Das Schreiben und der Zorn

Mareike Fallwickl: Das Licht ist hier viel heller

Während momentan darüber diskutiert wird, ob und wie die Frankfurter Buchmesse 2020 in Zeiten von Corona stattfinden kann, denke ich an die Messe im letzten Herbst. Genauer gesagt, an ein Gespräch mit der Autorin Mareike Fallwickl, denn mit jenem Gespräch im Hinterkopf habe ich kürzlich ihr Buch »Das Licht ist hier viel heller« ein zweites Mal gelesen. Und wenn man weiß, dass der Plot ursprünglich anders geplant war, das Schreiben aber von der Realität überholt wurde, dann entfaltet das Buch eine andere Wirkung. Intensiver. Und wütender. „Das Schreiben und der Zorn“ weiterlesen

Acht Tage, sechs Bücher

Acht Tage, sechs Buecher

Ende Mai hatte ich eine Operation am Knie. Danach war ich im wahrsten Sinne des Wortes für acht Tage ausgebremst; damit die OP-Narbe gut verheilen konnte, verbrachte ich die Zeit mehr oder weniger liegend. Und lesend. Sechs Bücher sind es geworden, von denen vier schon länger im Regal standen und auf den richtigen Lesemoment gewartet haben. Ein neues Buch eines Lieblingsautors aus alten Zeiten war dabei, dann ein Buch, dass mich mit einer völlig unerwarteten Wucht traf. Ein Buch, das ich fast wieder weggelegt hätte, bevor eine kurze Textstelle mich geradezu in die Story hineingerissen hat. Ein Ausflug ins 19. Jahrhundert gehörte dazu, außerdem eine literarische Begegnung mit einem amerikanischen Kultautor. Und ein Buch, das weit hinter meinen Erwartungen zurückgeblieben ist. „Acht Tage, sechs Bücher“ weiterlesen

Vom Untergang einer Welt

Der Roman »Der Wintersoldat« von Daniel Mason und der Band »Untergang einer Welt«

Fast hätte ich mir das Buch »Der Wintersoldat« von Daniel Mason gar nicht gekauft. Das Buchcover zeigt einen Menschen in Rückenansicht, der sich mit wehendem Mantel vom Betrachter weg bewegt – diese Art der Buchgestaltung gibt es bereits in viel zu vielen Varianten und ich mag sie nicht besonders. Aber trotzdem sprach mich irgendetwas daran an, sorgte zumindest für ein zweites Hinsehen. Vielleicht war es der Titel »Wintersoldat«, vielleicht waren es die dunklen, wolkenverhangenen Bergrücken auf dem Umschlagbild, die eine Düsternis ausstrahlten, die mich neugierig machte. Als dann der Klappentext eine Handlung in den Karpaten während des Ersten Weltkriegs versprach, war die Kaufentscheidung getroffen. Denn dies ist ein fast vergessener Schauplatz in den vielen Darstellungen jener Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts und ich war gespannt, wie die Lektüre zu meinem Leseprojekt Erster Weltkrieg passen würde. Passend dazu stelle ich hier den Photoband »Untergang einer Welt« aus dem Brandstätter Verlag vor, der sich mit jenen weniger bekannten Aspekten des vierjährigen Gemetzels beschäftigt; eindrucksvoll und bedrückend zugleich.  „Vom Untergang einer Welt“ weiterlesen

Land Of The Free?

Thomas Mullen: Darktown | Weisses Feuer

Wieder einmal brennen in den USA die Straßen, wieder einmal demonstrieren Tausende gegen rassistische Polizeigewalt. Denn wieder einmal wurde ein Mensch mit dunkler Hautfarbe von weißen Polizisten getötet. Der strukturelle Rassismus zieht sich durch die gesamte amerikanische Geschichte; auch nach der offiziellen Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1865 galten afroamerikanische Bürger fast ein Jahrhundert lang als Menschen zweiter Klasse. Und bis heute ist die Ungleichbehandlung täglich spürbar – von unterschiedlichen Löhnen bis hin zu eben jener Polizeigewalt, die vor allem dunkelhäutige Amerikaner zu spüren bekommen. Der Autor Thomas Mullen beschäftigt sich in seinen Romanen »Darktown« und »Weißes Feuer« mit einem ganz besonderen Aspekt dieser Entwicklung. Beide Bücher sind dabei Kriminalliteratur vom Feinsten und sie führen uns zurück in das Jahr 1948, in die Stadt Atlanta. „Land Of The Free?“ weiterlesen

