Mit fünf Büchern in die Marmorstadt

Franz-Tumler-Literaturpreis 2023: Die Nominierten

Eine Reise steht bevor, auf die ich mich schon sehr freue und die Überschrift deutet an, um was es gehen wird: Mit fünf Büchern in die Marmorstadt. Die Marmorstadt ist Laas in Südtirol. Der Marmor, das »weiße Gold«, das dort seit der Antike abgebaut wird, findet weltweit Verwendung; Beispiele sind das Queen-Victoria-Denkmal in London oder die U-Bahn-Station World Trade Center in New York

Die fünf Bücher, die mich auf der Reise begleiten, sind: »Drama« von Arad Dabiri, »oft manchmal nie« von Cornelia Hülmbauer, »Sommer in Odessa« von Irina Kilimnik, »Alpha Bravo Charlie« von Tine Melzer und »Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes« von Magdalena Saiger. Es sind fünf Debütromane und sie alle sind nominiert für den Franz-Tumler-Literaturpreis, der alle zwei Jahre in Laas vergeben wird. So auch diesen September und ich habe das große Vergnügen, als Gast dabei zu sein. In diesem Beitrag erzähle ich vorab über die fünf Bücher, die Jury und den Preis. Nach der Verleihung wird es einen Bericht darüber geben – mit Photos natürlich.

Die Bücher

Es sind wie, wie gesagt, alles literarische Debüts. Bisher kannte ich keinen der Texte und alleine deshalb freue ich mich über die Einladung zur Preisverleihung, denn dadurch entdecke ich fünf neue literarische Stimmen. 

Arad Dabiri: Drama (Septime Verlag)
Der Ich-Erzähler ist vor Jahren für einen Neuanfang von Wien nach Berlin gezogen und hat sein altes Leben hinter sich gelassen. Um einen alten Freund zu treffen, kehrt er für 24 Stunden nach Wien zurück – und in diesen 24 Stunden begleiten wir ihn auf einem rauschhaften Streifzug durch die Wiener Subkultur, tauchen tief hinein in das Lebensgefühl einer Generation. Und rasen in einem immer schneller werdenden Tempo auf das Ende zu.

Cornelia Hülmbauer: oft manchmal nie (Residenz Verlag)
In den Achtziger- und Neunzigerjahren begannen sich unsere Welt und unsere Gesellschaft langsam zu verändern – bis in den kleinen Städten und Dörfern die ehemals funktionierende Infrastruktur endgültig hinweggefegt wurde. Eine Frau erinnert sich in kurzen Momentaufnahmen an ihre Kindheit damals, irgendwo in Niederösterreich. Und nach und nach entsteht das Porträt einer Zeit, die komplett verschwunden ist, auch wenn sie noch gar nicht so lange zurückliegt.

Irina Kilimnik: Sommer in Odessa (Kein & Aber Verlag)
Für mich ist Odessa ist der Name eines Sehnsuchtsortes, einer Stadt am Meer, in der die unterschiedlichsten Kulturen jahrhundertelang zusammenlebten, mal mehr, mal weniger friedlich – und die alle ihre Spuren hinterlassen haben. Ein Besuch dieser Stadt – von dem ich lange geträumt habe – ist nicht erst seit Beginn des verbrecherischen russischen Angriffskrieges in weite Ferne gerückt, sondern schon seit dem Jahr 2014, als die russische Aggression ihren Anfang nahm. Mitten hinein in den Sommer dieses Jahres führt der Roman von Irina Kilimnik, die selbst 1978 dort geboren wurde. 

Tine Melzer: Alpha Bravo Charlie (Verlag Jung und Jung)
Es ist ein schmales Buch, doch es beschäftigt sich mit einer zutiefst existenziellen Frage: Was stiftet Sinn im Leben, wenn die gewohnte Alltagsstruktur wegfällt und die Einsamkeit sich wie eine große, dunkle Welle vor einem aufbaut? Eine Welle, die alles zu verschlingen droht. In dieser Situation befindet sich Johann Trost. Er ist Pilot, oder vielmehr: er war es. Denn nun hat der Alltag als Rentner begonnen und die öden Tage reihen sich zäh und endlos aneinander. Was kann ihn retten?

Magdalena Saiger: Was ihr nicht seht oder die absolute Nutzlosigkeit des Mondes (Edition Nautilus)
Ein starker Einstieg: »Diesen Text wird nie jemand lesen. Würdet ihr ihn lesen, ihr würdet euch wundern.« Ein namenlos bleibender Ich-Erzähler steigt aus, lässt alles hinter sich, seinen gut dotierten Job im Kunstbetrieb, sein Netzwerk, sein altes Leben. Irgendwo in der Abgeschiedenheit beginnt er in einer alten Lagerhalle ein riesiges Kunstwerk zu schaffen. Ein Kunstwerk, das nie jemand sehen wird und sehen soll. Tief hinein in die Gedankenwelt eines Künstlerlebens führt uns dieser Roman, es ist eine Suche nach dem Sinn, verzweigt, wütend, verletzlich. Denn was ist Kunst, wenn sie niemand zu Gesicht bekommt?

