Every move you make

Anthony McCarten: Going Zero

Es war ein seltsamer Zufall: Beim Einkaufen dachte ich darüber nach, mit welchen Sätzen ich die Buchvorstellung des Romans »Going Zero« von Anthony McCarten beginnen könnte. Und während ich den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts schob, lief im Hintergrund der alte Police-Song »Every Breath You Take«. Ausgerechnet. »Every breath you take | And every move you make | Every bond you break | Every step you take | I’ll be watching you«: Auch wenn es darin eigentlich um das Psychogramm eines Stalkers geht, beschreiben diese fünf Songzeilen den perfekten Überwachungsstaat. Und genau davon erzählt »Going Zero«. Von der totalen Überwachung. Das ist natürlich kein neuer Romanstoff, da die Brisanz dieses Themas spätestens seit Edward Snowden allen Menschen klar sein dürfte. Doch Anthony McCarten wählt einen eher spielerischen Ansatz, um sich damit zu beschäftigen, zumindest zu Beginn der Handlung. Bevor einiges aus dem Ruder läuft. Na ja, eigentlich alles. 

Die Idee: WorldShare, ein fiktiver Social-Media-Gigant und die CIA entwickeln ein gemeinsames Projekt. Cy Baxter und Erika Coogan, die milliardenschweren Eigentümer von WorldShare, haben einen Pakt geschlossen. Es geht darum, die allumfassende Auswertung der Daten unzähliger WorldShare-Nutzer mit den riesigen Datenmengen der CIA zu kombinieren, um damit einen gigantischen Überwachungsapparat auf die Beine zu stellen. Der zwar im Dienst der Regierung und mit deren Finanzierung agiert, aber privat betrieben wird – ein Trick, um der CIA Ermittlungen im Inland zu ermöglichen, die dem US-Geheimdienst eigentlich nicht gestattet sind. »Fusion« ist der Name des Projekts, das WorldShare viel, sehr, sehr viel Geld in die Kasse spülen und die Plattform auf ein neues Level heben soll: zu einem allwissenden Netzwerk, das es so noch niemals gegeben hat. Als letzte Hürde vor dem Start steht der Beta-Test an, um die Funktionsfähigkeit von Fusion zu demonstrieren. Damit beginnt das Buch. 

Genauer gesagt beginnt es mit Kaitlyn Day, einer Bibliothekarin, die auf den ersten Blick ein wenig weltfremd wirkt, mit angeknackster Psyche und sehr verwurzelt im Analogen. Sie gehört zu zehn ausgewählten Testpersonen, die bei jenem Beta-Test versuchen sollen, sich vor den Ausspähmöglichkeiten von Fusion so lange wie möglich zu verbergen. Denjenigen, denen es dreißig Tage lang gelingt, winkt ein Preisgeld von drei Millionen Dollar. Und als dann per SMS das Startsignal »Go Zero!« erfolgt, haben die Testpersonen genau zwei Stunden Zeit, um unterzutauchen, um die Brücken in der analogen wie in der digitalen Welt hinter sich abzubrechen. Nach Ablauf der zwei Stunden beginnt die Jagd, das komplette Programm der Überwachungsmaschinerie läuft an und der Fusion-Zentrale mit zahllosen Mitarbeitern – Analysten, IT-Cracks und Hackern – steht so ziemlich jede Möglichkeit zur Verfügung, um die Bürger der USA zu beobachten, zu bespitzeln, ihre persönlichsten Daten abzugreifen und ihre Leben zu infiltrieren.

»Every breath you take | And every move you make | Every bond you break | Every step you take | I’ll be watching you« – Stings Stimme habe ich jetzt die ganze Zeit im Kopf. 

Gibt es für Kaitlyn und die neun anderen Zeros – wie die Testpersonen genannt werden – überhaupt eine Chance? Kameras an den Straßenecken, in Geldautomaten, in Geschäften. Rückfahrkameras in Autos, Verkehrsüberwachungskameras, Wärmebildkameras, Drohnen mit Kameras, die GoPro-Kameras auf den Helmen der Fahrradkuriere, natürlich die Kameras in Smartphones, die dazu auch zum Abhörgerät umgewidmet werden können, und, und, und – der Überwachungszugriff ist allumfassend und beschränkt sich nicht nur auf die öffentlichen Geräte. Was gehackt werden kann, wird gehackt. Ausgewertet werden Gesichter, Körperhaltung, Gang, Kleidung oder Stimmen. Dazu erfahren wir über unzählige andere Möglichkeiten des Abgleichens von Datenbanken, gar nicht erst zu reden von vielen digitalen Spuren, die jeder von uns tagtäglich im Netz hinterlässt. Und so etwas wie die Bewegungsprofile unserer Mobiltelefone muss ich wohl erst gar nicht erwähnen. Kurz Kaitlyn, die Zeros, wir alle sind gläsern – denn Anthony McCarten beschreibt keine Zukunftsvision, sein Roman spielt im Hier und Jetzt.

