#dbp23: Ein Longlist-Gespräch

Deutscher Buchpreis 2023: Die Longlist

Am 22. August war es soweit: Die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023 wurde veröffentlicht. Es ist immer wieder spannend, welche zwanzig Titel dort aufgeführt werden; die diesjährige Liste hatte ein paar Überraschungen auf Lager und bietet einen gelungenen Querschnitt durch die deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Und sie ist wie jedes Jahr das Ergebnis einer intensiven Juryarbeit; ein Ergebnis, in das die unterschiedlichen Lesevorlieben der sieben Mitglieder eingeflossen sind. Die diesjährige Jury besteht aus Shila Behjat (Journalistin und Publizistin), Heinz Drügh (Goethe-Universität Frankfurt am Main), Melanie Mühl (Frankfurter Allgemeine Zeitung), Lisa Schumacher (Inhaberin Steinmetz’sche Buchhandlung in Offenbach), Katharina Teutsch (freie Kritikerin), Florian Valerius (Buchblogger, Gegenlicht Buchhandlung Trier) und Matthias Weichelt (Zeitschrift Sinn und Form).

Zwei Tage nach der Veröffentlichung war ich unterwegs nach Hamburg, denn die Buchhandlung stories! veranstaltete einen Longlist-Abend. Zusammen mit Frank Menden und Simone Finkenwirth sollte ich über die ausgewählten Titel reden, plaudern, diskutieren. Beide arbeiten in dieser weit über Hamburgs Stadtgrenzen bekannten Buchhandlung und beide kenne ich schon seit vielen Jahren über das Buchbloggen: Simones Blog Klappentexterin existiert schon seit 2010 und war für mich eine Quelle der Inspiration, als ich vor einer Dekade mit dem Kaffeehaussitzer an den Start ging. Und Frank schreibt auf Instagram so mitreißend über Bücher, dass man direkt in den nächsten Buchladen laufen und vollbepackt wieder herauskommen möchte. So wie ich im Jahr 2018 war Frank Menden 2022 Mitglied der Jury des Deutschen Buchpreises, beide kennen wir die Abläufe hinter den Kulissen – wie auch die Eigendynamik, die eine Juryarbeit entwickeln kann. Simone Finkenwirth war 2014 maßgeblich daran beteiligt, die – wechselnde – Runde der Buchpreisblogger ins Leben zu rufen, die seitdem den Preis begleitet.

Wir drei sollten also über die Buchpreis-Longlist 2023 sprechen. Auf der Fahrt nach Hamburg hatte ich die Leseproben-Broschüre im Gepäck, in der die Anfänge aller zwanzig nominierten Romane abgedruckt sind. Als ich durch Bremen kam, hatte ich sie durchgearbeitet und mir als Gesprächsgrundlage zu jeder Textprobe Notizen gemacht. Diese Notizen und Anmerkungen fließen nun – gemeinsam mit Erkenntnissen aus dem abendlichen Gespräch – in diesen Blogbeitrag ein, in dem ich die Longlist-Titel kurz vorstellen möchte. Natürlich vollkommen subjektiv.

Am Ende des Longlist-Abends haben wir eine Shortlist zusammengestellt, die am Schluss dieses Blogbeitrags steht. Und wir sind schon sehr gespannt, wie viele Überschneidungen es mit der offiziellen geben wird, die am 19. September 2023 feststeht. .

Deutscher Buchpreis 2023: Die Longlist

Alle zwanzig Titel in alphabetischer Reihenfolge. Die Verlinkungen führen zu den jeweiligen Verlagsseiten. 

Tomer Dotan-Dreyfus: Birobidschan (Verlag Voland & Quist)

Eine Leseprobe aus der Longlist-Broschüre umfasst maximal vier Seiten. In diesem Fall war es mir zu wenig, um Zugang zu dem Roman zu finden, in dem es um ein jüdisch-sozialistisches Schtetl in Sibirien geht, dessen historisches Vorbild in den 1930er-Jahren gegründet wurde. Aber näher anschauen werde ich mir das Buch auf jeden Fall.

