignisse werden als »der Wandel« bezeichnet.
Die westlichen Industrienationen sind nur noch ein Schatten ihrer selbst und haben die Grenzen komplett abgeriegelt – in England geschieht dies durch die Mauer. Sie dient der Abwehr der Flüchtlingsboote, sofern diese nicht bereits weit draußen auf dem Meer von der Küstenwache versenkt werden. Gleichzeitig haben sich die Flüchtenden bewaffnet und versuchen, gewaltsam die Mauer zu überwinden – auf der Suche nach einem neuen Platz für ihr Leben und das ihrer Familien. Eine Völkerwanderung hat eingesetzt, die auch das Leben in England veränderte. Die Insel ist zu einer Festung geworden. Zu einem Staat mit totalitären Strukturen und jeder junge Brite – egal ob männlich oder weiblich – ist verpflichtet, zwei Jahre Wachdienst auf der Mauer abzuleisten.
»Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer. … Die Kälte hier ist mit keiner anderen Kälte vergleichbar. Sie durchdringt alles, als sei sie eine ständige materielle Eigenschaft dieses Ortes. Die Kälte ist eines seiner grundlegendsten Merkmale, sie wohnt ihm inne. Sie schlägt dir als gebündeltes Ganzes entgegen, wenn du das erste Mal zur Mauer kommst, am ersten Tag deines Einsatzes. Du weißt, dass du zwei Jahre dort sein wirst.«
Dies sind die Gedanken von Joseph Kavanagh und ihn begleiten wir von seinem ersten Tag auf der Mauer an. Treffen mit ihm dort im Dunkeln ein, erleben mit ihm die unglaubliche Fremdheit dieses unwirtlichen Ortes, lernen die anderen Mitglieder seiner Einheit kennen, allesamt mürrisch und wortkarg, so dick in wärmespendende Ausrüstung eingepackt, dass man nicht zu erkennen vermag, ob es sich um Männer oder Frauen handelt. Stehen mit ihm die erste seiner zahllosen Zwölf-Stunden-Schichten Wache und starren auf das Meer hinaus. Meer, Beton, Kälte und unendlich viel ereignislose Zeit: Das ist der Dienst auf der Mauer. Der jederzeit lebensgefährlich werden kann, denn täglich, sogar stündlich ist mit Angriffen der Verzweifelten zu rechnen – jene, die von den Einwohnern Englands nur »die Anderen« genannt werden.
Es ist ein weltweiter Überlebenskampf, der von den Regierenden dazu genutzt wird, mit Hilfe eines Feindbilds die Wahrnehmung der eigenen Bürger zu ändern und deren Grundrechte zu beschneiden. So entsteht in den ersten Kapiteln die klaustrophobische Stimmung eines Lands im Belagerungszustand, »die Anderen« sind irgendwo da draußen, sie sind die Bedrohung, das Fremde, das es abzuwehren gilt. Sich darüber Gedanken zu machen ist unerwünscht, die Vorschriften sind streng und der Dienst anstrengend. Und nicht jeder überlebt die zwei Jahre.
Doch wie konnte es überhaupt so weit kommen?
In dem an starken Szenen reichen Buch sticht diejenige besonders heraus, in der Joseph Kavanagh auf Heimaturlaub bei seinen Eltern ist, die ihm schon vor seinem Dienst fremd geworden sind. Jetzt aber merkt er, wie sehr er mit ihnen und ihrer gesamten Generation eine Rechnung offen hat.
