Nicht das Ende zu verraten fällt mir bei diesem Roman außerordentlich schwer, denn die letzte Seite in »Oberkampf« von Hilmar Klute ist wie ein Schlag in die Magengrube. Eine Seite, die dem gesamten Buch eine überraschende, im Rückblick aber konsequente Wendung beschert; ein Finale, das einen schaudernd und hoffend zurücklässt. Und sich ins Gedächtnis einbrennt.
Das Photo auf dem Umschlag des Buches zeigt die Metro-Station Oberkampf im 11. Arrondissement von Paris. Keiner der ultraschicken Stadteile, aber eine sehr lebendige Gegend mit vielen Cafés, Restaurants und Bars. Das Bild hat mich gedanklich sofort in die wunderbare Stadt an der Seine katapultiert, fast meinte ich, den typischen Geruch der Pariser Metro in der Nase zu haben. Jonas jedenfalls hat ihn in der Nase, als er spätabends sein neues Viertel betritt. Sein Gepäck und ein paar Kisten Bücher, die wenige Tage später mit der Post eintreffen werden, sind alles, was von seinem alten Leben in Berlin übriggeblieben ist.
Irgendwie war alles nicht so gelaufen, wie er sich das vorgestellt hatte, war sein Leben an ihm vorbeigerauscht. Sein Traum Schriftsteller zu werden hatte sich zu einer vagen Erinnerung verflüchtigt. Bei seiner Agentur – eine Speaker-Vermittlung – war irgendwann der Zenit des Erfolgs überschritten gewesen; sie zerbröselte ebenso wie die Beziehung zu Corinna, mit der er die Agentur gegründet hatte.
Doch jetzt stehen alle Zeichen auf Neuanfang: Ein Buchprojekt führt ihn nach Paris. Im Auftrag eines großen Verlagshauses soll er eine Biographie über Richard Stein schreiben, einen der großen Autoren vergangener Jahrzehnte, der nie den endgültigen Durchbruch geschafft hat, aber dessen intellektuell-schonungslose Selbstbespiegelung legendär geworden ist. Und der in Paris lebt. Deshalb also ist Jonas in dieser Stadt, in einer winzigen Wohnung, bereit sein Leben neu zu starten.
»Jetzt war er hier, in diesem Studentenappartement, das ihn beinahe tröstete in seiner lieben Enge, auf dem warmen Bett. Ein Tisch, ein paar Stühle, ein kleines Bücherregal – er hatte sich oft vorgestellt, in einer solchen Bedürfnislosigkeit Trost zu finden. Mehr brauchst Du nicht, diesen Satz hatte er sich oft gesagt und sich den Tagesablauf eines Schriftstellers vorgestellt, der er gern gewesen wäre.«
Das ist sein erster Abend in Paris. Es ist der 6. Januar 2015. Und dann ändert sich alles.
Denn am nächsten Morgen dringen islamistische Terroristen in die Redaktionsräume der Satirezeitschrift Charlie Hebdo ein und ermorden fast die gesamte Redaktion, Wachleute, Polizisten – alles nur wenige Straßen von Jonas neuer Wohnung entfernt. Mit einem Schlag steckt Paris im Würgegriff des Terrorismus, überall patrouillieren schwerbewaffnete Polizisten und Antiterroreinheiten. Die Leichtigkeit der Stadt an der Seine ist dahin.
Sehr gelungen beschreibt Hilmar Klute Paris als belagerte Stadt, deren Bewohner mit aller Macht versuchen, ihren Lebensstil weiter zu zelebrieren. Die ihren Kaffee selbstverständlich im Straßencafé trinken, auf keinen Fall zu Hause. Die ihre Mittagspause zu einer Auszeit im Restaurant um die Ecke nutzen, um bei einer geschmorten Lammkeule mit einem Glas guten Weines die schrecklichen Geschehnisse wenigstens eine kurze Zeit zu vergessen. Durch Christine, die er gleich zu Beginn kennenlernt, wird Jonas Teil dieser Stadt und dieser Stimmung, doch fühlt er sich stets als Zaungast. Die demonstrative Lässigkeit bleibt ihm fremd, oft denkt er an die Banlieues rund um Paris, aus der die Terroristen kamen; an die Perspektivlosigkeit der unzähligen Migranten, deren trostlose und heruntergekommene Hochhaussiedlungen die glitzernde Metropole wie ein Gürtel aus Armut umgeben – eine Assoziation, die den Gedanken einer Belagerung noch vertieft.