Die große Angst. Ein Textbaustein*

Hermann Hesse: Narziss und Goldmund

Als ich Anfang zwanzig war, drückte mir ein Freund den Roman »Siddhartha« in die Hand und meinte, ich müsse ihn unbedingt lesen. Darauf folgte eine kurze, aber intensive Phase, in der ich so ziemlich alles von Hermann Hesse verschlungen habe, was mir in die Finger kam. Das ist inzwischen knapp drei Jahrzehnte her, doch kürzlich fand ich beim Durchforsten der Buchregale »Narziß und Goldmund« wieder, das einzige Hesse-Buch, das ich neben jenem »Siddhartha« noch besitze. Als ich den schmalen Suhrkamp-Band in der prägnanten Gestaltung dieser Zeit durchblätterte, fand ich eine markierte Textstelle. Es sind Worte, die mich mich damals bis ins Mark getroffen haben. Und sofort waren eine Menge Erinnerungen wieder da. „Die große Angst. Ein Textbaustein*“ weiterlesen

Murakami, zweiter Versuch

Haruki Murakami: Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki

Es ist schon einige Jahre her, dass ich mein erstes Buch von Haruki Murakami gelesen habe. Es war »Wilde Schafsjagd«, ich habe mich bis zur letzten Seite durchgequält und fand es furchtbar. Abgehakt, dachte ich lange Zeit. Allerdings ist der Name des Autors so präsent, dass man immer wieder auf ihn stößt. Und durch das Bloggen über Literatur kenne ich etliche Menschen, deren Buchempfehlungen ich sehr schätze und die jedem neuen Murakami-Roman begeistert entgegenfiebern. Irgendetwas scheine ich überlesen zu haben, irgendetwas, das es doch noch zu entdecken gibt – diese Gedanken waren der Auslöser für den zweiten Versuch, den ich letzten Herbst mit »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« startete. Denn, so versicherten mir mehrere Murakami-Fans, dieser Roman sei einer der am leichtesten zugängliche und ein guter Einstieg. 

Um es gleich vorwegzunehmen: Ich gehöre immer noch nicht zur Murakami-Fangemeinde. Doch die Lektüre von »Die Pilgerjahre des farblosen Herrn Tazaki« war ein Leseerlebnis der ganz besonderen Art. „Murakami, zweiter Versuch“ weiterlesen

Abgebrochene Brücken

Kai Havaii: Rubicon

Eigentlich hätte ich den Namen Kai Havaii kennen müssen, denn ich bin in den Achtzigerjahren aufgewachsen und er war – oder vielmehr ist – der Sänger der Band »Extrabreit«. Aber die Musik der Neuen Deutschen Welle mochte ich noch nie und auch dreißig Jahre später wechsele ich auf Partys schnell den Raum, wenn die NDW-Nostalgierunde läuft. Wobei ich in Zeiten, wie wir sie momentan erleben,  gerne dazu auf dem Tisch tanzen würde, wenn Partys überhaupt wieder möglich wären.