»Diese Debatte über Privatsphäre, ein kurioses Relikt aus dem 20. Jahrhundert, ist nur noch Hintergrundrauschen, pure Naivität: Ein Recht auf Privatsphäre gibt es nicht mehr, die ist längst verloren oder jedenfalls so löchrig geworden, dass sie im Grunde keinerlei Wert mehr hat.« 

Überraschenderweise ist Kaitlyn keine leichte Beute, sie hat ein paar unerwartete Tricks auf Lager. Und während einer der Zeros nach dem anderen von den Zugriffsteams aufgespürt wird, entkommt sie ihren Häschern immer wieder aufs Neue, auch wenn es ein paar Mal verdammt knapp ist. Cy Baxter, die CIA-Leute und auch wir Leser beginnen uns zu fragen, wer diese Kaitlyn Day eigentlich ist. Zumal der Autor damit beginnt, den ein oder anderen rätselhaften Hinweis einzustreuen. Dann beginnt der zweite Teil des Buches. Und auf einmal ergibt vieles einen Sinn. 

An dieser Stelle muss ich stoppen. Bisher habe ich mich mehr oder weniger am Klappentext des Buches entlanggehangelt, aber das Buch lebt von einigen überraschenden Wendungen, die hier natürlich nicht verraten werden sollen. Jedenfalls werden sie der ohnehin schon temporeichen Handlung noch einen zusätzlichen Drive verleihen. Denn für einige der Beteiligten geht es um viel mehr, als es zu Beginn den Anschein hat. 

Von Beginn an gibt Autor Anthony McCarten Vollgas, stakkatohafte Sätze unterstreichen die hohe Geschwindigkeit der Erzählung, die einzelnen Kapitel tragen stets die noch verbleibende Zeit als Überschriften: »27 Tage 5 Stunden«, »12 Tage 21 Stunden«, »7 Tage 9 Stunden« … »Going Zero« bietet eine atemlose Lektüre, der man gerne auch ein paar Schwächen verzeiht; Cy Baxter etwa wirkt wie die bloße Karikatur eines Silicon-Valley-Milliardärs. Aber das macht ganz und gar nichts, da das Buch permanent zum Mitdenken anregt. Denn erst einmal wirkt alles wie ein reizvolles Versteckspiel und natürlich machen sich beim Lesen auch die eigenen Gedanken selbständig: Wohin würde ich gehen, welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um zu verschwinden, unterzutauchen, um mich unerkannt zu bewegen? Doch je länger die Suche dauert, desto mehr beginnt die Situation zu eskalieren, desto mehr wird es für Cy Baxter etwas Persönliches. Etwas sehr Persönliches.

Verpackt als spannende Story demonstriert der Autor die Möglichkeiten eines vollkommen außer Kontrolle geratenen Überwachungsapparates, der durch seine eigene Paranoia zum monströsen Big Brother mutiert. Dabei geht es immer nur um die Sicherheit, um das Abwägen zwischen Freiheitsrechten und Schutz der Gesellschaft – so zumindest das Denken der alles ausspähenden Akteure. Und selbstverständlich soll es niemals solche Ausmaße annehmen wie in China, der totalitären Überwachungsdiktatur schlechthin. Glauben jedenfalls Baxter und seine CIA-Freunde, doch dies ist – wie in der realen Welt – die Lebenslüge der westlichen Geheimdienste, die natürlich genau das machen, wofür sie geschaffen wurden: Informationen sammeln und auswerten, mit allen Mitteln, die möglich sind. Und damit im Namen der Freiheit genau diese Freiheit zerstören. Außerdem geht das Buch der Frage nach, wieso wir es eigentlich akzeptieren, dass alles, was wir online machen, uns zu gläsernen Menschen werden lässt? Dass wir süchtig nach unseren Smartphones sind, die unser Gehirn permanent mit Sinnlosigkeiten bombardieren? Dass wir ununterbrochen beobachtet und ausspioniert werden, es den meisten aber vollkommen egal ist? Cy Baxter hat dafür eine Erklärung: »Nichts bleibt verborgen. Sie wollen es so. Und wieso? Soll ich Ihnen sagen, wieso? Weil beobachtet zu werden … das fühlt sich ein klein wenig so an, wie geliebt zu werden.«

