Was für eine wunderbare Lektüre: Im Buch »Liegen Sie bequem?« sind Texte von Roger Willemsen versammelt, in denen es um das Lesen geht, um Bücher und um Literatur: Buchbesprechungen, kurze Porträts von Autorinnen und Autoren quer durch die Literaturgeschichte, manchmal knappe, manchmal ausführliche Leseempfehlungen, fiktive wie tatsächlich geführte Interviews, Kolumnen, Streitgespräche, Feuilletonbeiträge, Aufzeichnungen und Notizen. Ein wahres Roger-Willemsen-Lesebuch und ein Genuss von der ersten bis zur letzten Seite.
Roger Willemsen ist 2016 mit nur sechzig Jahren gestorben. Viel zu früh. Der Journalist, Moderator, Autor und Literaturkritiker faszinierte auf vielen Bühnen unzählige Menschen mit seiner nahbaren Intellektualität und seiner brillanten Art, Dinge auf den Punkt zu bringen. Und genau deshalb ist es ein großes Lesevergnügen, sich durch Willemsens Gedanken zu lesen, die stilistische Eleganz seiner Sätze zu genießen und den eigenen Horizont – fast wie nebenbei – permanent erweitert zu finden.
Es sind Passagen wie jene über den ruhelos Reisenden Bruce Chatwin, von dessen Büchern ich mit Mitte zwanzig nicht genug bekommen konnte: »Eine James-Dean-Gestalt ist Bruce Chatwin, einer, der sich in seinen Werken selbst erschuf, gut aussehend, maßlos interessiert, resistent gegen Gefahren und Strapazen, von Legenden umrankt: der Reporter, der auch kunstsinnig war, der Bonvivant, der auch Mut hatte, der Gelehrte, der auch kiffte – zu gut, um wahr zu sein, und dann auch noch tot mit 48 Jahren.« Und sofort erscheint dieser heute etwas in Vergessenheit geratene, aber unbedingt lesenswerte Autor vor dem inneren Auge.
Das Buch enthält zahllose dieser perfekten Miniaturen, wahre Kleinode, doch der eigentliche Auslöser für diesen Blogbeitrag sind seine Leseregeln, der Eröffnungstext des Buches – und nur sehr selten findet man solch zeitlos schöne und kluge Sätze über die Magie des Lesens. Daher konnte ich gar nicht anders, als sie in die Sammlung meiner Textbausteine mit aufzunehmen. Hier sind sie.
Roger Willemsen: 10 Regeln für Leserinnen und Leser
- Sitzen Sie gerade. Liegen Sie bequem. Lungern Sie rum. Nichts soll sie stören. Sie und das Buch, das ist gerade die einzige Beziehung, die zählt. Am besten, Sie suchen auch innerlich nach einer Haltung, die sie aufnahmefähig macht, bereitwillig, andere Menschen, anderer Menschen Probleme in Ihr Leben zu lassen. Sie werden sich am Ende selbst in diesen finden.
- Überlegen Sie sich gut, welches Buch es wert ist, Ihnen Gesellschaft zu leisten. Aber dann gewähren Sie ihm einen Vorschuss, ein vorauseilendes Wohlwollen. Es soll sich zeigen, ausbreiten, erklären dürfen. Räumen Sie ihm Rederecht ein.
- Etwas gut Geschriebenes ist etwas anderes als etwas flott Geschriebenes. Entscheiden Sie sich. Ist es die Rasanz der Sprache, der Reiz des Stoffs, der Sog der Spannung, die Wiedererkennung Ihrer Gegenwart, die Beantwortung Ihrer Fragen, das sinnliche Erkennen, die Beunruhigung, die Kritik, der Trost – identifizieren Sie, was Sie von Ihrem Buch erwarten. Bekennen Sie sich zu Ihren Ansprüchen.