»Keiner von uns kann mit seinen Eltern reden. Und mit uns meine ich meine eigene Generation, diejenigen die nach dem Wandel geboren wurden. … Die Diagnose ist nicht schwer – sie ist nicht einmal kontrovers. Sie lautet: Schuld. Die Schuld von Massen. Die Schuld von Generationen. Die Alten haben das Gefühl, die Welt unwiederbringlich vor die Wand gefahren und es dann zugelassen zu haben, dass wir in sie hineingeboren wurden. Und was soll ich dir sagen: Genau so ist es. Das ist genau das, was sie getan haben. Sie wissen es, wir wissen es. Alle wissen es.«
Diese Schuld hat flächendeckend die Beziehung zwischen Eltern und Kindern zerstört – denn was können Eltern ihren Kindern noch für das Leben mitgeben, nachdem sie zugelassen haben, dass die Welt wurde, wie sie ist? Dass sie mit ihrem Verhalten ihre Kinder auf die Mauer geschickt haben, um andere Menschen zu töten? Oder von jenen getötet zu werden.
Bei vielen Dystopien spürt man bei der Lektüre ein wohliges Grauen, nicht so bei diesem Roman. Hier ist nichts wohlig, es läuft einem kalt den Rücken hinunter, spätestens an dieser Stelle. Denn jene Elterngeneration, das sind wir. Und unsere Welt ist auf direktem Weg unterwegs in Richtung Wand. Mit Vollgas.
Zwei Personen werden auf der Mauer für Joseph Kavanagh eine wichtige Rolle spielen. Das ist zum einen Hifa, eine Kameradin, in die er sich verliebt. Sie werden zum Paar, was von offizieller Seite gerne gesehen ist, denn es mangelt an Nachwuchs und damit an Rekruten. Doch aus einem anfänglichen Flirt wird eine schicksalhafte Verbindung, aber das kann Joseph zu Beginn seiner Dienstzeit nicht wissen.
Und da ist der Kommandeur seiner Einheit, der keinen anderen Namen trägt als »der Hauptmann«. Einst war er selbst einer »der Anderen« und hatte es ins Land geschafft, bevor die Gesetze so radikal und tödlich verändert wurden. Vielleicht ist er deshalb einer der fanatischsten Verteidiger der Mauer geworden. Jener Hauptmann ist der andere Mensch, der Josephs Leben eine entscheidende Wendung geben wird. Aus einem Grund, der ein wichtiges Detail der Dienstvorschriften ist. Ein Detail, das ich hier nicht nennen möchte, das aber Joseph Kavanghs Existenz von Grund auf verändern wird.
Und seine komplette Sichtweise auf eine völlig aus den Fugen geratene Welt.
Es gibt noch viele weitere Aspekte und Details dieses großartigen Romans, die ich gerne hier wiedergäbe. Aber das würde nicht nur den Rahmen sprengen, sondern vor allem auch zu viel verraten. Daher nur noch drei letzte Wörter dazu: Lest. Dieses. Buch.
Weitere Leseeindrücke und Buchbesprechungen gibt es in den Blogs Bleisatz, Feiner reiner Buchstoff und KeJas Blogbuch.
Buchinformation
John Lanchester, Die Mauer
Aus dem Englischen von Dorothee Merkel
Verlag Klett-Cotta
ISBN 978-3-608-96391-5
#SupportYourLocalBookstore
Dieses Buch scheint gerade überall zu sein. Vielen Dank für deine Rezension! Jetzt bin ich richtig gespannt darauf, sieht mir nach Pflichtlektüre aus.
Man könnte meinen, Du hättest Dich mit meiner Mittäterin auf dem Feinen Buchstoff abgesprochen – da ist heut die Besprechung, die ebenso begeistert ist wie Deine – erschienen. Schön, jetzt packt ihr mir schon zu zweit Bücher auf meine Wunschliste … na immerhin ist es dann nur eines ;) LG, Bri
„Die Mauer“ ist nicht die Art Buch die ich sonst lese. Sein Bericht darüber hat mich neugierig gemacht und so habe ich mir erst einmal eine Leseprobe runter geladen. Ich bin hin- und hergerissen, zwischen „warten das was passiert“ , „langweilig“ und “ neugierig, warum hat es sich so angesprochen? „. Vielen Dank fürs aufmerksam machen, es ist auf meiner Wunschliste gelandet.
Dann bin ich ja mal sehr gespannt, ob und wie es Dir gefällt.
Das. Macht. Appetit. Danke.