Wie gesagt, das Buch spielt im Hier und Jetzt. Es wurde aber vermutlich fertiggestellt, bevor am 30. November 2022 das KI-Programm ChatGPT der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Diese Entwicklung hebt das Thema der Überwachung noch einmal auf ein ganz neues Level und man mag, man kann es sich kaum ausmalen, was hier in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. Eine perfekt passende Stelle dazu findet sich im Buch, und mit ihr möchte ich diesen Text beenden: 

»Und unterdessen entwickelt sich das Internet in aller Stille in die einzige Richtung, die es kennt; genau wie das Universum, getrieben von Kräften, die nie jemand ganz verstanden hat, expandiert es immer weiter, … ein Wachstum, das noch über das Exponentielle hinausgeht, ein System, das sich an Komplexität nur mit dem Menschen selbst vergleichen lässt. Die letzte Möglichkeit, diese Expansion zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen, war im Augenblick seiner Schöpfung. Danach war es nur noch etwas, das einfach da war, das man akzeptieren musste, beobachten konnte, mit unverständigem Staunen betrachten wie Sterne, wie die Erdrotation, wie Austern, die sich in Vollmondnächten öffnen, sodass man einen Blick auf ihre Perle erhaschen kann.«

Buchinformation
Anthony McCarten, Going Zero
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07192-4

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Fünfzehn Bücherfragen

Fuenfzehn Buecherfragen

»Ein Buch, das außer dir alle gemocht haben?« Oder: »Ein Buch, in dem du gern leben würdest?« Beim Flanieren durch die Literaturblogs bin ich auf der Seite Wissenstagebuch auf fünfzehn Bücherfragen gestoßen. Es ist ein Beitrag, der zum Mitmachen einlädt und schon beim Lesen ratterten die Gedanken los – ich konnte gar nicht anders, als mir diese Fragen zu schnappen und selbst zu beantworten. Und wer sich ebenfalls beteiligen mag: Lasst beim Wissenstagebuch in den Kommentaren ein Link da, so entsteht eine schöne Sammlung mit vielen Buchempfehlungen. Die Fragen stammen ursprünglich von der amerikanischen YouTuberin Steph Borer, um als book recommendation tag mehr Literatur in die Timelines zu bringen. Aber langer Rede kurzer Sinn: Hier sind sie, die Bücherfragen. Und meine Antworten. „Fünfzehn Bücherfragen“ weiterlesen

Geschichte und Geschichten

Stefan Ineichen: Principessa Mafalda | Leipziger Wohnzimmerlesung 2023

Knapp dreißig Menschen in einem Raum. Ein Gespräch über ein Buch, danach Zusammenstehen, ein Getränk in der Hand, reden, lachen, diskutieren. Das große C, das uns die letzten Jahre in Atem gehalten hat, scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören – was für ein Glück. Und was für ein schöner Abend. Diejenigen, die hier schon länger mitlesen, ahnen es bereits: Es geht um die Leipziger Wohnzimmerlesung, die wir zum dritten Mal veranstaltet haben. Wir: Das sind mein guter Freund Hannes, den ich inzwischen seit über zwei Jahrzehnten kenne und bei dem ich mich immer einquartiere, wenn ich in Leipzig bin. Und ich. 2018 hatte Hannes die Idee, während der Leipziger Buchmesse regelmäßig eine Lesung in seinem Wohnzimmer auszurichten und nach einer mehrjährigen Unterbrechung – aus den bekannten Gründen – fand dies nun zum dritten Mal statt; ist der Abend für viele der Teilnehmenden und für uns zu einem festen Termin geworden. Und schon fast eine Tradition. Zu Gast war dieses Mal der Autor Stefan Ineichen mit seinem Buch »Principessa Mafalda«, erschienen im Verlag Klaus Wagenbach. Ich hatte das große Vergnügen, mit ihm über sein Buch zu sprechen. „Geschichte und Geschichten“ weiterlesen

