Hundert beste Bücher: Der ZEIT-Kanon

Hundert beste Buecher: Der ZEIT-Kanon

Über die Zusammenstellung eines literarischen Kanons lässt sich trefflich streiten und die Frage, welche Bücher man gelesen haben sollte, beschäftigt literaturbegeisterte Menschen seit eh und je. Und klar, wenn ein Kanon wie derjenige der ZEIT den Titel »Die 100 besten Bücher« trägt, ist eine Diskussion vorprogrammiert. Spannend ist dabei, wie sich die Zusammenstellung literarischer Kanons im Laufe der Jahre ändert. Die erste ZEIT-Liste trug den Titel »Die ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher«, erschien ab 1978 erst wöchentlich in der titelgebenden Zeitung und 1980 als Suhrkamp-Taschenbuch; Herausgeber war Fritz J. Raddatz. Eine Ausgabe dieses Taschenbuchs begleitet mich seit vielen Jahren und ich weiß nicht, wie oft ich darin gelesen habe. Im Herbst 2023 erschien eine aktualisierte Version dieser Liste, wobei »aktualisiert« eigentlich das falsche Wort ist – komplett überarbeitet würde besser passen. Denn die 100 Bücher wurden neu zusammengestellt; nur 24 Titel sind auch in der alten Liste enthalten, also nicht einmal ganz ein Viertel. Und diesmal trägt der Kanon selbstbewusst den eingangs erwähnten, etwas ergänzten Titel: »Die 100 besten Bücher – Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur«. Mit der schönen Unterzeile: »100 Gefährten fürs Leben«. 

Etwas mehr als 40 Jahre liegen zwischen den beiden Listen und alleine diese beiden Kanons der ZEIT miteinander zu vergleichen zeigt, wie sich unsere Wahrnehmung von Literatur verändert hat. Wer sich einen Eindruck verschaffen möchte: Auf Wikipedia sind sie gegenübergestellt. Bereits die Zusammensetzung der verschiedenen Jurys ist interessant. 1978 bestand sie aus Rudolf Walter Leonhardt, Hans Mayer, Rolf Michaelis, Fritz J. Raddatz, Peter Wapnewski und Dieter E. Zimmer. Im Jahr 2023 wurde sie deutlich erweitert und ist, nun ja, nicht ganz so männerlastig: Antonia Baum, Alexander Cammann, Ronald Düker, Katrin Hörnlein, David Hugendick, Ijoma Mangold, Iris Radisch, Elke Schmitter, Deborah Schnitzler, Adam Soboczynski, Katharina Teutsch, Elisabeth von Thadden und Volker Weidermann. 

100 beste Bücher also. Wie gesagt, darüber kann man wunderbar streiten. Und klar, bei manchen Titeln frage ich mich, warum sie auf der Liste stehen und vermisse gleichzeitig andere, die in meinen Augen unbedingt dabei sein sollten, nein, müssten. So geht es wahrscheinlich den meisten Leserinnen und Lesern, die sich die 100 Bücher anschauen. Vor allem aber – und ich wette, das macht fast jeder – gleicht man einen solchen Kanon mit dem eigenen Leserleben ab: Welche Bücher davon hat man schon gelesen, welche nicht? Welche haben einen begeistert, welche haben das eigene Leben geprägt? Und welche hat man abgebrochen oder ratlos zurückgestellt oder wütend in die Ecke geschmissen? Welche möchte man unbedingt noch lesen und welche auf keinen Fall? Genau das habe ich gemacht und schreibe nun meine persönlichen Anmerkungen in die Liste hinein. Und ganz am Ende nenne ich die Titel, die mir in diesem Kanon fehlen.

Der ZEIT-Kanon: Die 100 besten Bücher – Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur

Chimamanda Ngozi Adichie: Americanah
Steht hier im Regal bereit, möchte ich lesen.

Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit
Steht hier im Regal bereit, gehört zum Russland-Leseprojekt, aber ich kenne es noch nicht.

Dante Alighieri: Die göttliche Komödie
Zwei Ausgaben haben sich hier angesammelt und eines Tages werde ich alle Hoffnung fahren lassen und über die erste Seite hinauskommen.

Isabel Allende: Das Geisterhaus
Habe ich gelesen, damals, Anfang der Neunziger. Auch wenn ich mich nicht mehr im Detail an alles erinnern kann, ist die Stimmung des Romans bis heute im Kopf geblieben.

Anonymus: Die Reise in den Westen
Ein Werk der klassischen chinesischen Literatur, das seit Jahrhunderten existiert und von dem hier bei uns kaum jemand gehört hat? Auf jeden Fall werde ich mir das genauer anschauen.

Bettina von Arnim: Die Günderode
Irgendwann. Vielleicht. 

Margaret Atwood: Der Report der Magd
Ich habe die großartige Graphic-Novel-Adaption von Renée Nault gelesen, für die Margaret Atwood selbst den Text entsprechend angepasst hat. Zählt das? Aber sicherheitshalber steht auch der Roman hier schon bereit.

Jane Austen: Stolz und Vorurteil
Von den zehn Verfilmungen des Buches habe ich fast die Hälfte gesehen, aber noch nie den Roman gelesen. Das sollte sich ändern.

Ingeborg Bachmann: Das dreißigste Jahr. Erzählungen
Tatsächlich habe ich noch keinen Text von Ingeborg Bachmann gelesen. Nach der Inhaltsbeschreibung von »Das dreißigste Jahr« glaube ich allerdings kaum, dass ich mich dafür begeistern könnte. 

James Baldwin: Giovannis Zimmer
Steht schon lange auf der Liste der Bücher, die ich unbedingt lesen möchte. 

Honoré de Balzac: Verlorene Illusionen
Irgendwann. Möglicherweise.

Harriet Beecher Stowe: Onkel Toms Hütte
Nie gelesen. Soll ich? Soll ich nicht? 

Die Bibel | Lutherbibel Standardausgabe
In der Bibel macht man immer wieder grandiose textliche Entdeckungen, aber sie am Stück zu lesen kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. 

Maxim Biller: Esra
Nie gelesen. Aber eigentlich interessiert es mich auch nicht. 

Giovanni Boccaccio: Das Dekameron
Die Renaissance fand ich schon immer eine faszinierende Epoche und der grandiose Prachtband von Tobias Roth hat mich vollkommen für diese Zeit begeistert. Daher hat auch »Das Dekameron« einen festen Platz in der Liste der Bücher, die ich unbedingt lesen möchte.

Roberto Bolaño: 2666
Darum herumgeschlichen, mich bisher aber nicht rangetraut.

