Germinals Erben

Sorj Chalandon: Am Tag davor

Es ist die Schlüsselszene im Roman »Am Tag davor« von Sorj Chalandon: Zwei Brüder – der sechzehnjährige Michel und der dreißigjährige Joseph – brettern am 26. Dezember 1974 auf Josephs Moped durch die nächtlichen Straßen von Liévien-Lens, einer Stadt mitten im nordfranzösischen Kohlegebiet. Dieser Moment scheinbar ungetrübter Ausgelassenheit wird im Verlauf der Handlung immer wieder auftauchen, wird seine Bedeutung verändern und zum Schluss die Erzählung auf eine vollkommen neue Ebene hieven. Denn die nächtliche Mopedfahrt prägt das gesamte Leben des Ich-Erzählers Michel. Es ist der Tag davor. 

Sein von ihm vergötterter älterer Bruder Joseph ist Bergmann in der Zeche Saint-Amé, in der am nächsten Tag 42 Bergleute bei einem Unglück ums Leben kommen werden. Joseph stirbt ein paar Wochen später im Krankenhaus.

Die Familie zerbricht an dieser Tragödie. Die Eltern sind Landwirte in der Umgebung der Stadt und kommen mit ihrem Bauernhof gerade so über die Runden. Es ist ein einfaches Leben, das Joseph – wie vielen anderen jungen Menschen – nicht mehr genügt hat. Die Zeche zieht sie an, die harte Arbeit unter Tage verspricht Lohn, ein sicheres Auskommen und eine günstige Werkswohnung: »Zwei Zimmer unterm Dach, die ihm die Zeche fast umsonst vermietete. So hatte er nicht weit zu seinem Arbeitsplatz. Das war praktisch für den Arbeiter und machte sich für die Firma bezahlt. Sie nahm diesen Bauernsohn auf. Die Kohle hatte gesiegt, die Scholle verloren. Joseph Flavent wurde mit zwanzig Bergmann.«

Nicht lange nach Josephs Tod steht Michel alleine im Leben. »Das war kein Bauernhof mehr, sondern ein Friedhof.« Er lässt den Scherbenhaufen seiner Vergangenheit hinter sich, zieht nach Paris. Wird Fernfahrer, heiratet, findet ein wenig Glück. Und kommt doch sein ganzes Leben lang nicht von der Zechenexplosion los, die seine Familie zerstört hat. Als er viele Jahre später nach dem Tod seiner Frau wieder alleine ist, scheint für ihn der Moment der Rache gekommen – denn es gibt jemanden, den er für den Unfall im Schacht 3b verantwortlich macht. Jemanden, der in seinen Augen symbolisch für all die Ausbeutung durch die Bergbaugesellschaft steht, der das Wohl ihrer Arbeiter stets nebensächlich war; immer ging es um Gewinnmaximierung durch Einsparungen, auch bei den Sicherheitsmaßnahmen. 

Dann kommt Michel nach langer Zeit wieder in Liévien-Lens an; niemand erkennt ihn und er findet er kaum etwas, das an die Vergangenheit oder an seine Kindheit erinnert. Die Zeche ist schon lange geschlossen, eine Gedenktafel erinnert an das Unglück. Der Ort und die Gegend sind verödet, ein paar gebrechliche alte Männer, die ihre Gesundheit unter Tage ruiniert haben, sind übriggeblieben. Die Katastrophe vom 27. Dezember 1974 ist längst verblasste Geschichte. »Das Land teilte unsere Trauer nicht. Als es von der Kohle Abschied nahm, vergaß es, Abschied von seinen Bergleuten zu nehmen. Die Welt, die sie verkörperten, gab es nicht mehr.«

Trotzdem möchte Michel seinen kruden Plan verwirklichen, doch alles kommt vollkommen anders, als er es sich vorgestellt hat. Und letztendlich muss er sich seinen eigenen Erinnerungen stellen. Erinnerungen, die jahrzehntelang von seinem Wunsch nach Vergeltung überschattet wurden und sein Leben zu einem Gefängnis gemacht haben. Einem Gefängnis aus Hass, Zorn und Rache.

»Am Tag davor« ist ein großartiger, wuchtiger Roman, der mit einer handfesten Überraschung endet. Dabei geht es um weit mehr als um die Erzählung einer Rache und eines von Erinnerungen überschatteten Lebens. Das Buch gibt einen intensiven Einblick gibt in die letzten Jahre des nordfranzösischen Kohlebergbaus. Gewidmet ist das Buch den 42 Bergleuten, die an jenem 27. Dezember 1974 auf der Zeche Saint-Amé in Liévin-Lens ums Leben gekommen sind – doch es ist gleichzeitig ein Nachruf auf eine verschwundene Arbeitswelt, die geprägt war von gnadenloser Ausbeutung und unmenschlichen Arbeitsbedingungen. Und die zig Tausende von Menschen verschlungen hat, denn nach Jahrzehnten unter Tage war die Gesundheit ruiniert. Eines von vielen Details:  Starb ein Arbeiter bei einem Unfall, zog die Bergbaugesellschaft bei der letzten Auszahlung an die Witwe noch die Kosten für die Arbeitskleidung ab. 