Apokalypse, Sinnsuche und Literatur

Manesse Verlag: Die Apokalypse

Schon seit sieben Jahren möchte ich diesen Beitrag schreiben. Und seit sieben Jahren suche ich dafür die passenden Worte, denn es geht um einen sehr persönlichen Blick auf die Welt: Um Glauben, Religion und Spiritualität. Auch jetzt, in dem Moment, in dem ich beschlossen habe, damit zu beginnen, weiß ich nicht, wohin der entstehende Text mich führen wird. Wieder einmal hat alles mit einem Buch zu tun, diesmal mit einem ganz besonderen: 2016 ist im Manesse Verlag eine Neuübersetzung der Apokalypse erschienen. Ein spannendes Projekt, denn die Offenbarung des Johannes – wie der offizielle Name ja lautet – ist in dieser aufwendig gestalteten Ausgabe eine Art Auskopplung aus der Bibel. Und wird zu einem literarischen Text, kraftvoll, wuchtig, finster und rätselhaft; auf eine surreale Weise dystopisch wie ein fiebriger Traum. Die Übersetzung aus dem Altgriechischen stammt von Kurt Steinmann, der dazu in einem Interview sagte: »Für mich ist die Apokalypse in erste Linie ein bildhaftes und wortgewaltiges Sprachkunstwerk. In seinen ungeheuren Bildern wirkt es beinahe wie eine Antizipation, eine Vorwegnahme der expressionistischen Literatur etwa von Trakl oder Heym.«  „Apokalypse, Sinnsuche und Literatur“ weiterlesen

An der Schwelle einer neuen Zeit

Das 19. Jahrhundert ist für mich eine der interessantesten Epochen der Geschichte. Hier liegen die Wurzeln unserer Gegenwart; unsere heutige Welt mit all ihren Verwerfungen, aber auch Errungenschaften der letzten hundert Jahre fußt zu einem großen Teil auf Geschehnissen, die sich zwischen 1789 und 1918 ereignet haben – weshalb oft vom »langen 19. Jahrhundert« die Rede ist, das eigentlich mit der Französischen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. Gleichzeitig lese ich gerne historische Kriminalromane, sofern sie – und hier trennt sich die Spreu vom Weizen – präzise recherchiert sind. Denn wie schon einmal geschrieben, eignet sich kaum etwas besser, um in der Geschichte herumzustromern. Und ich finde es spannend durch die Straßen eines längst vergangenen Berlins zu flanieren und eine Atmosphäre in mich aufzunehmen, die es schon lange nicht mehr gibt. Kriminalroman, 19. Jahrhundert, Berlin: Die beiden Bücher von Ralph Knobelsdorf vereinen all dies miteinander, weshalb ich die Lektüre von »Des Kummers Nacht« und »Ein Fremder hier zu Lande« sehr genossen habe. Denn bei diesen Romanen passte einfach alles. „An der Schwelle einer neuen Zeit“ weiterlesen

Seele zu verkaufen

»Wenn das Internet der Buchdruck wäre, würden wir gerade im Jahr 1460 leben.« Dieses Zitat habe ich schon einmal hier im Blog verwendet, ohne zu wissen, von wem es stammt. Aber es beschreibt, so finde ich, ziemlich gut die Dimension der technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen wir uns befinden und die uns ein Leben lang begleiten werden. Ebenso wie die Leben der kommenden Generationen. Seit ich den Satz das erste Mal zitiert habe, sind inzwischen fast zehn Jahre vergangen; ich weiß immer noch nicht, woher ich ihn habe, aber wir wären nun im Jahr 1470 – und stehen gerade an der Schwelle zur nächsten Stufe der technischen Entwicklungen. Entwicklungen, die vermutlich drastische Auswirkungen auf unsere Zukunft und unser Verhalten haben werden. Der Roman »Candy Haus« von Jennifer Egan passt perfekt in unsere sich rasant verändernde Welt und ich habe ihn nicht nur mit großer Begeisterung, sondern auch mit einem leichten Gruseln gelesen. Denn die nahe Zukunft, in der er zum großen Teil spielt, könnte bald auch unsere Gegenwart sein – so eng liegen beide zusammen. „Seele zu verkaufen“ weiterlesen

»Ihr seid nicht ohne Wurzeln« – Interview mit Sandra Kegel über die Literatur der weiblichen Moderne

Prosaische Passionen - 101 Short Stories der weiblichen Moderne: Interview mit Sandra Kegel