Heinrich Böll: Die verlorene Ehre der Katharina Blum
Etliche der Romane von Heinrich Böll kenne ich, diesen tatsächlich nicht. Die bunderepublikanische Piefigkeit, die in ihnen geschildert wird, strahlen die Bücher irgendwie auch selbst aus – davon hatte ich dann irgendwann genug. Dabei wird es wohl bleiben. Große Ausnahme: »Irisches Tagebuch« – das wird immer ein Sehnsuchtsbuch sein. 

Charlotte Brontë: Jane Eyre
Muss ich endlich lesen. Unbedingt!

Emily Brontë: Sturmhöhe
Das auch. Ebenso unbedingt. 

Georg Büchner: Lenz
Steht hier im Regal bereit, möchte ich lesen. Nach der Lektüre von Christopher Clarks »Frühling der Revolution« umso dringlicher. 

Michail Bulgakow: Der Meister und Margarita
Dieses Buch hatte ich mir 1994 für eine zwölfstündige Zugfahrt nach Rom eingesteckt. Und habe keinerlei Erinnerung mehr an die Reise, so abgetaucht war ich in Bulgakows Meisterwerk. Immerhin hat das Umsteigen in Mailand geklappt – und kurz vor Roma Termini hatte ich es durchgelesen. 

Albert Camus: Der Fremde
Einst begeistert gelesen. Durch den Roman »Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung« von Kamel Daoud dann Jahre später ein zweites Mal entdeckt. 

Miguel de Cervantes: Don Quijote von der Mancha
Steht hier im Regal bereit, möchte ich lesen. Später. 

Joseph Conrad: Herz der Finsternis
Steht hier im Regal bereit, möchte ich unbedingt lesen.

Joan Didion: Das Jahr magischen Denkens
Eine Autorin, deren Werk ich noch entdecken möchte. Dieses Buch könnte ein Anfang sein

Assia Djebar: Fantasia
Wieso kenne ich von Assia Djebar noch nichts? Das muss sich ändern.

Fjodor Dostojewski: Die Dämonen
Vor über dreißig Jahren begeistert gelesen, aber die Neuübersetzung von Swetlana Geier wartet noch im Regal. 

Annette von Droste-Hülshoff: Die Judenbuche
Schullektüre. Mehr muss ich dazu wahrscheinlich nicht sagen. Es ist ein Wunder, dass mir damals der Deutschunterricht nicht die Freude am Lesen vollständig ausgetrieben hat. Erst Jahrzehnte später habe ich mich wieder mit dieser Dichterin und ihrem Leben beschäftigt. Und das lohnt sich sehr.

Umberto Eco: Der Name der Rose
Ein Jahrhundertwerk, das mit mir gemeinsam älter geworden ist. Und das ich sicherlich auch noch ein weiteres, ein drittes Mal lesen werde.

George Eliot: Middlemarch
Steht hier im Regal bereit, möchte ich unbedingt lesen.

Annie Ernaux: Die Jahre
Wirklich interessiert haben mich die Bücher von Annie Ernaux noch nie. Zwei hatten sich zwar trotzdem in meinem Regal eingefunden, aber nachdem die Autorin den grotesken »Strike Germany«-Aufruf unterzeichnet hatte, wurden sie aussortiert und verschenkt. 

F. Scott Fitzgerald: Der große Gatsby
Ein Roman, der – obwohl schon vor etlichen Jahren gelesen – viele Bilder im Kopf zurückgelassen hat. Allen voran die Reklame mit Dr. T. J. Eckleburgs Augen, die alles im Blick behalten. 

Gustave Flaubert: Madame Bovary
So viel Tragik gemischt mit fein dosierter Boshaftigkeit: ein grandioses Werk. Ilke Sayan vom Kanal BuchGeschichten und ich haben es gemeinsam gelesen und uns darüber ausgetauscht

Theodor Fontane: Effi Briest
Gelesen. Hat aber trotz des tragischen Finales keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Jonathan Franzen: Die Korrekturen
Immer wenn ich sage, das ich »Die Korrekturen« nicht gelesen habe, kommt als Reaktion: »Echt jetzt? Solltest du unbedingt.« Mache ich dann wohl mal. Unbedingt. 

Max Frisch: Stiller
Gelesen. Gemocht. Aber einmal reicht. Unvergessen natürlich der erste Satz: »Ich bin nicht Stiller«. Sobald ich ihn höre, bin ich wieder in der Geschichte. Und in einer Lebensphase, in der ich das Lesen erst wieder neu für mich entdecken musste.

Gabriel García Marquez: Hundert Jahre Einsamkeit
»Viele Jahre später, vor dem Erschießungskommando, sollte Oberst Aureliano Buendía sich an jenen fernen Nachmittag erinnern, als sein Vater ihn mitnahm, das Eis kennenzulernen.« Nach diesem perfekten ersten Satz gab es für mich kein Halten mehr und ich habe das Buch geradezu aufgesogen. Auch wenn es nicht immer ganz einfach war, die einzelnen Buendias über sechs Generationen auseinanderzuhalten. Lange her, sehr lange sogar. Aber unvergessen. 

Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie Erster und Zweiter Teil
Erster Teil: Gelesen und für grandios befunden. Zweiter Teil: Irgendwann.

Günter Grass: Die Blechtrommel
Schon nachdem ich die Verfilmung gesehen habe, dachte ich mir, dass ich das Buch nicht mögen würde. Und so war es auch. Abbruch nach einer Handvoll Seiten – die Sprache hat eine solche Abneigung in mir ausgelöst, dass ich keinesfalls weiterlesen konnte. Oder werde. Und Aal esse ich bereits seit dem Film nicht mehr. 

Wassili Grossman: Leben und Schicksal
Ein Buch, dass ich schon längst gelesen haben möchte. Grossmann gilt als »Tolstoj des 20. Jahrhunderts« und dieses Werk ist schon selbst ein Stück Geschichte. 

Heinrich Heine: Deutschland. Ein Wintermärchen
Als Hörbuch gehört. Begeistert gewesen von der poetisch-sarkastischen Sprache. 

Ernest Hemingway: Der alte Mann und das Meer
Mehr Drama mit weniger Mitteln geht literarisch kaum. Ein perfektes Buch.

Judith Hermann: Sommerhaus, später
Die fragile Aufbruchsstimmung der Neunziger wird in diesem Erzählband auf eine so unnachahmlich schön-melancholische Weise beschrieben, wie es kaum ein anderes Werk vermag, das in jenen Jahren entstanden ist. Ich mochte es sehr.

Hermann Hesse: Der Steppenwolf
Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich mich beim Lesen des letzten Teils gefragt habe, welche Drogen Hermann Hesse wohl genommen haben mag. Doch in meinem Leserleben hat »Narziss und Goldmund« eine wichtigere Rolle gespielt – wegen einer kurzen Textstelle

Patricia Highsmith: Der talentierte Mr. Ripley
Großartiges Buch, großartige Autorin. Aber ein Platz auf der 100er-Liste? Finde ich dann doch überraschend.

