Wir Europäer

Mathijs Deen: Ueber alte Wege - Eine Reise durch die Geschichte Europas

Seit Menschen in Europa leben, sind sie unterwegs. Gründe dafür gab es im Laufe der Geschichte viele: Nahrungssuche, Handel, Krieg, Verfolgung oder einfach nur Neugier. Mathijs Deen hat ein Buch über dieses Unterwegssein geschrieben. »Über alte Wege – Eine Reise durch die Geschichte Europas« führt die Leser kreuz und quer durch unseren kleinen und doch so vielfältigen Kontinent; es sind Erkundungen durch alle Epochen und soziale Schichten. Herausgekommen sind dabei faszinierende und äußerst lebendige Beschreibungen uralter Routen, die oftmals heute noch bestehen. Denn »unter jedem Fußabdruck auf europäischem Boden liegt ein noch älterer. Unter jeder Straße liegt ein Weg, ein Pfad, den Vorfahren ausgetreten haben, ob als Händler oder Eroberer.«

Und als wäre es nicht ohnehin schon ein beeindruckendes Buch, so gab es eine Stelle, die ein regelrechtes Gänsehautgefühl bei mir ausgelöst und mir gezeigt hat, wie eng verzahnt das Leben in Europa schon immer war: Denn vor 200 Jahren trafen an einem kleinen, vergessenen Ort an der Ostsee die Familiengeschichte des Autors und meine eigene aufeinander.

Aber der Reihe nach.

Das Buch beginnt mit einem perfekten Einstieg: Mit einem Besuch bei einer Behörde, der UNECE Transport Division in Genf. Klingt langweilig, ist es aber ganz und gar nicht. Vielmehr verbirgt sich dahinter die Arbeit von Idealisten. 1947, knapp zwei Jahre nach dem blutigsten Gemetzel auf europäischem Boden, wurde dieses Amt gegründet. Das Ziel: Die Schaffung eines europäisch-asiatischen Fernstraßennetzes; jener Straßen, die uns heute zum Beispiel als E 40 auf den Karten oder der Beschilderung an den Autobahnen begegnen, und jene E 40 etwa führt von Calais über rund 8.000 Kilometer bis nach Kasachstan. Ich habe mir bisher über die grünen E-Schilder noch nie Gedanken gemacht, aber nachdem Mathijs Deen von seinem Gespräch mit Eva Molnar erzählt hat, werde ich zukünftig die Straßenkarten mit ganz anderen Augen lesen. Eva Molnar ist die Direktorin der Transport Division der Wirtschaftskommission für Europa und leitet den Ausbau jenes Straßennetzes. Voller Enthusiasmus, getragen vom Ideal der Völkerverständigung. Wie gesagt, ein perfekter Einstieg in das Buch.

Dann beginnt ein wilder Parforceritt durch die Geschichte, der bei der Besiedlung Europas durch die ersten Menschen beginnt. Wann haben unsere Vor-Vor-Vorfahren lange vor dem Aufauchen des Homo Sapiens zum ersten Mal Europa erblickt, nachdem sie von den afrikanischen Ursprungslanden jagend und sammelnd immer weiter gezogen waren? Und wo war es? Sahen sie an der Meerenge von Gibraltar stehend die Felsen hinter dem unüberwindbaren Wasser liegen? Oder fiel der erste Blick auf Europa über die Meerenge des Bosporus, auch sie unüberwindlich. Anhand von Ausgrabungen und Fundstücken rekonstruiert Mathijs Deen den Weg, der möglicherweise über den Kaukausus führte, entlang an Flüssen, immer weiter westwärts. Generation für Generation. Um bei dieser Formulierung zu bleiben, hat es von der ersten Sichtung Europas etwa 50.000 Generationen gedauert, bis die ersten menschlichen Wesen an der europäischen Atlantikküste standen. Ein für uns unfassbar langer Zeitraum.

Die weiteren Kapitel springen dann von einer geschichtsträchtigen Epoche zur nächsten. Die mythenumwitterte Wanderung der Kimbern und Teutonen wird aufgeschlüsselt. Völker, die sich auf den Weg machten, weil eine Nordseesturmflut ihre Heimat zerstörte – bis sie 101 v. Chr. von den römischen Legionen vernichtet wurden. Ausgangspunkt der Recherche ist ein thrakischer Kessel und sein Weg durch Europa, eine Geschichte voll ungeklärter Geheimnisse.