Raphaela Edelbauer: Die Inkommensurablen (Klett-Cotta)

Raphaela Edelbauer hat grandiose Plot-Ideen, aber bisher habe ich jeden ihrer Romane abgebrochen, auch diesen, der im Wien des Jahres 1914 spielt; unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Es ist die Sprache. Sie ist mir zu sperrig, zu hölzern; das mag ein besonderes Stilelement sein, doch sie lässt mich nicht in die Geschichte(n) hinein. Als Beispiel mag der erste Satz von »Die Inkommensurablen« dienen: »Es war sechs Uhr zweiunddreißig am 30. Juli 1914, als der siebzehnjährige Bauernknecht Hans Ranftler nach kaum halbstündigem Schlaf von einem Beamten der k. u. k. Eisenbahnen, der den Besen in der Hand trug, unsanft aus dem Schlaf befördert wurde.«

Sherko Fatah: Der große Wunsch (Luchterhand Literaturverlag)

Um beim ersten Satz eines Romans zu bleiben: Den Beginn von »Der große Wunsch« finde ich phänomenal; die gesamte Textprobe hat mich so begeistert, dass ich dieses Buch, das in Kürze erscheint, unbedingt lesen muss. Und ich glaube, es wird mein Favorit auf der gesamten Liste, denn neben einer wunderbaren Sprache geht es um die literarischen Themen, die mich am meisten interessieren: um die Suche nach einer Person und um das Unterwegssein, eingebettet in die brüchige, gewaltvolle Welt des Nahen Ostens. Und der erste Satz lautet: »Wie Funken einer von Riesenhand ausgeschlagenen Fackel überzog ein Schweif von Sternen den schwarzen Himmel; sie leuchteten nicht, schienen nur zitternd zu verglimmen, ohne jedoch zu verschwinden.«

Elena Fischer: Paradise Garden (Diogenes Verlag)

Von der Inhaltsbeschreibung könnte auch dies ein Buch ganz nach meinem Geschmack sein: Die 14-jährige Billie verlässt ihre Hochhaussiedlung, um sich auf die Suche nach ihrem ungarischen Vater zu machen, den sie noch nie gesehen hat. Allerdings sind mir da zu viele »Tschick«-Vibes im Text, und das wiederum ist ein Buch, das ich auch in abgewandelter Form nicht noch einmal lesen muss.

Charlotte Gneuß: Gittersee (S. Fischer Verlag)

Die biographische Information, dass die Autorin am Literaturinstitut Leipzig studiert hat, kam nicht überraschend. Tatsächlich hatte ich beim Lesen der Textprobe spontan »Leipzig oder Hildesheim« gedacht, denn sie versprüht einen irgendwie typischen Schreibstudium-Sound. Ob ich den Roman lesen möchte, der in der DDR spielt und als »Gegenentwurf zu den bildungsbürgerlichen Dresden-Narrativen« à la Tellkamp oder Grünbein angepriesen wird? Ich weiß es noch nicht. Mal sehen.

Luca Kieser: Weil da war etwas im Wasser (Picus Verlag)

In der Tiefsee streift ein Riesenkalmar ein Telefonkabel, das über den Meeresgrund verläuft – und seine Tentakel beginnen zu erzählen, jedes für sich, eine Fülle von Geschichten, die sich mehr und mehr miteinander verknüpfen: Der Klappentext klingt so absurd, dass ich da eigentlich gleich aussteigen würde. Aber als ich die paar Seiten der Leseprobe las, war ich hingerissen von der wunderbar poetischen Sprache, die sofort einen ganz eigenen Sog entwickelt.

Angelika Klüssendorf: Risse (Piper Verlag)

Inhaltlich sind die autofiktionalen Romane von Angelika Klüssendorf nicht ganz mein Lesegeschmack. Seit Jahren arbeitet sie sich an ihrer Familiengeschichte ab, und dieses permanente Um-sich-selbst-kreisen ist mir etwas zu viel. Doch in der Leseprobe der Buchpreis-Broschüre gibt es eine Formulierung, deren Eleganz ich bewundere. In »Risse« schreibt sie über den Tod der Mutter, zu der sie ein zerrüttetes Verhältnis hatte: »Nun ist sie tot. Was ich nicht für möglich gehalten habe: Ich vermisse sie. Ich empfinde Trauer, doch meine Freude über die Trauer ist größer als die Trauer selbst.« Eine Textstelle, die man nicht so schnell vergisst.

Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche (Leykam Verlag)

Die Geschichte Südtirols und seiner Menschen, die während des 20. Jahrhunderts zum Spielball zweier faschistischer Diktaturen wurden, beschäftigt mich schon sehr lange. Dieser Roman schildert am Schicksal einer Südtiroler Familie eindrucksvoll jene düstere Zeit, aus der es kein Entkommen gab. Für mich ein Highlight der Longlist.