Homer: Odyssee
Die Geschichte des Odysseus begleitet mich seit meiner Kindheit, seit der Zeit, in der ich die ersten Bücher lesen konnte. Wieder und wieder habe ich das Buch mit der Nacherzählung von Walter Jens aus der Bibliothek ausgeliehen und war so davon begeistert, dass ich irgendwann anfing, den Text abzuschreiben – weil ich ihn selbst besitzen wollte. Die Erwachsenen-Variante kenne ich nicht, aber ich finde, es zählt trotzdem. Es ist eines der Bücher meines Lebens.

Michel Houellebecq: Elementarteilchen
Das Buch habe ich gelesen, als ich 1999 für ein paar Monate in einem fast leeren Zimmer in Berlin wohnte – nur eine Matratze, einen Koffer Klamotten und einen kleinen Stapel Bücher hatte ich dabei. An die Zeit denke ich gerne zurück, an den Roman mit seinem bizarren Ende nicht. 

Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin
Nie gelesen. Dabei wird es bleiben.

James Joyce: Ulysses
Den »Ulysses« hatte ich auf einer Fahrradtour dabei; es ging von Freiburg durch Frankreich bis in die Camargue. Abends vor dem Zelt las ich immer wieder ein paar Seiten, war aber viel zu müde, um mich auf dieses komplexe Werk einzulassen. Knapp bis Seite 100 bin ich gekommen und dachte damals, dass ich Zuhause noch einmal von vorn beginnen und mich intensiver mit dem Buch beschäftigen werde. Das war 1992. Und »Ulysses« wartet noch immer. 

Franz Kafka: Die Erzählungen
Es mag etwas pathetisch klingen, aber es ist wahr: Kafkas Werk hat nicht nur meine Leserbiographie geprägt, sondern mein Leben. Und mit den Erzählungen hat alles angefangen

Han Kang: Die Vegetarierin 
Nie gelesen. Der Klappentext und eine Handvoll Rezensionen haben mir genügt, um es dabei zu belassen.

Daniel Kehlmann: Die Vermessung der Welt
Das Buch hatte ich mir gekauft, als alle darüber gesprochen haben. Und wie es dann oft so ist: Es stand fast zehn Jahre im Regal bis ich es gelesen habe. Und etwas enttäuscht war. Sein Roman »Tyll« wiederum – zwölf Jahre nach der Vermessung erschienen – hat mich vollkommen begeistert. 

Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen
Ein Werk, das mich nie wieder losgelassen hat und das zu den Büchern meines Lebens gehört.

Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen
Irmgard Keun müsste viel, viel bekannter sein, als sie es heute ist. Und ich müsste zumindest dieses Buch von ihr endlich, endlich lesen. 

Heinrich von Kleist: Sämtliche Erzählungen
Als ich vor nicht allzu langer Zeit an einem trüben Wintertag am Kleistgrab am Wannsee stand, hatte ich mir vorgenommen, endlich mehr von ihm zu lesen, da ich bisher nur »Prinz von Homburg« kenne. Seine Werke stehen hier bereit und die Erzählungen könnten gut passen. 

Karl Ove Knausgård: Kämpfen
Wenn ich autofiktionale Romane lese, dann die von Karl Ove Knausgård. Bis »Kämpfen« bin ich noch nicht gekommen, aber sein Stil, seine Beobachtungsgabe, sein unglaubliches Abschweifungstalent, um doch wieder genau auf den Punkt zu kommen – das alles begeistert mich sehr. 

Christian Kracht: Faserland
Als »Faserland« 1995 erschien, passte es genau in meine damalige Lebensphase und ich habe es fünf oder sechs Mal gelesen. Daher freue ich mich sehr, diesem Roman hier wiederzubegegnen. 

Ágota Kristóf: Das große Heft
Ein Buchhändler-Kollege hatte mir irgendwann in den Neunzigern dieses Buch empfohlen, ich habe es gelesen. Und auch wenn ich mich nur noch bruchstückhaft an den Inhalt erinnere, weiß ich noch, wie sehr mich die Geschichte verstört hat. Dieses Gefühl ist geblieben und sofort wieder da, wenn ich nur den Titel sehe.

Giuseppe Tomasi di Lampedusa: Der Leopard
Die zentrale Aussage macht diesen Klassiker zu einem Buch für unsere Zeit: »Wenn wir wollen, daß alles so bleibt, wie es ist, muss alles sich ändern.« Möchte ich lesen. Die Verfilmung von Luchino Visconti, selbst schon ein Klassiker, mochte ich sehr.

Harper Lee: Wer die Nachtigall stört
Das ist ein Beispiel für ein Buch, von dem man schon so viel gehört hat, dass man glaubt, es gar nicht mehr selbst lesen zu müssen – zumindest mir geht es so. Aber das kann sich ja noch ändern.  

Doris Lessing: Das goldene Notizbuch
Bisher hatte ich dieses Werk nicht auf der Liste der Lesevorhaben. Und ich befürchte, dass sich daran nichts ändern wird.

Gotthold Ephraim Lessing: Nathan der Weise
Ein zeitloses Plädoyer für Toleranz, aber leider auch ein Deutschunterricht-Trauma. Und bis heute wird 17jährigen mit diesem Werk die Freude an Literatur ausgetrieben, wie ich in meinem Umfeld mehrfach erlebt habe. 

Astrid Lindgren: Ronja Räubertochter
Als Kind war ich Team Räuber Hotzenplotz oder Team Jim Knopf. Die Bücher von Astrid Lindgren mochte ich nie so wirklich, von den Michel-Geschichten mal abgesehen. Daher ist auch »Ronja Räubertochter« nicht bei mir vorbeigekommen. 

Clarice Lispector: Nahe dem wilden Herzen
Beim Lesen des Klappentextes ganz dezent auf den Muss-ich-nicht-lesen-Stapel geschoben. 

Curzio Malaparte: Die Haut
Brachial. Wütend. Polemisch. Diese drei Adjektive fallen mir als erstes nach der Buchvorstellung in der ZEIT-Liste ein. Das macht mich sehr neugierig auf diesen Roman, von dem ich bisher nur den Titel kannte.

Hilary Mantel: Wölfe
Die britische Wochenzeitung New Statesman brachte es seinerzeit perfekt auf den Punkt: »Wer ›Wölfe‹ als historischen Roman bezeichnet, hält ›Moby Dick‹ für ein Buch über Fischfang.« Es ist ein epochales Werk und wenn man die Formulierung »große Literatur« verwenden mag: Hier ist sie voll und ganz angebracht. 

