Zur anderen Seite der Welt

Antonin Varenne: Aequator

Im Roman »Äquator« erzählt Antonin Varenne die Geschichte eines Mannes auf der Flucht vor sich selbst: Pete Ferguson ist ein Getriebener, ein steckbrieflich Gesuchter, der sich im Nebraska des Jahres 1871 auf den Weg in Richtung Äquator macht. Denn dort im tropischen Nirgendwo, so glaubt er, wird er sein Leben neu beginnen können. Varenne hat bereits mit »Die sieben Leben des Arthur Bowman« den Abenteuerroman stilistisch in unsere Zeit geholt. Mit »Äquator« gelingt ihm dies erneut.

Pete Fergusons Leben ist ein Trümmerhaufen, geprägt von Unrast, Gewalt und Schuld. Aufgewachsen bei einem prügelnden Vater flohen er und sein jüngerer Bruder von der elterlichen Farm, um sich zu Beginn des Bürgerkriegs der Nordstaaten-Armee anzuschließen. Es folgten Desertion, erneute Flucht. Und ein paar ruhige Jahre auf der Bowman-Ranch, deren Besitzer Arthur Bowman – ein in die Jahre gekommener Mann – sie aufnimmt. Hier schimmert der vorherige Roman durch die Handlung, doch ansonsten sind die beiden Bücher nicht miteinander verbunden. Als Pete sich dann aber mit einem der wichtigen Männer der nahen Stadt anlegt und nach einer Schießerei ein blutiger Körper auf dem Boden liegt, muss er die Gegend verlassen, seinen brüchigen Frieden aufgeben und verschwinden. Zu einem Namenlosen werden, untertauchen. Bei einem Trupp Bisonjäger findet er Unterschlupf, arbeitet zwischen Blut und Kadavern.

»Immer eine Waffe in der Hand haben, töten, um zu leben, tagelang die Hände in Fleisch tauchen, die Überlebenden eines Bürgerkriegs sein, keine Familie und kein Heim haben – das alles machte aus den Bisonjägern schweigsame Männer, denen im Wind der Plains die Tränen die Wangen hinabliefen, heimgesucht von bösen Erinnerungen.«

Das alles erfahren wir Leser auf den ersten Seiten des Romans. Der Autor zeigt ein Land, das nichts mit dem mythischen Freiheitsversprechen der USA zu tun hat, in dem es nicht um unbegrenzte Möglichkeiten geht. Sondern um das Gesetz des Stärkeren, um brutalen Kolonialismus und das Entstehen verkrusteter Strukturen. »Es hatte so was schon gegeben, dass Städte einfach aus dem Nichts entstanden, und es war bekannt, das der Erste, der einen Saloon aufmachte, als Bürgermeister endete, der Erste, der einen Zaun baute, Senator wurde, und der Erste, der einen Hammer verkaufte, am Ende ganze Straßen sein Eigen nannte.« Und immer mit dem Colt in Reichweite. 

Trotz endloser Horizonte gibt es hier keinen Platz für Pete Ferguson. »Die Bisons verschwanden. Die Indianer verschwanden. Die Komantscheros verschwanden. Felle und Skalps. Eine Nation von Ausweidern.«

Als ihn die Gewalt wieder einholt, macht er sich auf den Weg in Richtung Süden, in Richtung Äquator. Es ist ein Traum, dem er hinterherjagt: Er überschreitet eine Linie und ist auf der anderen Seite der Erde. Und vielleicht wird dort tatsächlich alles anders sein. Vielleicht findet er dort sein Leben. Blutend und angeschossen überquert er den Grenzfluss und betritt Mexiko. Damit beginnt eine Reise zu Pferd, per Kutsche, zu Fuß und zu Schiff. Eine Reise, die ihn an seine Grenzen bringen wird. Und weit, sehr weit darüber hinaus. 

»Die unermessliche Größe der Welt machte seine Flucht zu etwas Endlosem, und es gab nicht genug zu erlernende Worte, um das ausdrücken zu können.«

In Guatemala führt sie ihn zwischen die Fronten einer Revolution; es ist ein zentraler Teil der Romanhandlung, der Fergusons Weg auf unvorhergesehene Weise verändern wird. Und ihn tief hinein in die Berge führt, in den nebelverhangenen, vor Feuchtigkeit triefenden Urwald. Der Moment, als er in diesem Urwald vor einer riesigen, vollkommen überwucherten Pyramide steht, letztes Zeugnis einer längst verschwundenen Hochkultur, gehört zu den stärksten Szenen des Buches. 

»Er begriff, dass die ganze Ebene ein Ruinenfeld war, eine ehemalige Stadt, von den knotigen Armen der Wurzeln umschlungen und unter ihnen begraben … Es war eine vergangene und tote Welt, die außer den Xincas aus dem Dorf vielleicht seit Jahrhunderten niemand mehr besucht hatte.«

Die Vergänglichkeit des Lebens und die Vergeblichkeit menschlichen Strebens sind in diesem Moment überwältigend. Schon jetzt, noch lange nicht am Ziel, ist Pete Ferguson längst nicht mehr der Mensch, als der er aufgebrochen ist. Und dabei stehen im die wahrhaft existentiellen Fragen noch bevor, denn der Zeitpunkt, an dem er hätte umkehren können, ist längst überschritten. Aber das weiß er noch nicht. 

Die »Heldenreise« ist ein klassisches literarisches Motiv. Es sind Erzählungen über das Unterwegssein, über Rastlosigkeit, über das Getriebensein, oft verbunden mit der Frage, ob man vor sich selbst oder vor seiner Schuld davonlaufen kann – so, wie Pete Ferguson es versucht. Und es sind Erzählungen darüber, wie sich eine Persönlichkeit durch dieses Unterwegssein verändert; sich verändern muss, um zu überleben. Es gibt unzählige Varianten – und ich werde als Leser nie genug davon bekommen, denn Veränderung ist die Essenz des Lebens.

Was hat mich an diesem Buch so begeistert? Es ist die außergewöhnliche Gestaltung von Setting, Handlung und Atmosphäre: Die Elemente eines Abenteuerromans verbinden sich mit illusionslosen Zustandsbeschreibungen der Welt; dazu die Schilderung einer verzweifelten Lebensreise durch das Mittelamerika des 19. Jahrhunderts und natürlich eine markante Sprache – sehr gelungen übersetzt von Michaela Meßner. Diese Mischung lässt »Äquator« zu einer ganz besonderen Lektüre werden.

Buchinformation
Antonin Varenne, Äquator
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
C. Bertelsmann Verlag
ISBN 978-3-570-10340-1

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3 Antworten auf „Zur anderen Seite der Welt“

    1. Das ist mir auch ein Rätsel. Er bleibt – zumindest bei uns – tatsächlich leider etwas unter dem Radar, obwohl seine Bücher alles haben, was großartige Literatur ausmacht.

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