Im Kölner Literaturhaus war die Literaturkritikerin Sandra Kegel zu Gast, Feuilletonchefin der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Sie stellte die von ihr herausgegebene Anthologie »Prosaische Passionen« vor – ein grandioses Werk, das 101 Short Stories der literarischen Moderne aus den Federn von 101 Autorinnen enthält. Und damit ein Stück Literaturgeschichte neu- und wiederentdeckt, denn zahlreiche der enthaltenen Texte wurden der Vergessenheit entrissen oder erscheinen zum ersten Mal in deutscher Sprache: Der Band ist eine literarische Zeit- und Erkundungsreise, die es so zuvor noch nicht gegeben hat. Die zeigt, wie weiblich geprägt die literarische Moderne in Wahrheit war – und zwar global gesehen: Die Texte stammen aus über fünfzig Ländern und aus fünfundzwanzig Originalsprachen.

Hier im Blog stelle ich in einem Lesejournal sämtliche 101 Short Stories nach und nach vor, das Buch begleitet mich schon seit Wochen und Monaten. Der Abend im Literaturhaus unterstrich noch einmal die immense Bedeutung dieser Anthologie; im Gespräch mit Moderatorin Sabine Küchler erläuterte Sandra Kegel eindrucksvoll die Modernität und Aktualität der Texte, die zum Teil vor über einem Jahrhundert geschrieben wurden. Die drei von Schauspielerin Ines Marie Westernströer gelesenen Short Stories belegten dies auf eine anschauliche Weise. Es waren »Die Geschichte einer Stunde« von Kate Chopin (Lesejournal Tag 22), »Der rosa Hut« von Caroline Bond Day (Lesejournal Tag 27) und »Sultanas Traum« von Rokeya Sakhawat Hossain (Lesejournal Tag 20). Und anlässlich ihres Besuches in Köln hatte ich die Gelegenheit, Sandra Kegel zu ihrem Buchprojekt zu befragen. „»Ihr seid nicht ohne Wurzeln« – Interview mit Sandra Kegel über die Literatur der weiblichen Moderne“ weiterlesen

lechts und rinks – ein textbaustein*

ernst jandl: lichtung

Ernst Jandl ist einer der wichtigsten deutschsprachigen Lyriker und Sprachkünstler des 20. Jahrhunderts. Seine Verse sind geprägt von Sprachwitz und von einer unbändigen Experimentierfreude; viele enthalten hintersinnige Botschaften, die sich auf unterschiedlichste Weise interpretieren lassen. Das 1966 entstandene Gedicht »lichtung« ist eine seiner bekanntesten Lyrikschöpfungen; einmal gelesen begleitet es mich – wie viele andere Menschen auch – seit Jahrzehnten. 

lichtung
manche meinen

lechts und rinks
kann man nicht
velwechsern.
werch ein illtum!

„lechts und rinks – ein textbaustein*“ weiterlesen

Nebel, Ruß und Druckmaschinen

Die Buecher, der Junge und die Nacht

Das Schreiben jedes Blogbeitrags beginnt mit einem kleinen Ritual: Das Buch, um das es gehen soll, liegt auf dem Tisch vor mir und ich denke darüber nach, was genau mich daran beeindruckt, begeistert, was Spuren im Gedächtnis hinterlassen, was dieses eine Buch für mich besonders gemacht hat. Wie ich das in Worte fassen kann. Und vor allem, wie ich damit beginne. Beim Roman »Die Bücher, der Junge und die Nacht« von Kai Meyer starte ich mit einem Exkurs, mit einem Abstecher in das alte Leipzig, genauer gesagt, in das Graphische Viertel, denn dort spielt sein Roman zu großen Teilen. Und am Ende des Beitrags gibt es ein Interview mit dem Autor zur Wahl seines Schauplatzes. Die Bilder in diesem Beitrag stammen von meinen Leipziger Streifzügen, auf Spurensuche in einem verschwundenen Stadtbezirk. „Nebel, Ruß und Druckmaschinen“ weiterlesen