Thomas Mann: Buddenbrooks
Wenn ich je etwas von Thomas Mann lesen sollte, wird es dieser Roman sein. Er steht jedenfalls schon bereit.

Herman Melville: Moby-Dick
Zwei Mal habe ich dieses monumentale Werk gelesen. Das erste Mal war es mein Begleiter, als ich nach dem Studium mit dem Zelt in der Toskana unterwegs war. Dass passte vom Ambiente zwar nicht ganz, aber dieses Buch ist untrennbar mit jener Zeit verknüpft, als ein neuer Lebensabschnitt an die Türe klopfte.

Eva Menasse: Dunkelblum
Angefangen. Abgebrochen. Verschenkt. Bin nicht reingekommen. 

Michel de Montaigne: Essais
Den großformatigen Prachtband aus dem Eichborn Verlag habe ich 1998 bei einem Gewinnspiel gewonnen. Die Texte machen großen Spaß, auch wenn ich längst nicht alle gelesen habe. 

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser
Nachdem mich der Roman »Der eiserne Marquis« so tief in das 18. Jahrhundert geschickt hat, habe ich als zeitgenössisches Werk auch den Anton Reiser fest auf meine Klassiker-Leseliste gesetzt.  

Toni Morrison: Menschenkind
Wartet noch auf den richtigen Lesemoment. 

Herta Müller: Der Fuchs war damals schon der Jäger
Ich weiß noch nicht, ob ich es mögen werde. Muss ich herausfinden. 

Haruki Murakami: Die Chroniken des Aufziehvogels
Mit den Romanen von Murakami komme ich nicht zurecht. Ich weiß nicht, ob es noch einen weiteren Versuch geben wird. 

Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften
Irgendwann. Möglicherweise.

Vladimir Nabokov: Ada oder das Verlangen
Och nö. 

Ovid: Metamorphosen
Wahrscheinlich sollte man die »Metamorphosen« einmal gelesen haben, ist dieses Buch doch ein Schlüsselwerk der europäischen Literaturgeschichte. Da muss ich wohl mal ran. 

Amos Oz: Eine Geschichte von Liebe und Finsternis
Steht hier im Regal bereit, möchte ich unbedingt lesen.

Orhan Pamuk: Cevdet und seine Söhne
Eher nicht. Da springt kein Funke über.

Marcel Proust: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
Falls ich mal viel Zeit habe …

J. K. Rowling: Harry Potter
Das Tor in eine andere Welt, die mich beim (Vor)Lesen mit Haut und Haaren aufgesogen hat. 

Arundhati Roy: Der Gott der kleinen Dinge
Ich wollte dieses Buch seinerzeit immer mal lesen, aber irgendwie hat es sich nie ergeben. Steht heute nicht oben auf der Liste, aber es lauert noch im Hinterkopf. 

Stendhal: Rot und Schwarz
Steht hier im Regal bereit, möchte ich unbedingt lesen.

Ngūgī wa Thiong‘o: Herr der Krähen
Sobald das Wort »Satire« in einem Klappentext auftaucht, bin ich eigentlich immer raus. Der Blick auf die Leseprobe hat mich in diesem Fall aber doch neugierig gemacht. Mal sehen. 

Olga Tokarczuk: Unrast
Noch nicht gelesen, ist irgendwie an mir vorbeigegangen. Aber thematisch passt es.

George Orwell: 1984
»1984« kenne ich tatsächlich noch nicht. Gerade eben aber las ich »Julia« von Sandra Newman, die »1984« aus Sicht der weiblichen Protagonistin neu geschrieben und damit die Perspektive gewechselt hat. Ein spannendes Projekt; übrigens mit Unterstützung der George-Orwell-Erbengemeinschaft. Und jetzt muss ich das Original unbedingt lesen. Endlich.

Sylvia Plath: Die Glasglocke
Viel von gehört, nie gelesen. Werde ich noch. 

Thomas Pynchon: Die Vermessung der Parabel
Was habe ich mich einst durch dieses Buch gequält, Seite für Seite, bis zum Schluss. Und warum? Nur, um mich heute, über zwanzig Jahre später, an nichts mehr davon zu erinnern. Verschwendete Leselebenszeit

Joseph Roth: Radetzkymarsch
Joseph Roth ist für mich einer der wichtigsten Autoren des 20. Jahrhunderts und »Radetzkymarsch« ein vollkommenes Meisterwerk

Salman Rushdie: Mitternachtskinder
Die meisten Bücher Salman Rushdies sind mir zu sperrig, auch wenn jeder schon aus Prinzip den Roman »Satanische Verse« kaufen sollte. »Mitternachtskinder« kenne ich noch nicht, aber es könnte etwas für mich sein. Schaue ich mir mal näher an. 

Lutz Seiler: Kruso
Eine Sprache, die einen ganz eigenwilligen Sog entfaltet und bei mir einen wahren Leserausch ausgelöst hat. 

Zeruya Shalev: Liebesleben
Zeruya Shalev finde ich großartig, nur genau dieses Buch von ihr interessiert mich thematisch überhaupt nicht. 

Mary Shelley: Frankenstein
Steht hier im Regal bereit, möchte ich lesen.

Zadie Smith: Zähne zeigen
Es ist eines dieser Bücher, die ich immer mal gelesen haben wollte, es dann doch nie geschafft habe und mich heute frage, ob ich es immer noch möchte. 

Germaine de Staël: Über Deutschland
Bisher kenne ich nur den Titel, aber interessieren würde mich das Buch sehr. Könnte gut auf die Titelliste des Leseprojekts »Das Weimar-Gefühl« passen. 

Lew Tolstoi: Anna Karenina
»Anna Karenina« mag gesellschaftsgeschichtlich interessanter sein als »Krieg und Frieden«. Doch während mich letzteres so fasziniert, dass ich es auch noch ein viertes Mal lesen werde, hat mir bei »Anna Karenina« eine einmalige Lektüre genügt.

David Foster Wallace: Unendlicher Spaß
Sieht gut aus im Regal. Aber ob ich dazu jemals mehr sagen kann?

Christa Wolf: Der geteilte Himmel
Dieses Buch gehört unbedingt auf diese Liste. Und ich werde es unbedingt noch lesen. 

Virginia Woolf: Mrs. Dalloway
Von Virginia Woolf gibt es das wunderbare Zitat über das Lesen: »Der einzige Rat, den man jemand fürs Lesen geben kann, ist tatsächlich der, keinen Rat anzunehmen, dem eigenen Instinkt zu folgen, den eigenen Verstand zu gebrauchen und zu eigenen Schlussfolgerungen zu kommen.« So viel zu literarischen Kanons. Meine eigene Leserreise hat mich bisher noch nicht zu ihren Werken geführt, aber das kann sich ändern. Einen ersten Vorgeschmack habe ich durch den Sammelband »Prosaische Passionen« erhalten. 

