Überleben, irgendwie

Jeanine Cummins: American Dirt

An einem frühen Sonntagnachmittag habe ich den Roman »American Dirt« von Jeanine Cummins zu Ende gelesen. Danach konnte ich mit dem Rest des Tages nichts mehr anfangen, musste mich bewegen und sehr lange durch die Straßen meines Stadtteils laufen. Die Gedanken kreisten pausenlos um das Gelesene. Dabei war ich lediglich auf der Suche nach etwas nervenkitzelnder Unterhaltung, als ich »American Dirt« in der Buchhandlung liegen sah. Gutes Cover, neugierig machender Klappentext – das Versprechen für ein, zwei spannende Lesetage. Und dann bin ich in eine Geschichte hineingestolpert, die mich gepackt, zutiefst berührt und nicht mehr losgelassen hat. Für mich war das Buch ein absoluter Zufallsfund; vielleicht hätte ich es anders gelesen, wenn mir bewusst gewesen wäre, welch erbitterte Debatte durch diesen Roman in den USA losgetreten wurde. Aber die Nachrichten darüber sind komplett an mir vorbeigegangen. Mehr dazu am Ende des Beitrags.

Das Buch beginnt dramatisch. Bei dem Überfall auf eine nachmittägliche Gartenparty wird eine ganze Familie erschossen; sechzehn Personen liegen tot im Gras und auf der Terrasse. Großeltern, Eltern und Kinder. Nur Lydia und ihr achtjähriger Sohn Luca überleben durch einen Zufall. Und sind von diesem Moment an auf der Flucht, denn die Killer wurden von Javier Crespo Fuentes geschickt, mit dem Auftrag, niemanden am Leben zu lassen. Fuentes beherrscht mit seinem Drogenkartell die mexikanische Stadt Acapulco, Lydias Heimatstadt, in der sie einen kleinen Buchladen betreibt und bisher mit ihrem Mann Sebastián ein relativ ruhiges Leben führte – so gut das in einer Stadt mit einer der höchsten Mordraten weltweit möglich ist. 

Warum die Killer auf die Familie angesetzt wurden, was es mit dem Kartellboss auf sich hat und wie das Leben Lydias und ihrer Familie vor dem Mordanschlag aussah – all das erfahren wir erst nach und nach. Eine gute Erzähltaktik, denn wir Leser müssen uns sofort auf Lydia und Luca einlassen, können uns noch keine Meinung über sie bilden, haben keine Wahl, als sie sofort zu begleiten. Dadurch startet die Autorin mit einem hohen Erzähltempo, das perfekt passt: Denn auch Lydia hat keine Zeit zum Überlegen, muss blitzschnell Entscheidungen treffen, erst einmal untertauchen und versuchen unerkannt aus Acapulco herauszukommen.

Doch wohin? Mexiko ist für sie nicht sicher; die Kartelle kontrollieren die Städte und ganze Landstriche, korrupte Polizisten unterstützen sie oftmals dabei. Es gibt nur einen Ausweg: Nach el norte, in den Norden, in die USA. Irgendwie. Lydia und Luca verschwinden zwischen den vielen Menschen, die sich in Richtung Norden bewegen, die aus sämtlichen Staaten Mittelamerikas kommend Mexiko durchqueren. Auf der Flucht vor Gewalt, vor Armut und Perspektivlosigkeit, auf der Suche nach einem besseren Leben. Flüchtlinge. Migrantes. 

»American Dirt« beginnt wie ein knallharter Thriller. Und auch wenn der Spannungsbogen der Verfolgung stets erhalten bleibt, so ändert sich die Handlung und wird zu einer Geschichte über Flucht und Migration. Indem Lydia und Luca immer tiefer in der Masse der Flüchtlinge untertauchen, bleiben diese Menschen nicht anonym. Sie lernen Männer und Frauen aus Honduras oder San Salvador kennen, werden mit ihnen zu einer Schicksalsgemeinschaft. Erfahren, warum ihre Begleiter auf dem Weg sind, hören von ihren Träumen, ihren Wünschen. Und ihrer Verzweiflung. 

Will man nicht tausende von Kilometern durch Mexiko zu Fuß gehen, ist der einzige Weg für Migranten die Fahrt auf La Bestia – langen Güterzügen, die das  ganze Land durchqueren. Die Dächer der Waggons sind voller Menschen – Migranten versuchen aufzuspringen, wenn die Züge etwa vor einer Kurve abbremsen müssen. Das ist hochgefährlich, regelmäßig geraten Unglückliche unter die Räder oder werden in niedrigen Tunnels zerschmettert, wenn sie sich nicht rechtzeitig ducken. Dazu kommen überfallartige Einsätze der Polizei, die meist in Zusammenarbeit mit den Kartellen die Migranten einfängt, einsperrt, foltert, Lösegeld erpresst. Und ermordet. Genaue Statistiken gibt es nicht, die Vermisstenzahlen gehen in die Zehntausende. 

All dies sind Bestandteile der Erzählung. Lydia und Luca – beide ohnehin stark traumatisiert – werden Zeugen und Opfer von Grausamkeiten und Brutalität. Aber immer wieder blitzt Menschlichkeit zwischen all dem Elend auf. Mexikaner stecken ihnen Essbares zu, verstecken sie vor Polizisten auf Migrantenjagd – diese unerwarteten Momente der Nächstenliebe retten die beiden immer wieder, denn so mancher Plan wird nicht klappen und Lydia muss improvisieren. Und schaut dabei ständig hinter sich, denn irgendwo dort draußen sind sie, die Killer. Doch Kilometer um Kilometer entfernen sie sich von Acapulco; verdreckt, misstrauisch und erschöpft; doch weit davon entfernt aufzugeben. 