Wie dem auch sei, jedenfalls hatte ich den Namen Kai Havaii noch nie gehört, als ich bei der Frankfurter Buchmesse 2019 am Blauen Sofa vorbeikam, dem Veranstaltungsformat des ZDF. Genau in diesem Moment war eine Krimirunde zu Gast, es saßen dort Simone Buchholz, Judith Ahrendt, Sebastian Fitzek und eben Kai Havaii. Ein lässiger Typ, der gerade von seinem Kriminalroman »Rubicon« erzählte, der kurz zuvor erschienen war. Und das auf eine Weise, die mich so neugierig machte, dass ich zwei Stunden später mit diesem Buch im Zug saß, auf dem Weg zurück nach Köln. Und mit zunehmender Begeisterung in die Geschichte von Carl Overbeck eintauchte. „Abgebrochene Brücken“ weiterlesen

Ein Fenster in die Geschichte

Bernard von Brentano: Der Beginn der Barbarei in Deutschland

In diesem Beitrag geht es um das Buch »Der Beginn der Barbarei in Deutschland« von Bernard von Brentano. Ich vermische damit Berufliches mit Privatem, da ich seit Sommer 2019 für den Eichborn Verlag arbeite, in dem die Neuausgabe dieses lange vergessenen Werkes erschienen ist. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, dass es hier im Blog nicht zu solchen Überschneidungen kommen sollte, doch dieser Titel ist in meinen Augen ein so wichtiges Zeitzeugnis, dass ich einfach nicht anders kann als darüber zu schreiben.  

Das Buch erschien ursprünglich im Jahr 1932 und war das Ergebnis einer intensiven Recherche. Von 1930 an war der Journalist Bernard von Brentano auf langen Fahrten durch Deutschland gereist. Er wollte herausfinden, welche Folgen die Weltwirtschaftskrise hatte, von der das Land mit voller Wucht getroffen wurde – und was er sah, war dramatisch. Brentano besuchte Menschen, deren Existenz durch die Krise vernichtet worden war, ging dorthin, wo das Elend sichtbar wurde. Sprach mit Arbeitern, die nicht wussten, wie lange ihre Betriebe noch durchhalten würden, mit Arbeitslosen, die hungerten, mit Bauern, deren Höfe vor dem Aus standen. Er schilderte die verzweifelte Lage von Familien, die von Obdachlosigkeit bedroht waren oder ihre Wohnung bereits verloren hatten. Lieferte Stimmungsbilder aus den Stadtvierteln und Regionen, in die sich die Angehörigen der Oberschicht nie hin verirren würden. „Ein Fenster in die Geschichte“ weiterlesen

Menschen auf der Suche

Doris Knecht: weg

Menschen, die auf der Suche sind: Dies ist wohl das literarische Motiv überhaupt. Es gibt unzählige Varianten, und ich werde nicht müde, die Protagonisten der unterschiedlichsten Romane dabei zu begleiten, wie sie losziehen, um etwas zu finden. Einen Weg, eine Zukunft, eine verschwundene Person – und dabei meist auch sich selbst. Auch wenn die Ausgangslagen oft ähnlich erscheinen mögen, sind die Ausgestaltungen der Handlungen immer wieder neu. Und mit »weg« hat Doris Knecht eine sehr gelungene hinzugefügt. „Menschen auf der Suche“ weiterlesen

Denkmal für die Verschwundenen

Pierre Jarawan: Ein Lied fuer die Vermissten

17415. Siebzehntausendvierhundertfünfzehn. Diese Zahl steht im Mittelpunkt des Romans »Ein Lied für die Vermissten« von Pierre Jarawan. Es ist die Anzahl der Menschen, die während des Bürgerkriegs im Libanon verschwanden – und bis heute vermisst werden. Während des Bürgerkriegs, der von 1975 bis 1990 vor allem in und um Beirut ausgetragen wurde, der eine der schönsten und multikulturellsten Städte des Mittelmeers in Schutt und Asche legte und der tiefe Wunden in den Seelen der Menschen dort hinterlassen hat. Diese Wunden sind nur schlecht vernarbt, sie drohen ständig wieder aufzureißen – doch von offizieller Seite wird alles getan, um nicht darüber reden zu müssen. Pierre Jarawan – dessen Eltern den Libanon 1982 verließen, als die alltägliche Gewalt einen Höhepunkt erreicht hatte – erzählt in seinem Roman die Geschichte von Amin, der auf der Suche nach der Vergangenheit seiner Familie uns Leser tief hineinführt in die Tragik jener Zeit. „Denkmal für die Verschwundenen“ weiterlesen