Serhij Zhadan: Internat
Es steht noch nicht im Regal bereit, aber das wird sich ändern – ich möchte dieses Buch unbedingt lesen. 

Hundert beste Buecher: Der ZEIT-Kanon

Das war er nun, mein persönlicher Parforce-Ritt durch den neuen ZEIT-Literaturkanon der 100 besten Bücher. Die zumindest von der Kanon-Jury als die Besten angesehen werden. Bei vielen davon gehe ich mit, andere interessieren mich eher weniger, manche gar nicht. Aber so ist das mit einem Kanon: Letztendlich ist er eine Zusammenstellung von Leseanregungen. Und wenn die Jury anders besetzt gewesen wäre, dann läge nun auch eine andere Liste vor. »Muss« man also diese Bücher lesen? Nein, das natürlich nicht. Aber alle diejenigen, die nicht aus bloßem Eskapismus lesen, sondern die bereit sind, ihr Leben durch die Literatur prägen zu lassen, die mit offenen Augen durch andere Zeiten oder Gesellschaften reisen wollen, die Lebensentwürfe kennenlernen möchten, die den eigenen fremd sind oder gar diametral entgegengesetzt, kurz: Diejenigen, denen die Literatur hilft, sich selbst in unserer Welt zu verorten – denen sei ein Blick auf diesen Kanon ans Herz gelegt. 

Was fehlt? Ein paar Ergänzungsvorschläge

Bei aller Expertise der Jurorinnen und Juroren kann eine solche Zusammenstellung nie wirklich objektiv sein – zu unterschiedlich sind die Lesevorlieben der Menschen. So wird jeder, der die Liste durchgeht, Bücher vermissen oder sich bei anderen fragen, was sie dort zu suchen haben. Das hier sind ein paar derjenigen, die meiner Meinung nach in einem solchen Kanon nicht fehlen sollten: 

Simone de Beauvoir: Alle Menschen sind sterblich
Weil dieses Buch wie kein anderes beschreibt, dass der Sinn des Lebens in seiner Endlichkeit besteht. 

Antonio Tabucchi: Erklärt Pereira
Weil es eines der besten Bücher zum Thema Zivilcourage ist, das ich kenne.

Cormac McCarthy: Die Straße
Weil es ein Buch wie ein permanenter Faustschlag und einer der besten Romane des 20. Jahrhunderts ist. 

Anna Seghers: Das siebte Kreuz
Weil dieses Buch die von Misstrauen und Fanatismus zerfressene Gesellschaft des »Dritten Reiches« so eindrucksvoll schildert, wie es nur wenige andere schaffen. 

Heike Monogatari
Weil das japanische Nationalepos seit siebenhundert Jahren jetzt erst in deutscher Übersetzung vorliegt. Und das gleich zwei Mal. 

Mir würden sicherlich noch weitere Titel einfallen, aber das würde den Rahmen dieses Blogbeitrags dann doch sprengen. Es hat auf jeden Fall großen Spaß gemacht, mich mit dem ZEIT-Kanon der Weltliteratur zu beschäftigen, die alte und die neue Zusammenstellung miteinander zu vergleichen und dabei viele Leseanregungen zu erhalten. Den neuen Kanon habe ich bisher nur als Zeitungsausgabe vorliegen, aber es gibt ihn auch in Buchform. 

Wie findet ihr die Zusammenstellung? Welche Bücher vermisst ihr? Schreibt mir das gerne in die Kommentare. 

Bücherinformationen
ZEIT-Bibliothek der 100 Bücher
1980. Suhrkamp Verlag
ISBN 3-518-37145-2
Nur noch antiquarisch erhältlich

100 Bücher – 100 Lebensgefährten
Die neue ZEIT-Bibliothek der Weltliteratur
2023. ZEIT Edition
Nur im ZEIT-Onlineshop erhältlich

Flaneur der Dämmerung

Helmut Schlaiß: Kafkas Kosmos - eine photographische Spurensuche

»Prag lässt nicht los. Dieses Mütterchen hat Krallen.« Diese häufig zitierten Sätze schrieb Franz Kafka als Neunzehnjähriger, es sind klarsichtige Worte eines jungen Mannes, der den Großteil seines viel zu kurzen Lebens in dieser Stadt verbringen wird. Sie ist sein Geburtsort, der Platz seiner Familie, von der er sich durch die dominante Präsenz seines Vaters nie wirklich lösen kann. Und so wird Prag sein gesamtes Schaffen prägen; die prachtvollen Plätze und düsteren Gassen, die erleuchteten Kaffeehäuser und dunklen Hinterhöfe, die Nebelschwaden, die aus der Moldau aufsteigen, eine mystische, unterschwellig bedrohliche Stimmung, die nachts in den leeren Straßen liegt, das Morbide einer jahrhundertealten Stadt – all das finden wir in Kafkas Werk wieder. »Das Charakteristische der Stadt ist ihre Leere« – eine Notiz aus seinem Nachlass. Heute, ein Jahrhundert nach seinem Tod, kommt einem dieser Satz surreal vor angesichts der Touristenmassen, die sich tagein, tagaus durch die Stadt an der Moldau schieben und sie schon längst zu einer Kulisse degradiert haben. Oder doch nicht? Hat Kafkas Prag im Verborgenen überlebt? Gibt es sie noch, jene Atmosphäre, die sein Leben prägte? Der Photograph Helmut Schlaiß hat sich auf eine Spurensuche begeben – und herausgekommen ist ein prachtvoller Bildband mit dem Titel »Kafkas Kosmos«. „Flaneur der Dämmerung“ weiterlesen

Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Leipziger Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer

Die Leipziger Buchmesse ist seit vielen Jahren ein fester Termin in meinem Kalender. Einer, auf den ich mich jedes Mal besonders freue – denn es ist immer wieder etwas Besonderes, all die literaturbegeisterten und buchaffinen Menschen zu treffen. Nicht nur auf dem Messegelände, sondern in der ganzen Stadt kommen sie zusammen; in unzähligen Veranstaltungsorten, in Cafés, Kneipen, Restaurants, Clubs. Und im Wohnzimmer meines guten Freundes Hannes, der bei jedem Leipzig-Besuch mein Gastgeber ist. Seit 2018 veranstalten wir bei ihm unsere Wohnzimmerlesungen, für die er den größten Raum seiner Wohnung leerräumt, ihn mit Bierbänken ausstattet und den Kühlschrank mit Getränken befüllt. Eine Autorin oder ein Autor tritt auf, das Wohnzimmer ist voller Menschen, von denen wir nur die Hälfte kennen und es sind wunderbare Abende mit guten Gesprächen und spannenden Begegnungen. Dieses Jahr hatten wir Kai Meyer zu Gast und ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über seine Romane »Die Bücher, der Junge und die Nacht« und »Die Bibliothek im Nebel« zu reden. Und über das Leipziger Graphische Viertel, das heute nur noch als Mythos existiert. Vierunddreißig Gäste füllten jeden Quadratzentimeter des Wohnzimmers – es war eine ganz besondere Stimmung. „Wohnzimmerlesung mit Kai Meyer“ weiterlesen

