Das Setting ist minimalistisch in Anne von Canals Roman »Whiteout« und hat etwas von einem Kammerspiel, bei dem niemand den festgesteckten Rahmen verlassen kann: Ein Camp in der Antarktis, bestehend aus ein paar Baracken, die sich um einen Bohrschacht gruppieren. Dort leben auf beengtem Raum Hanna und ihr kleines Polarforscherteam; ihr Auftrag ist die Entnahme von Bohrkernen. Für Teamleiterin Hanna geht damit ein lange gehegter Traum in Erfüllung, sie ist genau dort, wo sie seit ihrer Kindheit und Jugend immer sein wollte. Aber dann kommt alles ganz anders, und eben jener Traum wird für einen seelischen Aufruhr sorgen, der nicht nur den Erfolg der Expedition gefährdet, sondern ihr ganzes Leben ins Wanken bringt.
Denn gleich zu Beginn des Romans, als alles bereit ist für die Bohrung tief hinab ins ewige Eis, erhält sie eine E-Mail, die nur aus zwei kurzen Sätzen besteht. »Lieber Amundsen, Scott ist tot. Melde dich, Wilson.« Zwei kurze Sätze, die Hanna aus dem Gleichgewicht bringen, sie unter verdrängten Erinnerungen begraben.
Es ist ein Code, der nur für sie bestimmt ist. Eine Kindheitserinnerung. Hanna und ihr Bruder waren als Kinder eng befreundet mit Fido, einem Mädchen aus der Nachbarschaft. Ihr Lieblingsspiel, von dem sie nie genug bekommen konnten, war die Erforschung des Südpols. Sie verbrachten Tage und Nächte in einem Zelt im Garten, taten so, als wäre es ihr Basislager und als tobte um sie herum ein Schneesturm, kämpften sich Schritt für Schritt über das imaginäre Eis. Sie war immer Amundsen, ihr Bruder Jan war Wilson, einer der Begleiter Scotts, und Fido spielte Scott. Jenen Scott, der tragisch scheiterte und sein Scheitern mit dem Leben bezahlte.
Ihr gemeinsamer Kindheitstraum war, zu dritt als Forscher und Wissenschaftler berühmt zu werden. Sie wurden älter, wuchsen miteinander auf, wurden zu Jugendlichen, wurden erwachsen. Sie teilten unzählige Erinnerungen, waren Vertraute, gaben sich Halt in den schwierigen Jahren des Heranwachsens, waren auf das Engste in Freundschaft miteinander verbunden. Seelenverwandte.
Dann ging Fido. Einfach so.
Dieses Gehen, obwohl zwanzig Jahre her, beschäftigt Hanna noch immer. Es hat sie damals vollkommen aus der Bahn geworfen, sie vor ein unlösbares Rätsel gestellt, sie mit sich selbst hadern lassen. Sie tief verletzt. Zwanzig Jahre her, verdrängt, aber immer noch da. Und ihr Bruder hat die einstigen Kinderwünsche des Polarforschens, der Geologie oder der Meereskunde schon längst als Spinnerei abgetan, auch dieser Kontakt wurde auf das Nötigste reduziert.
Bis er ihr diese E-Mail schreibt. »Lieber Amundsen, Scott ist tot. Melde dich, Wilson.« Für Polarforscherin Hanna, Leiterin eines wissenschaftlichen Teams mitten in der einer der menschenfeindlichsten Gegenden unseres Planeten, bricht eine Welt zusammen, alte Wunden werden wieder aufgerissen. Vollkommen orientierungslos fühlt sie sich. Und vollkommen allein.
In vielen Rückblenden sehen wir Hanna, Jan und Fido aufwachsen. Erleben ihre spielerische Beschäftigung mit Amundsen und Scott, die Hanna das ganze Leben lang prägte, ihren Berufswunsch beeinflusste und sie nun in der lebensgefährlichen, weißen Endlosigkeit einholt.
Denn ein Schneesturm naht.
Anne von Canal verknüpft gekonnt drei unterschiedliche Extremsituationen, lässt sie zu einer einzigen zusammenfließen, einem inneren und äußeren Whiteout. Da ist die Todesnachricht, verbunden mit der Gewissheit, nun nie Aufklärung darüber zu erhalten, was damals, vor zwanzig Jahren eigentlich geschehen ist. Da sind die schmerzenden Erinnerungen an den Verlust einer Freundschaft. Einer Freundschaft, die so besonders war, dass keine andere jemals wieder an sie herangekommen ist. Und da ist der Schneesturm, der auch die letzten Anhaltspunkte in der weißen Einöde des ewigen Eises unsichtbar werden lässt.
Nach der Wikipedia-Definition ist ein Whiteout ein meteorologisches Phänomen, bei dem folgendes geschieht: »Aufgrund der starken diffusen Reflexion des Sonnenlichts und der damit einhergehenden sehr hohen minimalen Leuchtdichte kommt es zu einer sehr starken Kontrastverringerung, das gesamte Blickfeld scheint gleichmäßig hell zu sein. Das hat ein Verschwinden des Horizontes zur Folge; Boden und Himmel gehen nahtlos ineinander über. Auch Konturen oder Schatten sind nicht mehr erkennbar und der Beobachter hat das Gefühl, sich in einem völlig leeren, unendlich ausgedehnten grauen Raum zu befinden.«
Kurz zusammengefasst: Ein Whiteout bedeutet eine vollkommene Desorientierung. In Hannas Fall nicht nur räumlich gesehen. Am Ziel ihrer Wünsche, ihres Strebens angelangt merkt sie plötzlich, wie einsam sie ist – und droht daran zu zerbrechen. »Die Grenze zwischen Himmel und Erde ist ausradiert, oben und unten sind nicht mehr da, Linien und Farben ausgelöscht.«
Anne von Canal hat mit »Whiteout« ein Buch geschrieben, dass sich mit dem befasst, das uns im Innersten bewegt. Ein Buch über Träume, über Sehnsüchte, über das Verschwinden geliebter Menschen. Über Erinnerungen. Über Wunden und Verletzungen.
Über das Weitermachen.
Ein Buch über das Leben. Mit all seinen Fragen, die offen bleiben.
Buchinformation
Anne von Canal, Whiteout
mare Verlag
ISBN 978-3-86648-247-0
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Wow, eine bewegende Geschichte, die auch noch mit der Antarktis zu tun hat. Meine eigene Reise in die Antarktis liegt schon einige Jahre zurück (2009), war aber definitiv eine der spektakulärsten Erfahrungen in meinem Leben, wirklich unvergesslich. Das Buch werde ich sicher lesen,… danke für die Empfehlung! Evelin B. Blauensteiner