Und fast entwickelt er so etwas wie Verständnis für die bärtigen Mörder, die – so geht es ihm durch den Kopf – mit Waffengewalt ihre Religion gegen die libertären Spötter verteidigen. Und damit das bisschen Würde, das ihnen geblieben ist. Es ist ein widerlicher, ein unaussprechlicher Gedanke, den Jonas von sich zu schieben versucht, der aber ihn ihm nistet wie ein kleiner Stachel.
Gleichzeitig ist die Arbeit mit Richard Stein nach einem holprigen Start gut angelaufen. Fast zu gut: Die Gespräche mit dem charismatischen, selbstverliebten Bohemien, der schon weit über achtzig ist, entwickeln eine Eigendynamik, einen Sog, dem sich Jonas im Laufe der Monate immer weniger entziehen kann. Und der ihm immer unbehaglicher wird, der Wunden aufreisst, Gedanken an Träume, die er einst hatte, und die er längs beiseitegeschoben glaubte. Denn das Schreiben über ein intensiv gelebtes Leben ersetzt nicht das eigene Leben. Oder wie Richard Stein einmal zu ihm sagt: »Sie wollten doch Bücher schreiben, nicht wahr? Sie hatten den Traum, Schriftsteller zu sein, und besaßen nicht den Mut, Ihrem Traum Leben einzuhauchen. Stattdessen haben sie einen Kompromiss gemacht, ach was, Ihr ganzes Leben bestand von da an aus Kompromissen. (…) Und dann kamen Sie auf den Gedanken, ein Buch über mich zu schreiben. Ein Buch über einen Mann, der all das gewagt hat, was Sie sich nicht getrauten.«
Harte Worte, die Jonas bis ins Mark treffen. Und die einen auch als Leser aufwühlen, denn wohl jeder von uns kennt diese Träume, die vielleicht keine Träume hätten bleiben müssen, wenn man im entscheidenden Moment ein bisschen mutiger gewesen wäre. Oder manchmal auch ein wenig rücksichtsloser. Auch zu sich selbst.
Eine Stadt voll zwanghafter Leichtigkeit im Belagerungszustand, Gedanken über ein nicht gelebtes Leben, ein egozentrischer alter Mann, dessen Kompromisslosigkeit trotzdem beeindruckend ist: Hilmar Klute hat eine dicht gewebte, ganz eigene Atmosphäre geschaffen, mittendrin steht sein Protagonist an einem Wendepunkt. Jonas muss sich entscheiden – und das macht er. Die Geschichte endet mit einer Türe, die hinter ihm zufällt, und diese Türe ist das Schicksal – im wahrsten Sinne des Wortes. Beim Zuklappen des Buches saß ich einige Minuten betroffen da und musste mich erst einmal sammeln.
Denn wie zu Beginn des Blogbeitrags geschrieben: Das Ende des Buches ist atemberaubend.
Buchinformation
Hilmar Klute, Oberkampf
Galiani Berlin
ISBN 978-3-86971-215-4
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Lieber Uwe,
da sieht man mal wieder, wie vielfältig ein Buch gelesen und antiziüiert werden kann. Gerade manche Stelle, die du hervorhebst, ging mir eher auf die Nerven und umgekehrt. Auch lag bei meiner Analyse der Fokus auf anderen Schwerpunkten. Deine Besprechung und auch die anderen, die dazu erschienen sind, haben mir andere Blickwinkel beschert und lassen das Buch im Nachhinein anders wirken. Sollte ich es vielleicht doch noch einmal zur Hand nehmen, werden sich meine Gedanken sicher ein wenig ändern. Eines ist es auf alle Fälle und darin sind wir uns einig. Es ist ein sehr intensives Buch und sprachlich wieder gut gelungen, wenn auch nicht ganz so federleicht wie das Debüt, dazu sind die Themen auch zu schwer.
Liebe Grüße
Marc