- Lassen Sie sich ruhig überfordern. Bücher müssen nämlich nicht sofort und auf Anhieb komplett und erschöpfend verstanden werden. Von Jean Paul stammt der Satz: »Ein Buch, das es nicht wert ist, zweimal gelesen zu werden, ist es auch nicht wert, einmal gelesen zu werden.« Gut sind oft Bücher, die nach der ersten Lektüre immer noch den Charakter des Versprechens besitzen.
- Leisten Sie sich eine hohe Meinung vom Umgang mit Ideen. Alles wird besser, wenn es gut gedacht ist, und selbst das Bauchgefühl braucht einen guten Kopf.
- Im Lesen verfolgen Sie eine Organisation von Informationen. Deshalb ist oft nicht vor allem der Stoff entscheidend, sondern die Form, die er annimmt. Diese schwingt selbst im Klang der Stimme, die da spricht, in den Pausen, den Sprüngen, die sie sich erlaubt, dem Swing. Die Schönheit eines Buches verpasst, wer nur seinen Informationen, nicht seinen Unterströmungen und Subtexten folgt.
- Wenn Ihnen Genauigkeit nichts bedeutet, werden Ihnen viele Bücher bloß umständlich, weitschweifig oder sprachverliebt erscheinen. Am ergiebigsten erscheint einem das Sprechen der Bücher, wenn man ihr Drängen nach Exaktheit teilt.
- Autoren verbringen weit mehr Zeit mit ihrem Stoff als Leser oder Kritiker. Urteilen Sie behutsam, machen Sie den Autor nicht dümmer, als er ist. Vor dem Urteil muss die präzise Anschauung stehen. Wenn Sie sich langweilen, muss es nicht am Buch liegen.
- Prüfen Sie inständig die Wirkung, nicht die Effekte eines Buches. Kein Text taugt, der nicht an der Erfindung Ihres Innenlebens teilnimmt.
- Ein Buch ist auf keiner Seite abgeschlossen. Es wird erst in der Lektüre fertig und will eigentlich immer weiter werden. Anders gesagt, das Buch vollendet sich, indem es die Leserin, den Leser selbst produktiv werden lässt. Das Buch ist, so betrachtet, nicht das Hervorgebrachte, sonders das Hervorbringende, und das Unglaubliche ist: Es bringt seine Leser, es bringt Sie hervor!
Diese zehn Regeln stammen laut Quellenverzeichnis aus Roger Willemsens Nachlass. Er hat sie 2014 verfasst, der Anlass dazu ist nicht bekannt. Mit ihnen beginnt das Buch »Liegen sie bequem?« – man schlägt es auf, beginnt zu lesen und ist sofort inmitten der Gedankenwelt des Autors. Und mag nicht mehr aufhören, liest einen der Texte nach dem anderen, stöbert durch das Inhaltsverzeichnis, springt hin und her, aber lässt keinen aus, liest manche zwei oder drei Mal, markiert Stellen und vergisst die Zeit um sich herum. Zusammengestellt für dieses Buch wurden sie von Literaturkritikerin Insa Wilke, der Nachlassverwalterin Roger Willemsens. Sie hat uns damit eine Sammlung an die Hand gegeben, die wirkt wie ein Lichtblick der Eleganz und des guten Stils in Zeiten, in denen beides immer weniger eine Rolle zu spielen scheint.
In einem der Texte würdigt Roger Willemsen den 2002 verstorbenen Matthias Beltz, politischer Kabarettist und scharfzüngiger Chronist der Bundesrepublik: »Matthias Beltz war einer, der gebraucht wurde und der vermisst wird.«
Und genau diese Worte könnten wir benutzen, um heute über Roger Willemsen zu sprechen.
Denn er fehlt. Er fehlt sehr.
* In vielen Büchern habe ich Stellen angestrichen, die mir im Gedächtnis haften geblieben sind und die ich immer wieder lese. Solche Stellen begleiten mich durch mein Leserleben, es sind die Textbausteine meiner Bücherwelt.
Buchinformation
Roger Willemsen, Liegen Sie bequem? Vom Lesen und von Büchern
Herausgegeben von Insa Wilke
S. Fischer Verlag
ISBN 978-3-10-397602-1
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