Und natürlich steht eine Frage die ganze Zeit im Raum. Denn vielleicht schaffen sie es bis zur Grenze – was keinesfalls sicher ist. Doch wie sollen sie auf die andere Seite kommen, in die USA? In ein Land, dessen Regierung die Ressentiments gegen Migranten aus Lateinamerika immer weiter anheizt. Ein Land, in dem unschuldige Menschen, deren Aufenthaltsgenehmigung abgelaufen ist, bei einer Verkehrskontrolle verhaftet und sofort abgeschoben werden – egal, ob sie als Doktorand an einer Universität oder als Pflegerin in einem Krankenhaus arbeiten. Egal, ob sie Familie haben, die in den USA bleiben darf, oder ob Angehörige auf ihre Hilfe angewiesen sind – es interessiert niemanden, die restriktiven Gesetze werden gnadenlos umgesetzt. Auch diese irrsinnigen Auswüchse der US-amerikanischen Einwanderungspolitik thematisiert »American Dirt«, denn immer wieder treffen Lydia und Luca auf jene Abgeschobenen – die jetzt unter lebensgefährlichen Umständen versuchen zurückzukommen. Zu ihrem Leben. 

Jeanine Cummins ist mit »American Dirt« etwas Besonderes gelungen: Mit Hilfe eines packend erzählten Spannungsromans macht sie auf die oftmals ausweglose Situation der Migranten aufmerksam, die ihr Leben in die Waagschale werfen, um sich eine Zukunft zu schaffen, die diesen Namen verdient. Sie hat vier Jahre für diesen Roman recherchiert; ihr Ziel war es, nicht nur eine Geschichte zu erzählen, sondern viele. Lebensgeschichten, die aus der gesichtslosen Masse, als die die Migranten in der US-amerikanischen Öffentlichkeit wahrgenommen werden, Individuen machen. Menschen. 

Und das gelingt ihr auf eine so emotionale Weise, dass mich das Buch viel mehr bewegt hat, als ich es mir beim Kauf hätte vorstellen können. »American Dirt« ist ein Roman voller Empathie, Mitgefühl und Solidarität. Zumindest habe ich das so empfunden.

Andere aber nicht.

Eine Debatte eskaliert

In den USA musste die Autorin viel Kritik für ihr Werk einstecken. Kritik, die in Zeiten der Dauererregung in den sozialen Medien schnell eskalierte und jedes Maß verlor. Vorgeworfen wird ihr und ihrem Verlag, sie würden das Leid der Migranten vermarkten, das Buch strotze vor Stereotypen, und überhaupt, warum lasse man nicht mittelamerikanische Autoren über dieses Thema erzählen. Stichwort kulturelle Aneignung. 

Wie immer bei solchen identitätspolitischen Streitereien schwingt auch hier die Frage mit: »Darf die Autorin das schreiben?« Diese Frage hat einen totalitären Charakter, sie gefährdet die Freiheit des Wortes und der Literatur; aber gleichzeitig ist die Diskussion darüber viel zu komplex, um sie einfach abzuwinken. Nur leider ist in den USA die kulturelle Debatte dabei so aus dem Ruder gelaufen, dass man eigentlich weder das Wort »Kultur« noch »Debatte« verwenden mag: Aufgrund von Gewalt- und Todesdrohungen mussten Lesungen der Autorin abgesagt werden. Ihr US-amerikanischer Verlag entschuldigte sich öffentlich für eine »unsensible Vermarktung«. Hier ist in der Tat einiges schief gelaufen, so präsentierte sich die weiße, privilegierte Autorin dank einer puerto-ricanischen Großmutter quasi als »eine von euch« und es ist verständlich, dass sie sich damit keinen Gefallen getan hat. Was Morddrohungen in keinster Weise rechtfertigt. 

Ja, man kann über das Thema Aneignung diskutieren. Man kann sich erbittert über Formulierungen streiten, anderen die Kompetenz absprechen und keine Gegenargumente dulden; die konservativen Kräfte freuen sich immer darüber, wenn sich die Progressiven gegenseitig zerfleischen. Man könnte aber auch den Erfolg des Buches als Einfallstor nutzen, um noch viel häufiger das Thema Migration in der Welt der Literatur unterzubringen. 

Wie eingangs berichtet, habe ich das Buch gelesen, ohne von der Debatte Kenntnis gehabt zu haben – aus irgendeinem Grund ist sie tatsächlich vollkommen an mir vorbeigegangen. Daher hat mich »American Dirt« ganz unmittelbar erreicht; mich aufgewühlt und sensibilisert für die Geschehnisse in Mittelamerika. Ist solch eine Wirkung nicht eine der bedeutendsten Aufgaben von Literatur? Denn wichtig ist, dass ein Roman Leser bewegt und sie aufrüttelt. Nicht wichtig ist, wer diesen Roman geschrieben hat. 

Weil jede Stimme zählt. 

Buchinformation
Jeanine Cummins, American Dirt
Aus dem Englischen von Katharina Naumann
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-499-27682-8

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3 Antworten auf „Überleben, irgendwie“

  1. Danke!!!
    Ich hätte dieses Buch ohne Deinen Tipp nicht gelesen. Es war so spannend, das Tempo geht direkt los und wird bis zum Ende gehalten. Aber es war auch so berührend, unglaublich wie nahe ich mich Lydia und Luca gefühlt habe und wie sehr mich die beschriebene Solidarität ergriffen hat.
    Ja, egal, wer so was schreibt und solche Bilder entstehen lässt und so viel Empathie und Neugierde zu diesem Thema, der darf sich das Thema auch „aneignen“, wobei wir derzeit auf so viel Korrektheit achten, dass spontane menschliche Zuneigung eventuell verloren geht.
    Ich fand das Buch toll! Also nochmal danke für die Empfehlung.

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