Vom Leben des Straßenräubers Bulla des Glücklichen wird erzählt, der auf der Via Appia zwischen Rom und Brindisi reiche Reisende ausnahm. Und anhand dessen geschildert, wie dieses perfekte Straßensystem das riesige römische Imperium zusammenhalten konnte. Rechts und links der schnurgeraden Straßen sah es allerdings anders aus: »Sie nahmen die alten Pfade und Wege fort von der Via Appia, fort von Rom. Denn die Macht des Imperiums verlor sich abseits der Straßen, wurde zu einer Geschichte von Menschen und Ereignissen, die sich anderswo abspielten.« Ein passender Zufall: Kurz nach dem Buch las ich auf Spiegel online von dem Projekt des Schriftstellers Paolo Rumiz, der genau jene südliche Via Appia wieder freilegen und als Wanderstrecke ausbauen möchte. Denn alles ist noch da, zugewachsen, überteert, verschüttet.

Wenn ich weiterhin so ausführlich durch das Buch streife, wird der Text viel zu lang. Aber ich glaube man merkt, wie viel Eindruck und Begeisterung »Über alte Wege« bei mir hinterlassen hat. Als Leser habe ich die isländische Pilgerin Guðriður Þorbjarnardóttir im Jahr 1025 auf ihrem mühsamen Weg nach Rom begleitet, über Utrecht und Köln, den Rhein hinunter nach Basel, dann über die Alpen nach Italien. War dabei, wie um das Jahr 1630 der getaufte Jude Jacob Barocas auf der Flucht vor der Inquisition Spanien über die Pyrenäen verließ und sich bis nach Amsterdam durchschlug. In seinem wenigen Gepäck ein paar Bücher, die Stücke von Lope de Vega, die er über alles liebte. In Amsterdem kam er in Kontakt mit Theaterleuten, die wiederum mit Übersetzungen jener in Nordeuropa bisher unbekannten Stücke bis an den schwedischen Königshof tourten. Was eindrucksvoll belegt, wie sehr die Kultur durch Migration bereichert wird.

Dann aber kam das Kapitel, das mich geradezu elektrisiert hat. Mathijs Deen schreibt über den langen Marsch des Rekruten Coenraad Nell, der 1812 im französisch besetzten Holland zum Militärdienst gepresst wurde, um an Napoleons Feldzug nach Russland teilzunehmen. Coenraad Nell ist der Großonkel seines Urgroßvaters und durch eine Suche in diversen Archiven konnte der lange Weg nach Osten insbesondere durch die zahlreichen erhaltenen Briefe des Regimentskommandeurs an dessen Frau akribisch rekonstruiert werden. Es war eine weite Strecke, um überhaupt erst bis zur russischen Grenze zu kommen. Über Hamburg ging es nach Neubrandenburg, Stettin, Marienwerder. Zu Fuß, Schritt für Schritt nach Osten durch eine von den vorherigen Truppen bereits ausgeplünderte Gegend. »Je länger sie hungerten, desto mehr schwand bei Bauernsöhnen wie Coenraad das Gefühl der Verwandtschaft mit den Bauern dieses Landes. Es war eine gefährliche Entwicklung für die Dörfer, durch die das Regiment marschierte, denn mit dem Gefühl der Verwandtschaft verflüchtigte sich auch das Mitleid, das die Bevölkerung noch ein wenig schützte.« Und dabei war das Feindesland noch nicht einmal erreicht.

Dann kam Königsberg. Und dann Labiau.

Labiau. Das stand da wirklich.

Labiau ist eine kleine Stadt am kurischen Haff, die heute Polessk heißt und die keiner kennt. Ein Ort, umgeben von Wäldern, Wasser und weiten Horizonten, der eigentlich nie in einem Buch auftaucht; warum auch? Mir allerdings ist der Name sehr vertraut, er fiel häufig in meiner Kindheit, wenn die Erwachsenen mit ernsten Gesichtern darüber sprachen. Dort stammt die ostpreußische Familie meines Vaters her und von dort musste er im Januar 1945 fliehen, durch brennende Dörfer und Städte, vorbei an Leichenhaufen – als Neunjähriger zusammen mit seiner Mutter und seinen beiden Brüdern. Der Vater, mein Großvater, war schon tot, irgendwo gefallen. Die Verwüstung, die von der Wehrmacht weit nach Russland hineingetragen worden war, kehrte zurück. Und die Soldaten der Roten Armee kamen nicht als Befreier, sondern als Rächer und Zerstörer.