Die Jury 

Die fünf Mitglieder der Jury haben aus den deutschsprachigen Debüts, die im Zeitraum zwischen dem 1. Januar und dem 31. Mai 2023 erschienen sind, die fünf nominierten Romane ausgewählt. Die Jury besteht aus Robert Huez (Leiter des Literaturhauses Wien), Manfred Papst (Journalist und Autor, Zürich), Jutta Person (Journalistin und Kulturwissenschaftlerin, Berlin), Gerhard Ruis (Autor und Literaturwissenschaftler, Wien) und Daniela Strigl (Literaturkritikerin und Literaturwissenschaftlerin, Wien).

Der Ablauf

Die Nominierten stellen ihre Romane am 21. und 22. September in Laas vor – als öffentliche Lesung. Nach einer Live-Diskussion wählt die Jury einen Siegertitel, der mit dem Franz-Tumler-Literaturpreis 2023 ausgezeichnet wird. Gleichzeitig gibt es ein Publikumsvoting für die Vergabe des Publikumspreises. 

Der Preis

Der Franz-Tumler-Literaturpreis wird 2023 zum neunten Mal vergeben. Träger sind die Gemeinde Laas, der Bildungsausschuss Laas, der Südtiroler Künstlerbund und der Verein der Vinschger Bibliotheken. Das Preisgeld in Höhe von 8.000 Euro wird von der Südtiroler Landesregierung gestiftet. 

Der Preis existiert seit 2007. Benannt ist er nach dem Schriftsteller Franz Tumler, der von 1912 bis 1998 lebte und in dessen Biographie sich die Brüche des 20. Jahrhunderts mit all ihren Verwerfungen spiegeln. Geboren in Südtirol wuchs er in Österreich auf, wurde Lehrer und begann zu schreiben. Seiner Geburtsregion, die nach dem Ersten Weltkrieg von Italien annektiert wurde, blieb er zeitlebens verbunden – vielleicht erklärt sich dadurch zu einem Teil die Sympathie, die er den Nationalsozialisten entgegenbrachte. Denn viele Südtiroler hofften, dass Hitler diese deutschsprachige Provinz aus Mussolinis Machtbereich – in dem die Südtiroler Bevölkerung unter massiven Repressionen zu leiden hatte – loseisen würde. Doch der dachte gar nicht daran, zu wichtig war das Bündnis zwischen den beiden faschistischen Staaten. Viele Südtiroler Familien siedelten nach Deutschland über – und gerieten zwischen die Mahlsteine der beiden Diktaturen. Eine kleine Abschweifung: Der für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2023 nominierte Roman »Ein Hund kam in die Küche« von Sepp Mall beschäftigt sich mit diesem Thema.

Franz Tumler gehört gegen Ende der Dreißigerjahre zu den vom Nazi-Regime besonders geförderten Autoren, seine völkisch eingefärbten Werke sind sehr erfolgreich. Doch als alles vorbei und Europa ein riesiges Trümmerfeld ist, als die Dimensionen der deutschen Verbrechen und des unfassbaren Zivilisationsbruches sichtbar werden – was mag da in ihm vorgegangen sein? Im Gegensatz zu anderen Künstlern macht er nie ein Geheimnis aus seiner Verstrickung mit dem NS-Regime. Auseinandergesetzt hat er sich damit mit den Mitteln der Literatur, er verarbeitet seine Schuld in seinem Werk; er wird zu einem der wichtigsten Schriftsteller der Nachkriegsmoderne, dessen Texte bis heute als »Marksteine moderner Erzählliteratur« gelten. Und zu einem engagierten Förderer junger Nachwuchsautorinnen und -autoren.

Es ist ein Spannungsfeld, das Franz Tumlers Leben und Werk prägt: Ein Spannungsfeld zwischen Schuld und Avantgarde, zwischen der Sympathie für ein mörderisches Regime und der Rehabilitation durch die schriftstellerische Arbeit. Ein Spannungsfeld, in dem das gesamte 20. Jahrhundert sichtbar ist. 

Die Reise

Ich bin sehr gespannt auf die Tage in Südtirol. Und auf die Reise dorthin: Insgesamt werde ich von Köln nach Laas etwa vierzehn Stunden in Bahnen und Bussen unterwegs sein. Pro Strecke. Genug Zeit also, die fünf nominierten Romane zu lesen. 

Bald mehr dazu.

3 Antworten auf „Mit fünf Büchern in die Marmorstadt“

  1. „Alpha Bravo Charlie“ steht auch noch auch meiner Leseliste – die anderen Titel machen aber nicht weniger neugierig! :-)

    Ich wünsch dir spannende Tage im wunderschönen Südtirol und viel Spaß beim Lesen!

    Sonnige Grüße aus Salzburg!
    Nana

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