Menschen auf der Suche

Doris Knecht: weg

Menschen, die auf der Suche sind: Dies ist wohl das literarische Motiv überhaupt. Es gibt unzählige Varianten, und ich werde nicht müde, die Protagonisten der unterschiedlichsten Romane dabei zu begleiten, wie sie losziehen, um etwas zu finden. Einen Weg, eine Zukunft, eine verschwundene Person – und dabei meist auch sich selbst. Auch wenn die Ausgangslagen oft ähnlich erscheinen mögen, sind die Ausgestaltungen der Handlungen immer wieder neu. Und mit »weg« hat Doris Knecht eine sehr gelungene hinzugefügt.

Zwei Personen stehen im Zentrum der Erzählung, die verschiedener nicht sein können. Da ist Heidi, eine Frau, die keine Überraschungen mag, vollkommen unspontan ist, gerne alles unter Kontrolle behält und sich mit ihrer Familie in einer spießigen Vorortsiedlung in der Nähe von Frankfurt verschanzt hat, »eingemauert in der Vertrautheit ihrer kleinen Welt, in ihrer eigenen Übersichtlichkeit.« Denn gleichzeitig macht ihr alles Unvorhergesehene Angst, eine tief sitzende Unsicherheit prägt ihr Verhalten. Ein Mensch, um den ich im realen Leben einen großen Bogen machen würde. 

Und da ist Georg, ein lässiger Typ aus Wien. Einer, der nie etwas hat anbrennen lassen, der ziel- und planlos in den Tag hineinlebte, sich selbstsicher durch die Welt bewegt und seit ein paar Jahren mit seiner Familie einen Landgasthof vor den Toren Wiens betreibt. Immer noch etwas chaotisch, aber auf seine Weise im Erwachsenenleben angekommen. »Er liebt die Natur. Früher wusste er das nicht, da hat er sie wenig respektiert, großzügig ignoriert, gegen die Großstadt eingetauscht und lange nicht ein bisschen vermisst.« Er und seine Frau Lea sind Großstadtflüchtlinge, denen die Hektik und der städtische Alltag zuviel wurden und die jetzt einen Neuanfang gewagt haben; es ist eine Mischung aus Bodenständigkeit und nachhaltiger Lebensweise. 

Als Heidi vor vielen Jahren für eine Zeit in Wien lebte, hatten die beiden eine kurze, aber intensive Beziehung. Natürlich passte es absolut nicht, aus gegenseitiger Anziehung wurde schnell gegenseitiges Unverständnis bis hin zu verächtlicher Ablehnung: Heidi hatte keinerlei Sinn für Georgs Planlosigkeit, er wiederum fand Heidis zwanghafte Durchtaktung ihres Lebensentwurfs geradezu grotesk. 

Zwei Menschen also, die sich eigentlich schon längst aus den Augen verloren hätten – gäbe es da nicht ihre gemeinsame Tochter Charlotte. Als sie ein paar Monate alt war, ging Heidi zurück nach Deutschland und Georg wurde zu einem Ferienvater, der seine Tochter nur aus der Ferne aufwachsen sah. 

Inzwischen ist Charlotte erwachsen, lebt ihr eigenes Leben. »Nach all den Nächten, in denen sie nicht wusste, wie es Charlotte ging, wo Charlotte war, was Charlotte trank, rauchte und einwarf, bei wem oder mit wem Charlotte schlief, nach all den entsetzlichen, zehrenden Ängsten und trotz all dieser Ängste war Charlotte immer noch am Leben, war Charlotte nicht gestorben.«

Doch jetzt ist Charlotte verschwunden. 

Heidi ruft Georg an, um ihn besorgt darüber zu informieren, dass sie schon länger nichts mehr von ihrer Tochter gehört hat, die nicht auf ihre Nachrichten reagiert. Mit diesem Anruf beginnt die Geschichte – und nach erstem Abwiegeln, darauf folgenden Streitereien und weiteren Details zum Verschwinden Charlottes schickt Doris Knecht die beiden unterschiedlichen Menschen auf die Suche. Eine Suche, die sie erst nach Vietnam und dann nach Kambodscha führen wird, vom dröhnenden Moloch, der sich Ho-Chi-Minh-Stadt nennt, über immer schlechter werdende Straßen in immer kleinere Orte, mit Booten die Flüsse entlang, von Backpacker zu Backpacker folgen sie der schwachen Spur, die ihre Tochter hinterlassen hat. 

Wir begleiten die beiden in ihrer erzwungenen Gemeinschaft auf ihrem Weg: Georg, weltläufig, reiseerfahren und entspannt zusammen mit Heidi, ängstlich, verschreckt und eingeschüchtert – es ist die allererste Flugreise ihres Lebens. Kann das gut gehen? Doch nach und nach erleben wir die Geschichte einer Verwandlung. 

Mit ihrer Protagonistin Heidi hat Doris Knecht eine ganz besondere Figur geschaffen. Ganz bewusst schrieb ich zu Beginn, dass ich im realen Leben um jemand wie sie einen großen Bogen machen würde – doch diese anfängliche Antipathie bröckelte zusehends, je länger ich den beiden auf ihrer Suche folgte. Die Angst um ihre Tochter wird für Heidi zur Triebfeder ihres Handelns. Sie bringt sie dazu, sich bisher für sie undenkbaren Herausforderungen zu stellen, Hindernisse zu überwinden und die eigene Unsicherheit hinter sich zu lassen. Es ist ein schleichender Prozess, den die Autorin sich sachte, aber unaufhaltsam entwickeln lässt. Denn die wahre Stärke eines Menschen liegt in der Überwindung der Hindernisse, die sich jeder selbst in den Weg legt – und bei Heidi sind das verdammt viele. Und langsam, ganz langsam findet sie aus dem gedanklichen Käfig, in dem sie schon ihr ganzes Leben verbringt, heraus. 

»Man muss die Angst kontrollieren, sonst überlebt man nicht. Sonst darf man keine Kinder haben, keinen Mann, keine Freunde – wenn man sich von der Angst auffressen lässt, dass einem die Menschen, das Glück jederzeit genommen werden kann.«

In »weg« geht es nicht um die verschwundene Charlotte und nicht um den charismatischen Georg. Es ist die Geschichte von Heidi, einer unsicheren Frau, die es schafft, sich ihren Ängsten zu stellen und damit über sich selbst hinauszuwachsen. Das ist großartig zu lesen. Und als Leser habe ich staunend erlebt, wie meine anfängliche verächtliche Abneigung erst zu Verständnis wurde und dann zu Sympathie. 

Buchinformation
Doris Knecht, weg
Rowohlt Berlin
ISBN 978-3-7371-0038-0

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4 Antworten auf „Menschen auf der Suche“

  1. Vielen Dank für den Tipp. Das Buch ist auf meiner Wunschliste gelandet. Und dich habe ich in meinem Post Leselaunen verlinkt. Ich hoffe, dass war in Ordnung, sonst nehme ich dich wieder raus. Liebe Grüße
    Britta

  2. Guten Morgen!
    Ich habe das Buch noch nicht gelesen, aber es hört sich wirklich interessant an, abenteuerlich, nachdenklich.
    Gut, das mit diesem Buch wahrscheinlich Menschen ein Weg aufgezeigt wird seine Ängste vor Veränderungen zu besiegen.
    Denn gerade die Angst vor dem was man nicht kennt, bringt ja auch die Aggression gegenüber anderen Menschen und Kulturen die man nicht kennt.
    Ich werde mir das Buch merken.

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