Terézia Mora: Muna oder Die Hälfte des Lebens (Luchterhand Literaturverlag)

Mit ihrem Roman »Das Ungeheuer« hat Terézia Mora 2013 den Deutschen Buchpreis gewonnen. Ein formal mehr als anspruchsvolles Werk; die meisten Leser, die ich kenne, haben es abgebrochen. Und das neue Buch? Die Leseprobe mit einer alles durchdringenden Tristesse schreckt mich eher ab, als dass sie Neugierde weckt. Mal sehen. 

Thomas Oláh: Doppler (Müry Salzmann Verlag)

Vier Seiten und ein unglaublich starker Text: Das Buch beginnt mit einem Autounfall, wir sitzen mit in dem sich überschlagenden Wagen und haben das Gefühl, wie in Zeitlupe die Geschehnisse zu verfolgen. Und der Klappentext des Buches klingt nach sehr schwarzem, sehr österreichischem Humor. Das sollte ich mir auf jeden Fall näher anschauen. 

Angelika Overath: Unschärfen der Liebe (Luchterhand Literaturverlag)

Auch hier ein starker Beginn: »Als Baran Anatol Chronas an einem Herbstmorgen in Chur einen Zweitklassewagen der Schweizerischen Bundesbahnen bestieg, wusste er, dass ihm keine gute Ankunft bevorstand. Und doch sollte er sich täuschen über das Ausmaß dessen, was ihn erwartete.« Zwei Sätze, eine Pointe, die neugierig macht. Doch meine anfängliche Begeisterung wurde bei unserer Longlist-Diskussion von Frank Menden etwas gedämpft, der dem Buch einige überflüssige Längen und Abschweifungen attestierte. Kommt bei mir auf die Vielleicht-Lesen-Liste.

Necati Öziri: Vatermal (claassen)

In den ersten Seiten des Romans, die wir in der Longlist-Broschüre lesen können, ist schon so viel angelegt, dass »Vatermal« eine lohnende Lektüre zu werden verspricht. Ein todkranker Sohn schreibt an den Vater, der viele Jahre zuvor die Familie verlassen hat, um in der Türkei die Konsequenzen für seinen politischen Kampf zu tragen und dort neu zu beginnen. Eine Geschichte voller Wut, Sehnsucht und Trauer um ein nichtgelebtes Leben. Ein Must-Read.

Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert (Wallstein Verlag)

Eine Essenseinladung, die vollkommen aus dem Ruder läuft – ohne das Buch zu kennen, habe ich eine deutsche Filmkomödie vor mir. Wahrscheinlich, weil es mit »Das perfekte Geheimnis« eine solche gibt, in der u. a. Wotan Wilke Möhring, Jessica Schwarz, Sebastian Lau, Karoline Herfurth oder Elyas M’Barek voll aufdrehen. Ob ich damit dem Buch gerecht werde, weiß ich nicht. Wahrscheinlich nicht, aber die Bilder haben sich schon im Kopf festgesetzt. Ob ich es lesen möchte? Vielleicht. 

Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück (Klett-Cotta)

Autofiktionale oder autobiographische Romane gab es in den letzten Jahren für meinen Geschmack zu viele, so dass dieses Buch eigentlich gleich auf den Lese-ich-nicht-Stapel gewandert wäre. Eigentlich. Doch Simone Finkenwirth hat bei unserem Longlist-Abend so begeistert davon erzählt, dass ich neugierig wurde. Es geht um Menschen, die erst in die Nazi-Diktatur hineinwuchsen, nur um anschließend im nächsten Unrechtsstaat zu leben. Der dann plötzlich verschwand. Was macht dies mit einer Gesellschaft, mit Familien? Mit Verhaltensmustern? Ein spannendes Buch; es »bietet ein Gegengift zur gegenwärtigen Verharmlosung der DDR«, so der Ankündigungstext. Werde ich lesen. Unbedingt.

Kathrin Röggla: Laufendes Verfahren (S. Fischer Verlag

An die Leseprobe zu diesem Buch konnte ich nicht unbefangen herangehen, es lag an einem Verriss, den ich darüber gelesen hatte. Die Autorin beschreibt aus der Sicht einer Gruppe von Zuschauern den NSU-Prozess. Der in ihrem Roman aber nur wie ein atmosphärisches Hintergrundrauschen zu wirken scheint und das Leid der Opfer ausblendet. Wie man das besser hinbekommt, hat eindrucksvoll Emmanuel Carrère mit seinem Roman »V 13« bewiesen, in dem es um die Terroristenprozesse zu den Pariser Anschlägen geht. Bei unserem Hamburger Longlist-Abend waren wir uns alle drei einig, dass dieser Platz auf der Longlist auch anders hätte vergeben werden können. 

