Während momentan darüber diskutiert wird, ob und wie die Frankfurter Buchmesse 2020 in Zeiten von Corona stattfinden kann, denke ich an die Messe im letzten Herbst. Genauer gesagt, an ein Gespräch mit der Autorin Mareike Fallwickl, denn mit jenem Gespräch im Hinterkopf habe ich kürzlich ihr Buch »Das Licht ist hier viel heller« ein zweites Mal gelesen. Und wenn man weiß, dass der Plot ursprünglich anders geplant war, das Schreiben aber von der Realität überholt wurde, dann entfaltet das Buch eine andere Wirkung. Intensiver. Und wütender.
Mareike und ich haben uns vor einigen Jahren über das Bloggen kennengelernt; ihr Literaturblog Bücherwurmloch ist immer einen Besuch wert. Als ihr Debütroman »Dunkelgrün, fast schwarz« erschien, war ich erst sehr gespannt und dann sehr begeistert. Und es war mir eine große Ehre und Freude, während der Leipziger Buchmesse 2018 eine Wohnzimmerlesung mit ihr zu moderieren. Dann, über ein Jahr später, lag ihr zweiter Roman in den Buchhandlungen. Auch in »Das Licht ist hier viel heller« werden die Nuancen toxischer Beziehungen im unverkennbaren Fallwickel’schen Tonfall fein herausgearbeitet, doch ist dieses Werk darüber hinaus eine leidenschaftliche Anklage gegen bestehende gesellschaftliche Verhältnisse in Zeiten von #MeToo.
Auf den ersten Blick dreht sich die Geschichte um den alternden Schriftsteller Maximilian Wenger. Einst war er einer der erfolgreichsten Autoren, gefeiert, mit Literaturpreisen überhäuft und ein Macho durch und durch. Doch die Zeiten haben sich geändert, nach Jahren der Schreibblockade und des Ausruhens auf seinem Ruhm treffen wir ihn in einer kleinen Wohnung, übergewichtig, ungepflegt, halb vergessen. Seine Frau hat ihn aus dem großen Haus geschmissen und erlebt mit ihrem jungen Fitnesstrainer einen zweiten Frühling. Wenger ist am Ende. Dann kommen die Briefe ins Spiel. Adressiert sind sie an seinen Vormieter, aber von Neugier getrieben liest er sie – und erfährt nach und nach die Geschichte einer verweifelten Frau. Und baut daraus seinen Comeback-Roman zusammen.
Auf den zweiten Blick ist die eigentliche Hauptfigur Wengers Tochter Zoey. Sie und ihr Bruder Spin sind zwei junge Erwachsene, die auf dem Weg ins Leben irgendwo verloren gegangen sind, unbemerkt von ihren mit sich selbst beschäftigten Eltern. Die Dysfunktionalität ihrer Familie ist überwältigend, »wenn Wenger an seine Kinder denkt, dann wie an Nebenfiguren in einem Roman. Sie sind da, aber man konzentriert sich nicht so auf sie, man glaubt, sie seien nicht so wichtig. Doch das ist nicht wahr. Denn vernachlässigt man die Nebenfiguren, bricht das Ganze zusammen. Was man allerdings erst merkt, wenn der Geschichte, nein, dem ganzen Leben plötzlich die Stimmen fehlen, die die Melodie so vielschichtig gemacht haben.«
Die Ich-Erzählerin Zoey wird zum Opfer unserer patriarchalisch geprägten Gesellschaft, erfährt sexuelle Gewalt, verliert ihr Vertrauen – und weder die Mutter in ihrem Selbstoptimierungswahn noch der Vater bekommen auch nur das Geringste davon mit. Und je mehr wir über Wenger erfahren, desto klarer wird es, dass Männer wie er Teil jener patriarchalischen Strukturen sind. Für ihn stellen Frauen schmückendes Beiwerk dar; in seinen Tagen als Star der Literaturszene war er berüchtigt für seine Affären. Alte Geschichten tauchen auf, die ihm bei seinem Comeback zwar um die Ohren fliegen, aber letztendlich von ihm abperlen, ohne dass er verstehen würde, um was es geht. Und ohne ein Verständnis für seine Verantwortung und seine Schuld. In unserem Gespräch formulierte es Mareike Fallwickl wunderbar: »Wenn Wenger einen Spiegel vorgehalten bekäme, dann würde er nur seine Frisur darin richten.«
Wenger als alter weißer Mann par excellence und seine Tochter Zoey, die unter dem leiden muss, für das er steht – diese beiden Gegenstimmen bilden den eigentlichen Spannungsbogen des Romans; dazu kommt das Schicksal einer Unbekannten, das wir aus den Briefen erfahren und dessen Ungeheuerlichkeit atemberaubend ist. Die Briefe sind dabei der rote Faden, der sich durch »Das Licht ist hier viel heller« zieht, der alles miteinander »vernäht«, wie sich die Autorin ausdrückte.
Dann aber platzt die reale Welt in die Handlung. Die Aufdeckung des Skandals um Harvey Weinstein wird ausführlich dargestellt und mit den fiktiven Geschehnissen des Romans verwoben – im Zuge des Skandals kommen Wengers alte Verfehlungen ans Tageslicht. Diesen Part fand ich irritierend, es war mir zu unsubtil, wirkte schon beinahe wie eine Nachrichtensendung auf Papier. Literatur hat diese realen Bezüge als Erklärung nicht nötig, um ein Anliegen zu formulieren, um auf Missstände in unserer Gesellschaft aufmerksam zu machen; so dachte ich damals. Und war ein wenig enttäuscht. Bis zu meinem Gespräch mit Mareike Fallwickl.
Sie erzählte mir von der Entstehungsgeschichte des Buches. Denn eigentlich war »Das Licht ist hier viel heller« nicht als Sexismus-Drama geplant gewesen. Aber als sie 2017 mit dem Schreiben begonnen hatte, überschlugen sich die Ereignisse, ab Oktober kamen fast täglich neue Details rund um den Weinstein-Skandal ans Tageslicht; der Hasthag #MeToo ging durch die Decke. Längst ging es dabei nicht nur im eine einzige Person: Weinstein wurde zum Symbol eines kranken Systems, einer Gesellschaft, in der Frauen belästigt, sexuell genötigt, vergewaltigt werden. Und in der viel zu wenig Menschen bisher darüber geredet haben.
Dieses Aufplatzen einer lange bestehenden Blase des Schweigens und Wegsehens ereignete sich während »Das Licht ist hier viel heller« im Enstehen begriffen war. Und die Wut über die Nachrichten, über die Zustände in unserer Welt und in unserer Gesellschaft, sie flossen direkt in den Roman mit ein – der Schreibprozess diente als Ventil. Wäre das Manuskript mit einer mechanischen Schreibmaschine geschrieben worden, dann hätten sich die Lettern tief in das Papier eingegraben. Das Hereinplatzen der Realität in die Handlung, das mich zuerst gestört hat, war notwendig. Denn es macht dieses Buch zu etwas ganz Besonderem: zu einem Dokument des Zorns.
Harvey Weinstein ist inzwischen zu 23 Jahren Gefängnis verurteilt worden, aber es bleibt noch viel zu tun, damit diese Welt eine bessere wird. Und vielleicht lesen wir Mareike Fallwickls Buch in zehn Jahren und denken, ach ja, so war das damals.
Schön wäre es.
Buchinformation
Mareike Fallwickl, Das Licht ist hier viel heller
Frankfurter Verlagsanstalt
ISBN 978-3-627-00264-0
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