Eine Stadt, in der Zeit verschwunden

Carlos Ruiz Zafón: Die Barcelona-Romane

Die letzten Wochen habe ich in Barcelona verbracht, um alte Freunde und Bekannte zu treffen. In einem Barcelona allerdings, das so vielleicht nie existiert hat, das es zumindest schon lange nicht mehr gibt und von dem ich glaube, vor vielen Jahren die letzten Atemzüge noch vage miterlebt zu haben, doch dazu am Ende mehr. Es geht – natürlich – um die Romane von Carlos Ruiz Zafón. 2003, also vor genau zwanzig Jahren, ist »Der Schatten des Windes« erschienen; ich las dieses grandiose Buch damals und war restlos begeistert. Es folgte 2008 »Das Spiel des Engels«,  dann 2012 »Der Gefangene des Himmels« und schließlich 2017 »Das Labyrinth der Lichter« – drei weitere grandiose Barcelona-Romane; jeder von ihnen anders als die anderen und trotzdem wirken alle zusammen wie aus einem Guss, ergeben gemeinsam ein großes Bild. Nun habe ich alle vier Bücher noch einmal gelesen und zwar direkt hintereinander. Und das war ein ganz besonderes, ein einzigartiges Leseerlebnis. Denn zum einen traf ich all die Menschen wieder, die ich aus den einzelnen Büchern bereits kannte. Aber diesmal tauchte ich zweitausendfünfhundertachtzig Seiten lang tief hinein in die Welt Zafóns und habe mich wochenlang darin aufgehalten, mich durch die Straßen und Gassen, über die Plätze, durch die Cafés und Restaurants Barcelonas treiben lassen und die brillant komponierten Handlungsstränge genossen. Abends bin ich mit den Geschichten im Kopf eingeschlafen, morgens habe ich beim ersten Kaffee weitergelesen. Und wenn es nach mir gegangen wäre, hätte ich das noch für lange Zeit fortsetzen können – als dann die letzte Seite des vierten Buches umgeblättert war, umgab mich diese seltsame Leere, die jeder Leser kennt. Und leider wird es keinen weiteren Roman aus diesem Zyklus mehr geben, denn Carlos Ruiz Zafón ist 2020 fünfundfünfzigjährig gestorben, viel zu früh; das Barcelona seiner Romane ist sein Vermächtnis. Ein Vermächtnis, dass ihn noch lange überdauern wird. „Eine Stadt, in der Zeit verschwunden“ weiterlesen

So viele Bücher, so wenig Zeit

Einer meiner Lieblingsfilme ist »About Time – Alles eine Frage der Zeit«. Nicht nur, weil darin eine gelungene Mischung aus Charme, Humor und Tragik geboten wird. Und nicht nur wegen der wunderbaren Schauspieler wie etwa Bill Nighy, Rachel McAdams oder Domhnall Gleeson. Sondern vor allem wegen eines kurzen Dialogs, in dem es – natürlich – um Bücher geht. Über die Handlung des Films möchte ich hier gar nicht sprechen; wer zum Beispiel »Notting Hill« oder »Vier Hochzeiten und ein Todesfall« mochte, der wird auch von »About Time« nicht enttäuscht werden. „So viele Bücher, so wenig Zeit“ weiterlesen

Mein Lesejahr 2022: Die besten Bücher

Mein Lesejahr 2022: Die besten Buecher

In einer Welt, die fast täglich mehr aus den Fugen zu geraten scheint, ist die Literatur ein Anker, sind Bücher eine Kraftquelle. Oder wie es Mohamed Mbougar Sarr seinen Ich-Erzähler in »Die geheimste Geschichte der Menschen« ausdrücken lässt: »Wir dachten keinesfalls, dass Bücher die Welt retten könnten; hingegen hielten wir sie für das einzige Mittel, um nicht vor ihr davonzulaufen.« Nicht zuletzt wegen Sätzen wie diesem steht der Roman auf meiner Liste der besten Bücher, die ich im vergangenen Jahr gelesen habe. Er befindet sich dabei in abwechslungsreicher Gesellschaft – doch seht selbst; hier sind sie, die fünfzehn Werke, die mich in den letzten zwölf Monaten am meisten beeindruckt, begeistert oder inspiriert haben. „Mein Lesejahr 2022: Die besten Bücher“ weiterlesen