Tonio Schachinger: Echtzeitalter (Rowohlt Verlag)

Das Gaming spielt in diesem Roman eine wichtige, eine entscheidende Rolle. Noch vor einem halben Jahr hätte ich hier nur müde abgewinkt, da mich Gaming noch weniger interessiert als Fußball – und das will etwas heißen. Seit ich allerdings »Morgen, morgen und wieder morgen« von Gabrielle Zevin gelesen habe, hat sich diese Sichtweise geändert, denn auch hier dreht sich alles um Games und die Gaming-Industrie – und es ist ein grandioses Buch (das schreibe ich als Leser, nicht als Mitarbeiter des Eichborn-Verlags, in dem es erschienen ist). Daher werde ich »Echtzeitalter« unbedingt eine Chance geben – ein Leserleben ist schließlich voller Überraschungen. 

Sylvie Schenk: Maman (Carl Hanser Verlag)

Mit großer sprachlicher Eleganz schreibt Sylvie Schenk über das Leben ihrer Mutter und sucht Antworten auf die vielen ungeklärten Fragen, die es überschatteten. Als großer Fan dieser Autorin war Simone Finkenwirth bei unserem Longlist-Abend begeistert darüber, dass dieses Buch nominiert wurde. 

Clemens J. Setz: Monde vor der Landung (Suhrkamp Verlag)

Ein perfektes Buch für unsere Epoche der Quer»denker« und Esoterik-Spinner. Sollte man lesen. Werde ich lesen. Liegt bereit.

Tim Staffel: Südstern (Kanon Verlag Berlin)

Vor 25 Jahren habe ich Tim Staffels »Terrordrom« gelesen, einen dystopischen Berlin-Roman. Damals war ich oft und lange in Berlin unterwegs und es hat irgendwie gut gepasst. Beim neuen Roman bin ich mehr als unschlüssig; die Leseprobe klingt wie der Text, den ich vor einem Vierteljahrhundert in den Händen hielt. Und das hat damals eigentich genügt. 

Ulrike Sterblich: Drifter (Rowohlt Verlag Hundert Augen)

Bei unserem Longlist-Abend hat es Frank Menden schön auf den Punkt gebracht: Dieses Buch liebt man oder man hasst es. Er findet es großartig, ich bin nach der Leseprobe raus. Aber das ist ja das Schöne: Jeder hat einen anderen Lesegeschmack oder andere Lesevorlieben – und das bildet diese Liste wunderbar ab.

Das ist sie also, die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2023. Es hat großen Spaß gemacht, bei stories! in Hamburg mit Frank und Simone über den Preis zu sprechen und die Bücher vorzustellen . Und ich hoffe, den zahlreichen Teilnehmenden im Laden und über Zoom hat es ebenfalls gefallen. Zum Schluss wie versprochen noch unsere ganz persönliche Shortlist-Prognose, jeder von uns durfte zwei Titel nennen: 

Sherko Fatah: Der große Wunsch
Sepp Mall: Ein Hund kam in die Küche
Necati Öziri: Vatermal
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück
Tonio Schachinger: Echtzzeitalter
Sylvie Schenk: Maman

Es bleibt spannend. 

#dbp23
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3 Antworten auf „#dbp23: Ein Longlist-Gespräch“

  1. Ahoi Uwe,

    danke für diese unterhaltsamen Einblicke – das Kalmarbuch habe ich tatsächlich schon gelesen und glaube, dass es auch zu denen gehört, die entweder geliebt oder gar nicht gemocht werden; mir hat es richtig gut gefallen! Ansonsten sprechen mich die Longlisttitel nicht so an…

    Liebe Grüße
    Ronja von oceanloveR

  2. Ach schön, vielen Dank für die persönlichen Eindrücke und die Bezüge auf die Runde in Hamburg. Ich konnte leider nicht live zuschauen und habe festgestellt, dass es keine Aufzeichnung gibt. So nehme ich trotzdem einige Aspekte mit.
    Es ist wirklich eine interessante Longlist mit vielen unerwarteten Titeln! Wie jedes Jahr wünsche ich mir, dass die Phase zwischen Long- und Shortlist ein gutes Stücke länger ist. Dann könnte ich trotz familiärer und beruflicher Verpflichtungen mehr daran teilhaben.
    Herzliche Grüße und frohes Longlistlesen!

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