Zwischen 1852 und 1864 spielt Antonin Varennes Roman »Die sieben Leben des Arthur Bowman«. Das Schicksal führt den Helden der Geschichte – eben jenen Arthur Bowman – einmal um den halben Globus, von den triefenden Sumpfwäldern an der Küste Birmas über die Straßen Londons bis zu den Weiten des amerikanischen Westens. Auf eine irrwitzige Jagd nach einem Mörder und auf eine Reise zu sich selbst.
Die British East India Company dürfte die mächtigste Handelsgesellschaft gewesen sein, die jemals existiert hat. Mit einer eigenen Armee, einer eigenen Flotte und der Vollmacht, im Namen der englischen Krone Handelswege und Absatzmärkte zu erschließen, ganze Länder und Landstriche mit Waffengewalt unter englische Kontrolle zu bringen. Die British East India Company verschaffte Großbritannien ein Kolonialreich von ungeahnten Ausmaßen, das britische Empire. Gegen die Machtbefugnisse und gegen die Monopolstellung dieser Firma muten heutige Weltkonzerne geradezu zwergenhaft an. Arthur Bowman gehört zur Armee der Gesellschaft, er hat den Ruf, einer der unerschrockensten, aber auch brutalsten Kämpfer seiner Einheit zu sein.
»Bowman sah die Kompanie vor sich, die immer weiterzog gen Osten, und sich selbst als einen Teil von ihr, mit dem Gewehr in der Hand, auf Frauen, Kinder, Greise zielend, Hallen voller Pfeffer, Tee oder Tuch bewachend, oder auf Schiffen segelnd, von denen man jeden Morgen Leichen ins Wasser warf, ohne ein Gebet. Kriege und Schlachten, Kugeln, die ihn verwundet, Messer, die auf ihn eingestochen hatten, und dennoch zog er weiter, als nie erlahmende, gestählte, scharf geschliffene Speerspitze der Ostindischen Kompanie.« Einer der gehorcht und keine Fragen stellt.
Die Geschichte beginnt mit einem Desaster. Bowman soll einen Trupp bei einem Kommandounternehmen während des großen Angriffs auf Birma befehligen. Es ist ein Himmelfahrtskommando; bevor Bowman merkt, was eigentlich gespielt wird, verschwinden er und seine Männer im Qualm brennender Dörfer und im Dunst des Monsunregens im Dschungel.
Die Leser treffen ihn sechs Jahre später wieder. In London, als ein psychisches Wrack, traumatisiert und gezeichnet von seinen Erlebnissen in Birma. Die Ostindische Kompanie hat ihm einen Gnadenbrot-Job gewährt, so kann er sich als Wachmann gerade über Wasser halten. Ein mit Gin gefüllter Flachmann ist sein ständiger Begleiter, da er ohne dauerhafte Betäubung an den Trümmern seiner Existenz verzweifeln würde. Kurz bevor er völlig abstürzt ins große Nichts, passiert ein Mord. Ein ritualhafter Mord, der Bowman schmerzhaft an seine Vergangenheit erinnert. Er beginnt Nachforschungen anzustellen, will endlich wissen, was damals in Birma wirklich passiert ist, was ihn zerstört hat. Nach und nach sucht er die wenigen anderen Überlebenden seines Trupps auf, und ganz langsam kristallisiert sich die Wahrheit heraus. Oder zumindest das, was er für die Wahrheit hält. Die Suche führt ihn heraus aus London, heraus aus England, über den Atlantik in die USA bis hinein in die entstehenden Städte entlang der Siedlertrecks auf dem Weg nach Kalifornien.
Seine Erinnerungen treiben ihn weiter und weiter, es ist nicht nur die Suche nach einem Mörder, sondern seine einzige Chance, mit den Gespenstern der Vergangenheit reinen Tisch zu machen. Doch irgendwann muss sich Bowman fragen, ob er der Jäger oder der Gejagte ist. Ein alter Mann in einer gottverlassenen Siedlung mitten im Nichts findet klare Worte für sein Dilemma: »Ich verstehe, warum Sie Ihre Geschichte nicht erzählen wollen. Ich habe die Angst in Ihren Augen gesehen, Mr. Bowman. Die Angst, selbst ein Ungeheuer zu sein, ein monströser Mensch. Aber man soll keine Angst haben. Niemand weiß, was hier aus Ihnen wird, was geschehen wird, wenn Sie ein freier Mann sind.«
Wird aus Arthur Bowman ein freier Mann? Findet er in der Neuen Welt zu sich selbst? Zu einem Neuanfang? Und wird er den Mörder stellen können?