Die Lagune weint um ihre Stadt

Isabelle Autissier: Acqua Alta

Zwei Mal in meinem Leben war ich bisher in Venedig: Im Februar 1997 für einen Tag und im Oktober 2003 fast eine ganze Woche lang. Wie so viele andere Menschen hat auch mich diese Stadt bezaubert – mit ihrer Einzigartigkeit, mit ihrer geschichtsträchtigen Atmosphäre, mit ihrem maroden Charme, mit ihren Nebelschwaden, von denen sie regelmäßig eingehüllt wird und mit ihrer ganz besonderen nächtlichen Stimmung, die schon ans Mystische grenzt. Und trotz aller Touristenmassen hinterlässt sie Bilder im Kopf, die mich seitdem begleiten. Dabei ist die Schönheit Venedigs fragil: Das die Lagunenstadt umgebende, äußerst empfindliche Ökosystem ist durch Industrie und menschliche Gier aus dem Gleichgewicht geraten, während der alles niedertrampelnde Massentourismus Venedig mehr und mehr zu einem Freilichtmuseum verkommen lässt – die Photos der alles überragenden Kreuzfahrtschiffe sind schrecklich anzusehen. Im Roman »Acqua Alta« von Isabelle Autissier geht es um all dies. Die Autorin erzählt die Geschichte einer Familie, die aufs Engste mit Venedig verbunden ist. Mit der stolzen Vergangenheit der Stadt – und mit ihrem Untergang. „Die Lagune weint um ihre Stadt“ weiterlesen

Der Brief mit der Axt

Franz Kafkas Brief mit der Axt

Franz Kafkas Satz mit der Axt und dem Buch und dem gefrorenen Meer kennt wahrscheinlich jeder literaturinteressierte Mensch; er wurde so oft zitiert, dass er fast zu einem Gemeinplatz geworden ist. Leider, muss man sagen, denn es gibt kaum eine Formulierung, mit der sich die Macht der Literatur, des geschriebenen Wortes besser ausdrücken lässt. Besonders, wenn man sich nicht nur diesen einen Satz anschaut, sondern den gesamten Brief, aus dem er stammt. Der zwanzigjährige Franz Kafka berichtet darin von einem überwältigenden Leseerlebnis und der Abschnitt, in dem sich der Axt-Satz befindet, ist nur ein kleiner Teil davon. Es ist sehr leicht, diesen Brief online zu finden, eine schnelle Recherche genügt. Geschrieben wurde er von Kafka in Prag im Januar 1904 an seinen gleichaltrigen Schul- und Studienfreund Oskar Pollak, der zu dieser Zeit ein Semester pausierte. Hier ist er in Gänze. „Der Brief mit der Axt“ weiterlesen

Gestatten?* Larissa Reissner

Steffen Kopetzky: Damenopfer - das Leben von Larissa Reissner

Was für ein Leben! Vermutlich ist das der Gedanke, der mir beim Lesen des Romans »Damenopfer« am häufigsten durch den Kopf ging. Denn auch wenn es sich um ein fiktionales Werk und nicht um eine Biographie handelt, so erzählt Steffen Kopetzky dennoch eine wahre Geschichte. Die Geschichte eines Lebens. Eines kurzen Lebens zwar, das aber so spektakulär verlief, dass alleine schon die Eckdaten klingen wie ein Roman. Denn die 1926 verstorbene Larissa Reissner hatte viele Rollen inne in den knapp dreißig Jahren, die ihr gegeben waren. Die Tochter eines russischen Juristen mit deutschen Wurzeln glaubte fest daran, die Welt zum Besseren verändern zu können. Als Mitglied der Bolschewistischen Partei war sie in der russischen Oktober-Revolution aktiv, kämpfte während des russischen Bürgerkriegs in der Roten Armee und war Kommissarin des Generalstabs der Roten Flotte. Sie trug entscheidend zur Rückeroberung der Stadt Kasan bei; eine der Schlüsseloperationen für den endgültigen Sieg der Bolschewiki über die Weißgardisten. Aber Larissa Reissner focht nicht nur mit der Waffe: Sie war Schriftstellerin, verfasste Reportagen, Zeitungsartikel und Reiseberichte. Ständig unterwegs entwarf sie Pläne, um die Revolution in die Welt hinauszutragen, kannte zahllose Intellektuelle; Boris Pasternak und Leo Trotzki sprachen an ihrem Grab. Und das sind nur ein paar der biographischen Details dieses außergewöhnlichen Lebenslaufes, der sich kaum in Worte kleiden lässt. Doch Steffen Kopetzky hat es geschafft: Mit seinem Roman holt er den Menschen hinter diesen Details aus dem Schatten der Geschichte und bringt uns Larissa Reissner so nahe, wie es fast ein Jahrhundert nach ihrem Tod nur möglich ist. „Gestatten?* Larissa Reissner“ weiterlesen

Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr

Das Kafka-Jahr

Als ich zum ersten Mal etwas von Franz Kafka las, stand ich im Licht einer Straßenlaterne. Es ist lange her und muss im Herbst des Jahres 1990 gewesen sein, aber ich habe diesen Moment, diesen Abend nie vergessen. Vielleicht, weil dabei einiges zusammenkam. Es war kurz nach dem Ende meines Zivildienstes, und beim Start ins Leben war ich gleich in einer Sackgasse gestrandet. Denn ich hatte keine Ahnung, was ich machen sollte, keine Idee, was die Zukunft bringen könnte, keine Perspektive. Ich wohnte zur Untermiete bei einer Kollegin; nicht ganz legal, denn laut Mietvertrag war dies nicht erlaubt – was dazu führte, dass ich immer schnell durch das Treppenhaus huschte und möglichst wenig zu Hause war. Falls man es unter diesen Umständen überhaupt ein Zuhause nennen konnte. Der Zivildienst war gegen einen Job als Altenpflegehelfer eingetauscht worden, das Geld genügte, um jeden Abend auszugehen oder die freien Nachmittage in Cafés zu verbringen. Die nagende Unzufriedenheit wurde dabei durch ständiges Unterwegssein und viel zu wenig Schlaf mehr oder weniger erfolgreich übertüncht. Doch nach einer langjährigen Pause hatte ich einige Monate zuvor das Lesen wieder entdeckt – und in dieser Zeit wurde es mir zur Gewohnheit, immer ein Buch bei mir zu tragen. Eine Gewohnheit, die ich nie wieder abgelegt habe. „Kaffeehaussitzers Kafka-Jahr“ weiterlesen