Die Zerrissenheit jener Jahre

Szczepan Twardoch: Demut

»Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.« Das ist der Wunsch von Alois Pokora, als er inmitten einer revolutionären Menge auf das Berliner Polizeipräsidium, die »Rote Burg« zustürmt, um Gefangene zu befreien. Es ist die Zeitenwende 1918/1919, die politische Ordnung und gesellschaftliche Normen zerbröseln. Chaos herrscht auf den Straßen und Szczepan Twardoch schickt uns mit seinem Roman »Demut« mitten hinein in diese Zeit des Umbruchs. Eine Zeit, in der vieles möglich schien. Eine Zeit voller Aufbruchsstimmung inmitten unzähliger Dramen am Ende des Ersten Weltkriegs. Eine Zeit der Kämpfe, des Hasses und des Beginns einer tiefen Spaltung der Gesellschaft. Und in der Figur jenes Alois Pokora spiegelt sich die ganze Zerrissenheit jener Jahre wider, denn er ist ein Mensch, der zwischen allen denkbaren Stühlen sitzt und droht, daran zugrunde zu gehen. Dabei hat er nur einen großen Wunsch: irgendwo dazuzugehören. »Ameise will ich sein, Teil des Ganzen.«  „Die Zerrissenheit jener Jahre“ weiterlesen

Leben, Blog & Bücher

Photo: (c) Vera Prinz

In den Jahren meines Bloggerdaseins durfte ich hin und wieder in Interviews Rede und Antwort stehen. Dabei mag ich es besonders, wenn Fragen gestellt werden, die auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, sie seien einfach zu beantworten; die sich dann aber als viel kniffliger herausstellen, wenn man beginnt, sich Gedanken über sie zu machen. Ein schönes Beispiel dafür ist das Interview, das Janine Rumrich für ihren Literaturblog Frau Hemingway mit mir geführt hat – es ging dabei um das Bloggen, um Bücher und um das Leben. Und wie alles miteinander zusammenhängt. Das Interview liegt nun schon einige Jahre zurück, es stammt aus dem Januar 2019. Da es zur Zeit online nicht abrufbar ist, da mir die Fragen so gut gefallen haben und da ich die meisten Antworten heute genau gleich formulieren würde, gebe ich es hier in Auszügen wieder; »Leben, Blog & Bücher« hat Janine alias Frau Hemingway diesen Teil genannt. Als Bonustrack gibt es ein paar zusätzliche Buchtipps. „Leben, Blog & Bücher“ weiterlesen

Drama im Nieselregen

Nadifa Mohamed: Der Geist von Tiger Bay

Jeder literaturbegeisterte Mensch sollte – so finde ich – mindestens eine Buchhandlung seines Vertrauens in Reichweite haben. Bedingt durch die Größe der Stadt, in der ich lebe, sind es bei mir sogar mehrere; eine davon ist nur einen kurzen Spaziergang entfernt. Es ist keine große Buchhandlung, tatsächlich ist sie sogar recht klein. Aber sie ist so gut sortiert, dass ich jedes Mal, wenn ich sie besuche, ein Buch finde, von dem ich zuvor noch nicht wusste, dass ich es dringend benötigen würde. Dort stieß ich auch auf den Roman »Der Geist von Tiger Bay« von Nadifa Mohamed, ein Werk, das ohne diesen Buchhandlungsbesuch wahrscheinlich an mir vorbeigegangen wäre. Und damit hätte ich eine beeindruckende und erschütternde Lektüre verpasst. Eine, die man nicht mehr so schnell aus dem Kopf bekommt. 

Die Handlung führt zurück in das Jahr 1952, ins walisische Cardiff. Die Stadt war damals einer der wichtigsten Häfen der Welt, in dem ein großer Teil der Kohle aus den walisischen Bergwerken verschifft wurde. Und Tiger Bay wurde das Hafenviertel genannt; ein lebendiger und multikultureller Stadtteil, in dem Menschen aus über fünfzig Nationen zusammenlebten. Eine Arbeitergegend, in der auch viele Matrosen ein Zuhause fanden. Straßenzüge mit einfachen Häusern, kleine Geschäfte, in denen Dinge des täglichen Bedarfs oder Ausrüstungsgegenstände für Seeleute verkauft wurden; der Geruch der Kohleöfen, der sich mit der brackigen Luft des Hafens vermischte, ständiger Nieselregen, Kneipen, Spelunken, Bars, Tanzlokale, das ein oder andere Bordell. Kleinkriminelle und Diebe machten das Viertel unsicher, aber es lebten auch unzählige Familien dort, einfache Menschen mit ihren Kindern, die versuchten, irgendwie über die Runden zu kommen. Es war eine raue Gegend; mit dem Niedergang des Hafens und der Kohleförderung ist sie verschwunden. Straßenzüge wurden abgerissen, Menschen zogen fort, Häuser verfielen. Und Tiger Bay wurde zu einem Mythos. „Drama im Nieselregen“ weiterlesen

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