Der Autor Antonin Varenne lässt uns lange im Unklaren. Und ist diese Neue Welt wirklich so voller Freiheiten und Möglichkeiten? Ganz nebenbei räumt der Roman mit dem Mythos der Besiedlung des Wilden Westens gehörig auf. Die Weite verkürzt sich auf die wenigen befahrbaren Pisten, auf denen ein Siedlerwagen nach dem anderen entlangfährt, Achse an Achse, ein ständiger Strom unzähliger Menschen auf der Suche nach einem Neuanfang, doch nur zum Schein den gesellschaftlichen Strukturen Europas entkommen. »Die USA sind keine junge Nation, sondern ein florierendes Menschenhandelsunternehmen. Diejenigen, die heute in Washington über die Befreiung der Sklaven debattieren, sind die Besitzer der Fabriken. Sie sind es auch, die auf die Arbeiter schießen lassen. … Es gibt zu viele Arme. Dass sie sich zusammenschließen, kann man sich nicht leisten.«
»Die sieben Leben des Arthur Bowman« ist ein bemerkenswertes Buch. Kolonialgeschichte, Gesellschaftsstudie, Abenteuerroman und Noir-Western in einem. Wir erleben die Entwicklung eines Menschen mit, der sich von einem zynischen Söldner, einer Kampfmaschine ohne Gewissen zu einem Mann entwickelt, der sich seinen Dämonen stellen muss, um nicht an seinem Leben und am Alkohol zu zerbrechen. Unterwegs bekommt er dabei zu hören: »Sie wissen nicht, ob Sie den Tod suchen oder ein ehrenhaftes Leben, Mr. Bowman. Sie werden sich am Ende entscheiden müssen, und solange Sie das nicht getan haben, werden Sie hier keinen Platz haben, und auch nirgendwo anders auf dieser Erde.«
Varennne schreibt in einem klaren Stil; die ruhig erzählte Handlung wird immer wieder durch vollkommen überraschende Wendungen unterbrochen, die erst im späteren Zusammenspiel einen Sinn ergeben. Wir leiden mit, wenn Bowman sich mit seinen Alkoholexzessen fast zugrunde richtet und durch finstere Londoner Straßen taumelt. Sitzen auf unseren Sätteln, wenn einige Kapitel später schon fast ausufernde Landschaftsbeschreibungen perfekt die riesigen Entfernungen in den USA unterstreichen. Wer Cormac McCarthys »Die Abendröte im Westen« oder Bruce Holberts »Einsame Tiere« mochte, dem wird es auch in dieser außergewöhnlichen Geschichte gefallen.
Und von den sieben Leben des Titels wird Arthur Bowman etliche verbrauchen.
Buchinformation
Antonin Varenne, Die sieben Leben des Arthur Bowman
Aus dem Französischen von Anne Spielmann
C. Bertelsmann Verlag
ISBN 978-3-3-570-10235-0
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Super Tipp – und wieder wandert etwas auf meine ellenlange Liste, das ich sonst nicht entdeckt hätte. Vielen Dank!. LG, Bri
„…Kolonialgeschichte, Gesellschaftsstudie, Abenteuerroman und Noir-Western in einem…“ In der Tat macht dieser flott geschriebene, aber durchaus tiefgründige Beitrag neugierig. Darüber hinaus finden sich im Netz etliche weitere positive Rezensionen. Schaue ihn mir mal an. Danke für diese Buch-Empfehlung!
Vielen Dank, es freut mich immer, wenn ich Interesse für ein Buch wecken konnte, das mir sehr gut gefallen hat.
Das klingt wirklich spannend. Man möchte sie gar nicht ausdenken, was heutige Konzerne mit dieser Macht anstellen würden. Aber der Roman klingt gut. Das Bücher unterm Stichwort „Noir-Western“ sind eine unterschätzte Spezies. ^^
Auf jeden Fall, da gibt es so einiges an hervorragender Literatur zu entdecken.