Mein Lesejahr 2023: Die besten Bücher

Mein Lesejahr 2023: Die besten Buecher

»Manche Menschen sind für die Bücher gemacht, und nur die Ahnungslosen glauben, es sei umgekehrt.« Dieser Satz stammt aus dem Roman »Die Bibliothek im Nebel« von Kai Meyer und er trifft es genau. Das Lesen und die Literatur sind für mich elementare Bestandteile des Lebens; sie geben mir Halt, Orientierung und neue Kraft in einer Welt, die vor unseren Augen zu zerbröseln scheint. Und wie jedes Jahr um diese Zeit stelle ich hier die fünfzehn Werke vor, die mir in den vergangenen zwölf Monaten besonders gut gefallen, die mich begeistert haben und die auch lange darüber hinaus im Gedächtnis bleiben werden. Bei diesem Rückblick sind nicht alle, aber die meisten Bücher tatsächlich im letzten Jahr erschienen, was bei meinen Lesegewohnheiten keinesfalls selbstverständlich ist. Es ist mir nie besonders wichtig, bei der Lektüreauswahl stets auf aktuellem Stand der Verlagsprogramme zu sein – eher im Gegenteil. Oft lagern Bücher jahrelang im Regal, bevor ich sie lese, bevor genau der richtige Zeitpunkt gekommen ist. Und bei diesen war dieser richtige Zeitpunkt da. Aber seht selbst, hier sind sie, die besten Bücher meines Lesejahres 2023. „Mein Lesejahr 2023: Die besten Bücher“ weiterlesen

Das Haben-Müssen-Gen

Alte Buecher

Einmal, es ist schon etwas her, war ich wochenlang damit beschäftigt, meine Bücherregale zu durchforsten, um auszusortieren. Nicht zum ersten und gewiss nicht zum letzten Mal, aber ab und zu ist es einfach nötig. Denn der zur Verfügung stehende Platz ist leider begrenzt, auch wenn er große Teile der Wohnfläche einnimmt. Daher gibt es drei Kriterien, nach denen ich die Bücher auswähle, mit denen ich mich umgeben möchte: Entweder hat mich ein Buch so begeistert oder beeindruckt, dass ich mir vorstellen könnte, es ein weiteres Mal zu lesen – auch wenn das möglicherweise nie stattfinden wird. Oder ich verbinde ein Buch mit einem bestimmten Ereignis in meinem Leben, an das es mich erinnert; viele davon habe ich hier im Blog im Laufe der Jahre vorgestellt. Und natürlich gibt es die zahlreichen ungelesenen Bücher, die auf die Lektüre warten; dies ist mein Lesevorrat. Und im Prinzip kann man davon gar nicht genug haben, ich liebe es, vor den Regalen mit der Frage zu stehen: Was lese ich als nächstes? Aber es gibt das ein oder andere Buch, bei dem ich überlege, ob es mich nach zehn, fünfzehn Jahren im Regal tatsächlich noch so interessiert, dass ich es irgendwann lesen werde. Gleichzeitig ziehen Woche für Woche neue Bücher in mein Zuhause ein, manche Stapel – in den Regalen ist schon längst kein Platz mehr – schwanken bereits bedenklich. Daher müssen immer wieder Bücher weichen; was bleibt, ist irgendwann die Essenz eines Leserlebens. „Das Haben-Müssen-Gen“ weiterlesen

Als Trauermusik im Radio lief

Andreas Pflueger: Wie Sterben geht

Im Februar 2017 schrieb ich hier im Blog: »Um gleich einmal mit der Tür in Haus zu fallen: »Endgültig« von Andreas Pflüger ist einer der besten deutschen Kriminalromane, den ich in den letzten Jahren gelesen habe. Punkt.« Diesen Einstieg würde ich am liebsten noch einmal verwenden, wieder für einen Roman von Andreas Pflüger; diesmal ist es – man ahnt es schon – »Wie Sterben geht«. Ein Agententhriller vom Feinsten, der gerade eine begeisterte Besprechung nach der anderen erhält. Der Vergleich mit John Le Carré ist regelmäßig zu lesen und auch ich dachte bei der Lektüre unweigerlich an den Großmeister des Spionageromans. Und ja, »Wie Sterben geht« hält diesem Vergleich locker stand, auch wenn Le Carrés Romane – zumindest diejenigen, die ich kenne – fast noch eine Spur düsterer sind. Und düster ist es bei Andreas Pflüger, denn die Handlung führt uns in die Zeit des Kalten Krieges, als sich die Nato und die Warschauer-Pakt-Staaten waffenstarrend gegenüberstanden, sich in einem bedrohlichen Patt belauerten, während hinter den Kulissen erbittert um das gekämpft wurde, wofür alle Geheimdienste dieser Welt bereit sind, über Leichen zu gehen. Um Informationen. „Als Trauermusik im Radio lief“ weiterlesen

Brief an den Vater

Necati Oeziri: Vatermal

Für die Überschrift dieses Blogbeitrags habe ich mir den Titel von Franz Kafkas »Brief an den Vater« geborgt; eines der bekanntesten Zeugnisse der Literaturgeschichte, in dem ein Autor mit der alles dominierenden Präsenz eines Familienpatriarchen abrechnet. Und auch wenn es vollkommen unterschiedliche Texte sind und nichts miteinander zu tun haben, finde ich den Titel auch hier passend. Denn Arda Kaya, der Protagonist des Romans »Vatermal« von Necati Öziri, schreibt ebenfalls an seinen Vater und prangert dessen Verhalten als verhängnisvoll für das Leben seiner Familie an. Zwar gibt es einen wichtigen Unterschied, denn Ardas Vater dominiert nicht mit seiner Präsenz, sondern hat mit seinem unvermittelten Weggang eine riesige Lücke gerissen. Doch gerade diese Leerstelle prägt das Leben von ihm, seiner Schwester Aylin und ihrer Mutter Ümran auf eine alles erdrückende Weise. 