Eine andere Person – wer, soll hier nicht verraten werden – erzählt in einer der bewegendsten Szenen des Romans von einem Vater, der sein Leben lang in der Zeche Kohle gefördert hat. Die Emotionalität dieser Textstelle hat mich so berührt, dass ich sie hier unbedingt wiedergeben muss.

»In den vierzig Jahren, die er unter Tage gearbeitet hat, war er nie auch nur eine Minute zu spät und keinen einzigen Tag krank. Er ging zu Fuß los, im Morgengrauen, die Brottasche auf dem Rücken. Kam nur zum Essen, Schlafen und Kraftschöpfen für den nächsten Tag nach Hause. Nie gab es ein lautes Wort. Nie Protest, nie Gejammer. Er hat sich sein Leben lang abseitsgehalten von Streiks und Lohnforderungen. Weil er Angst um seine Familie hatte. Angst vor Pflichtverstößen, Abmahnungen, Entlassung, Kündigung, Arbeitslosigkeit. Angst, von der Zeche aus der Siedlung geworfen zu werden, Angst, sein Dach über dem Kopf zu verlieren, seinen staubigen kleinen Garten, seinen Taubenschlag. Angst, dass seine Kinder von der Schule der Zeche fliegen könnten oder aus deren Ferienkolonie, Angst, ihre Kleidung nicht mehr in der Konsumgesellschaft einkaufen zu können, Angst, ein Nichts zu sein in diesem Land, in dem die Kohle alles ist.«

Und weiter: 

»Der mustergültige Arbeiter überlebte seine Pensionierung nur um zwei Jahre. Das hieß zwei Jahre Atemnot. Ständig blieb er auf der Straße stehen, mit einer Hand an eine Mauer, mit der anderen auf seinen Stock gestützt, um all das auszuspucken, was die Kohle ihm angetan hatte. Zwei Jahre hat er durchgehalten, der tapfere Bergmann, der nie seine Stimme erhob oder die Faust. Zwei Jahre Todeskampf, umstellt von Schmerz und Backstein.«

Das alles erinnert an einen Klassiker der sozialkritischen Literatur, an »Germinal« von Emile Zola, der damit schon 1885 die Arbeitsbedingungen in dem nordfranzösischen Kohlerevier anprangerte. Natürlich hat sich seitdem einiges verändert, Streiks werden nicht mehr blutig vom Militär beendet. Aber es gibt auch zahlreiche Kontinuitäten, denn auch 1974 – knapp 90 Jahre später – ist Profit wichtiger als ein Menschenleben. Sorj Chalandon hat eine kleine Reminiszenz an Zolas großes Werk eingebaut: An einer Stelle des Buches liest Michel in »Germinal«, doch »jedes Wort, jede Wendung erinnerte mich an die Katastrophe. Ich hatte mir von Zola Entlastung erwartet, aber er war mein schlechtes Gewissen.« 

Ich habe diesen Beitrag »Germinals Erben« genannt und damit ursprünglich die Menschen gemeint, um deren Schicksale es in »Am Tag davor« geht. Doch das greift zu kurz. Der Kohlebergbau unter Tage ist inzwischen in Mitteleuropa fast völllig verschwunden, nachdem er jahrhundertelang den technischen Fortschritt im wahrsten Sinne des Wortes befeuert hat – ohne Rücksicht auf Verluste. Aber weltweit gibt es unzählige Arbeiter, die nach wie vor unter ähnlichen oder noch viel schlimmeren Bedingungen schuften bis zum Umfallen. Denn die Steinkohle, die nach wie vor für die heimische Stahlindustrie benötigt wird, kommt nun aus Ländern, wo sie unter fragwürdigsten Bedingungen abgebaut wird. Nicht anders als die Rohstoffe, die wir für unser gutes Umweltgewissen benötigen, wenn wir ein Elektroauto fahren. 

Es sind nach wie vor Germinals Erben, die für unseren Wohlstand sorgen. Nur inzwischen nicht mehr in Nordfrankreich oder im Ruhrgebiet, sondern komplett unsichtbar für uns. 

Buchinformation
Sorj Chalandon, Am Tag davor
Aus dem Französischen von Brigitte Große
dtv
ISBN 978-3-423-28169-0

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3 Antworten auf „Germinals Erben“

  1. Germinals Erben – das ist ein so treffender wie deprimierender Begriff. Schokolade – fast immer ist Kinderarbeit mit im Spiel. Selbst hierzulande gibt es genug Beispiele.

  2. Mich hat das Buch sehr berührt (wie viele Jahre vorher auch „Germinal“. Das Kapitel über das Grubenpferd hängt mir heute noch nach). Ich musste es erstmal sacken lassen. Was für eine Literaturperle…

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