Labiau gehört zu meiner Familiengeschichte wie ein vager Ort, der nur in der Phantasie existiert. In dem meine Vorfahren lebten, über die ich fast nichts weiß. Aber als Coenraad Nell auf dem Weg nach Russland mit seinem Regiment durch Labiau kam, standen sie vielleicht – wahrscheinlich – am Straßenrand und sahen die müden jungen Männer in ihren bereits zerschlissenen Uniformen gen Russland marschieren, nicht ahnend, dass kaum einer von ihnen wieder zurückkehren würde. Vielleicht haben sie sich kurz in die Augen gesehen, der Vorfahre von Mathijs Deen und mein eigener. Das ist natürlich reine Spekulation, trotzdem spürte ich beim Lesen den Hauch der Geschichte aus den Buchseiten aufsteigen. Vielleicht sollte ich einmal nach Labiau fahren und mir den Ort der eigenen Familiengeschichte ansehen? Eine Suche nach den eigenen Wurzeln? Je älter ich werde, desto mehr denke ich daran. 

Aber ich schweife ab. Wobei mir »Über alte Wege« durch dieses faszinierende Gedankenspiel klar gemacht hat, dass die Beschäftigung mit der eigenen Identität auch eine Beschäftigung mit Europa ist, jenem Kontinent, in dem die Menschen schon immer unterwegs waren, freiwillig oder unfreiwillig.

Die letzten Kapitel führen uns in unsere Zeit, von den ersten Autorennen von Stadt zu Stadt am Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Geschichte von Mohamed Sayem, einem Marokkaner, der Remigranten aus den Niederlanden bei ihrem Papierkrieg um Rentensprüche unterstützt. Es ist ein Weg aus Europa hinaus, immer die E 5 entlang, die von Schottland kommend bis nach Algeciras in Spanien führt – dort, wo die Fähren nach Tanger ablegen. Und dort, wo die E 5 gefühlt längst weitergeht.

Mathijs Deen hat kein Geschichts-, sondern ein Geschichtenbuch geschrieben. Das Faktengerüst wird in jedem Kapitel genau dargestellt, die Quellen genannt, die Recherche erläutert. Ergänzt um das Spekulative, die Überlegungen, was jene Menschen in bestimmten Situationen gefühlt, gedacht, gesagt haben könnten. Damit kommen sie uns sehr nahe und genau dies macht diese europäischen Geschichten so lebendig.

Denn Europa ist nicht einfach nur die EU. Dieses Europa mit seinen vielen Sprachen, seinen unterschiedlichen Kulturen und den Menschen auf der Wanderschaft, dieses Europa, das sind wir alle.

Buchinformation
Mathijs Deen, Über alte Wege – Eine Reise duch die Geschichte Europas
Aus dem Niederländischen von Andreas Ecke
DuMont Buchverlag
ISBN 978-3-8321-8383-1

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6 Antworten auf „Wir Europäer“

  1. Hallo Uwe, falls Coenraad Nell den Bauernhof ihres Vorfahren geplündert hat, entschuldige ich mich. Danke für die schöne Rezension. Mathijs

    1. Hallo Mathijs,

      vielen Dank für den Kommentar und vor allem für Ihr wunderbares Buch! Über meine Vorfahren weiß ich leider so gut wie gar nichts; aber das macht das Spekulieren auch so reizvoll …

      Viele Grüße
      Uwe

  2. Hallo Uwe,
    vielen Dank für die beeindruckende Besprechung. Du beschreibst das Buch mit so viel Enthusiasmus, der Text ist keineswegs zu lang. Ich hatte das Buch schon einmal in der Hand, da mich das Unterwegssein aus den verschiedenen Gründen sehr interessiert. Auch die damit erzählte Geschichte Europas fand ich außerordentlich spannend. Aus irgendeinem Grund, den ich nach der Lektüre deiner Besprechung schon gar nicht mehr nachvollziehen kann, habe mich dann doch nicht zum Kauf entschlossen. Das hole ich jetzt sofort nach. „Sommerferien ante portas“ – da kann es ruhig noch ein Buch mehr sein.

    1. Hallo Petra,
      vielen Dank für das Lob. Ich bin gespannt, wie Dir das Buch gefällt und wünsche schon jetzt eine inspirierende Lektüre.

      1. Hallo Uwe,
        „Über alte Wege“ hat mir unglaublich gut gefallen. Es war eines der besten Bücher meines Büchersommers. Noch einmal vielen Dank für die wunderbare Empfehlung. Ich war nach der Lektüre so im Mathijs Deen-Rausch, dass ich direkt im Anschluss „Unter den Menschen“ gelesen habe. Ein völlig anderer Text, ein Roman, aber ebenfalls absolut lesenswert. Meine Buchhändlerin hat mit den Roman empfohlen.

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