Der Ich-Erzähler Arda liegt im Krankenhaus. Er ist jung, noch zu Beginn seines Studiums, aber es ist sehr ungewiss, ob er die Klinik lebend verlassen wird. Die Diagnose lautet Autoimmunhepatitis, sein eigenes Immunsystem greift die Organe an und niemand weiß, ob und wie dies zu stoppen ist. Ein junger Mensch, dessen Leben gerade gestartet war, steht bereits vor dem Ende. Und er nutzt dies, um alles aufzuschreiben, was er Metin, seinem Vater, gerne gesagt hätte. Seinem Vater, den er nie kennengelernt, der ihn durch seinen Weggang im Stich gelassen hat. Und gleich auf den ersten Seiten fällt ein starker, ein entscheidender Satz: »Ich möchte dir für immer die Möglichkeit nehmen, nicht zu wissen, wer ich war.«  „Brief an den Vater“ weiterlesen

Welch vortrefflich Werk

Thomas Willmann: Der einserne Marquis

Das Warten hat sich gelohnt. Der 2010 erschienene Roman »Das finstere Tal« von Thomas Willmann hatte mich seinerzeit vollkommen begeistert und seitdem war ich gespannt auf das nächste Buch des Autors. »Er schreibt daran« – so hieß es seitens des Liebeskind-Verlags Jahr für Jahr, wenn ich auf den Buchmessen danach fragte. Das war schon fast eine Art liebgewonnenes Ritual, bis es in diesem September endlich soweit war und tatsächlich ein neuer Roman von Thomas Willmann in den Buchhandlungen auftauchte. »Der eiserne Marquis« lautet der Titel, über zwölf Jahre lang hat er daran geschrieben, über zwölf Jahre lang haben seine Leser darauf gewartet. Und auch wenn ich mich wiederhole: jeder einzelne Tag davon hat sich gelohnt. 

»Der eiserne Marquis« führt uns in die Mitte des 18. Jahrhunderts, hinein in eine Zeit, in der sich große Umbrüche andeuteten. Absolutistische Monarchen herrschten mit eiserner Hand über ihre Länder, während die Epoche der Aufklärung den klerikalen Mief beiseite fegte und den Weg frei machte für neues Denken. Noch beinahe mittelalterliche Strukturen prägten das Leben der Landbevölkerung, während sich gleichzeitig eine Blütezeit der Wissenschaft anbahnte, sich der Beginn der Industrialisierung bemerkbar machte, der Fortschrittsglaube ein wesentliches Merkmal des aufklärerischen Denkens war. Kriege begannen globale Ausmaße anzunehmen – der Siebenjährige Krieg zwischen 1756 und 1763 wurde nicht nur in Mitteleuropa, sondern auch in Nordamerika und Indien ausgetragen. Und über alldem lag der erste, noch vorsichtige, aber spürbare Dufthauch einer großen Revolution. Stillstand und Bewegung in Richtung einer ungewissen Zukunft – das sind die beiden Pole jener Epoche, die sie moderner erscheinen lassen, als es uns gemeinhin bewusst ist. „Welch vortrefflich Werk“ weiterlesen

Nie wieder ist jetzt

Nie wieder ist jetzt.

In den letzten Wochen war es sehr ruhig hier im Blog Kaffeehaussitzer. Ein einziger Beitrag ist im Oktober erschienen; dies auch nur, weil ich ihn schon weitgehend vorbereitet hatte. Dabei ist es nicht so, dass mir die Ideen ausgegangen sind, eher im Gegenteil – es warten noch dutzende gelesene Bücher darauf, vorgestellt zu werden. Nein, es sind die furchtbaren Ereignisse des 7. Oktober 2023 und deren Folgen, die meine Gedanken so beschäftigt haben, dass ich den Blogalltag nicht einfach fortsetzen konnte; so, als sei alles wie immer. Es sind Gedanken voller Entsetzen, voller Wut und voller Fassungslosigkeit, und seit jenem verheerenden Tag suche ich die Worte, um ihnen hier Ausdruck zu verleihen. „Nie wieder ist jetzt“ weiterlesen

George Grosz trifft Agatha Christie

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat

Wenn ich einen Blogbeitrag beginne, um ein Buch vorzustellen, habe ich in der Regel bereits eine grobe Gliederung im Kopf. Oftmals wird der Text dann doch ganz anders als gedacht, doch zumindest der Einstieg fällt mir nie schwer. Dieses Mal ist es anders. Einen Abend lang habe ich versucht, die ersten Sätze zu schreiben, aber die Worte wollten nicht so wie ich. Jetzt also der nächste Versuch. Es geht um das Buch »Die Passage nach Maskat« von Cay Rademacher, auf dessen Umschlag das Wort »Kriminalroman« steht. Und ja, auf den ersten Blick ist es eine beinahe klassische Whodunit-Geschichte. Doch beim zweiten Blick gibt es darin noch eine ganze Menge mehr zu entdecken – und dies herauszuarbeiten, ohne zu viel von der Handlung zu verraten, ist nicht ganz einfach. Beginnen wir erst einmal mit der zeitlichen Einordnung.  „George Grosz trifft Agatha Christie“ weiterlesen

Literaturreise in die Berge

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023

Das Unterwegssein ist mir ebenso wichtig wie das Lesen und die Beschäftigung mit Literatur – es sind essentielle Bestandteile meines Lebens. Und manchmal trifft beides zusammen: Am 21. und 22. September 2023 war ich eingeladen, als Gast bei der Vergabe des Franz-Tumler-Literaturpreises dabei zu sein. Die Reise führte nach Laas in Südtirol; eine Bahnfahrt von Köln über München, Bozen und Meran. Dann weiter. Die Züge wurden immer kleiner, schließlich ging es hoch hinauf in das Vinschgautal; Laas liegt etwa auf halber Strecke zwischen Meran und dem Reschenpass. Ich hatte im vorletzten Blogbeitrag die Tour unter dem Titel »Mit fünf Büchern in die Marmorstadt« angekündigt, aber mit etwa 4.100 Einwohnern hat der Ort eher dörflichen Charakter – doch der Marmor ist tatsächlich das prägende Element. Direkt am Bahnhof ein riesiges Depot aufgereihter Marmorklötze zur Weiterverarbeitung, die Fußwege im Dorfkern sind mit Marmor gepflastert, der Dorfplatz sowieso, es gibt einen Brunnen aus Marmor, sogar die Litfaßsäule im Zentrum trägt eine marmorne Überdachung. In 1.500 Meter Höhe wird er abgebaut; unter Tage, es sind riesige Höhlen mit weißen Wänden. Seit hunderten von Jahren gibt es die Marmorminen, der Abbau verleiht dem Dorf in Verbindung mit der allgegenwärtigen Vinschgauer Obstwirtschaft ein ganz eigenes Flair. Es ist ein besonderer Ort für eine ganz besondere Veranstaltung. „Literaturreise in die Berge“ weiterlesen