Anfang 1996 arbeitete ich als Buchhändler und verkaufte Reiseführer. Beim Auspacken einer Kiste mit Novitäten fiel mir ein schmales Buch in die Hände, das eines meiner intensivsten Leseerlebnisse überhaupt auslöste. Der Titel lautete »Cafés in Prag« und machmal gibt es Momente, in denen man ganz plötzlich eine Eingebung hat oder eine plötzliche Idee, oder ein Plan glasklar vor dem inneren Auge erscheint. Das war ein solcher Moment. Einen Monat später kaufte ich eine Zugfahrkarte nach Prag und machte mich auf den Weg. Im Gepäck hatte ich den besagten Kaffeehausführer und eine Kafka-Gesamtausgabe. Dazu eine Kafka-Biographie. Der Plan: Von Café zu Café zu Café ziehen und lesen. Kafka lesen. Nichts anderes und das eine Woche lang.
Irgendwann kam ich in Prag an. Am Bahnhof standen viele Leute, die Zimmer vermieten wollten und so fand ich schnell ein Quartier in einem großen, grauen Wohnblock aus den fünfziger Jahren. Trotz unglaublich hoher Decken wirkte die Wohnung nicht luftig, sondern alt und miefig – die ganze Trostlosigkeit eines sozialistischen Ostblockstaats hatte sich darin konserviert. Überhaupt war Prag damals noch nicht das Touristen-Disneyland, als das es sich heute präsentiert. Viele Fassaden waren grau und bröckelig, aber das Stadtzentrum hatte ein wundervolles Flair, gerade weil noch nicht alles glatt und durchrenoviert war. Dazu kam, dass es Februar war, manchmal der Nebel in den Gassen hing und der Dunst aus der Moldau aufstieg, so dass sich über alles eine winterlich-melancholische Stimmung legte.
In dieser Atmosphäre Kafka lesen war, wie soll ich sagen, authentisch. Tagelang, abendelang machte ich nichts anderes: Die Empfehlungen aus dem kleinen Buch ausprobieren, von Café zu Café ziehen, sich durch die Stadt treiben lassen und Kafka lesen. Alle Romane und die meisten Erzählungen. Dazu die knappe Biographie, die ich dabei hatte. Ich lief dort entlang, wo er auch ging. Sah die Häuser, in denen er wohnte. Fing an, seine Ängste und Einsamkeit zu verstehen. Denn in der ganzen Zeit traf ich niemand, mit dem ich mich unterhalten konnte. Niemand sprach Englisch oder Deutsch und das mir völlig unverständliche Tschechisch lies mich meine Fremdheit noch deutlicher spüren.
Tagelang allein, ohne jegliche Kommunikation und das mitten in einer wunderschönen Stadt, ja mitten in belebten Cafés und Kneipen. Ich erinnere mich an das Café Gany’s mit seiner angestaubten Pracht eines k.u.k Kaffeehauses, die auch nach Jahrzehnten des Zerfalls im real existierenden Sozialismus erkennbar war. Oder das kleine Café mit einem völlig unaussprechlichen Namen oberhalb der Straße zum Hradschin, der Prager Burg: Hier gab es hängende Tassen, ein überaus charmanter Brauch angewandter Nachbarschaftshilfe. Wer mochte, konnte zwei statt einen Kaffee bezahlen. Für jeden so im voraus bezahlten Kaffee wurde ein Tasse an eine Stange gehängt. Kam ein Bedürftiger hinein, so konnte er nach einem hängenden Kaffee fragen – und bekam diesen dann kostenlos. Oder ein Kellerrestaurant außerhalb der Innenstadt, in dem ich zu Abend aß. Dabei Kafka lesend und deutlich als einziger Nicht-Prager erkennbar. Oder ein Café mit dem passenden Namen Samsa. Oder, oder, oder.
Nach fünf Tagen hatte ich genug. Ich hatte mich noch nie so alleine gefühlt und musste bis zur Rückfahrt noch zwei Tage warten. Das war mir zuviel. Ich fuhr zum Hauptbahnhof um meine Fahrkarte umzubuchen – und konnte mich nicht verständigen. Ich ging von Schalter zu Schalter und niemand, wirklich niemand verstand, was ich wollte. Immer nur ein höfliches Lächeln und ein Schulterzucken, bis ich aufgab. Und da fühlte ich mich tatsächlich wie eine Figur aus einer der Geschichten Franz Kafkas. So nahe wie in diesem Moment bin ich ihm nie wieder gewesen.
Die zwei Tage habe ich dann auch noch irgendwie herumgebracht. Ich hatte ja noch genug zum Lesen dabei.
Das ist eine sehr schöne Erinnerung!
Ich war beim Lesen gedanklich schnell in Rumänien, besonders in Cluj/Klausenburg.
Die tollen Cafés, die schöne Innenstadt und der kommunistische Plattenbau drumherum …
Hat schon was, auch in Cluj natürlich Kafka fehlt :-)
Viele Grüße!
Richtung Siebenbürgen wollte ich schon längst einmal reisen – es muss wunderschön dort sein.
Hallo Uwe,
jedes Mal, wenn ich etwas von Kafka lese, muss ich nun an diesen Blogbeitrag lesen (den ich schon vor geraumer Zeit gelesen habe). Und oft ertappe ich mich auch dabei, wie ich Freunde und Bekannte von deinem Leseurlaub in Prag erzähle, wenn es um meine Begeisterung für Klassiker geht und darum, dass es da noch mehr Menschen gibt, deren Herz für extrem gute Literatur schlägt. Also an dieser Stelle vielen Dank dafür, dass du davon berichtet hast.
Diese Geschichte ist natürlich ein Beweis, dass du Literatur und Kafka liebst. Es ist eines von den Erlebnissen, die man irgendwann nicht mehr macht, sondern nur, wenn man jung und ungebunden ist und dann sollte man so etwas auch ausprobieren.
Aber ich kann echt verstehen, dass du nach fünf Tagen genug hattest. Kafkas Bücher haben immer einen depressiven, gedämpften und finsteren Schleier, der sich beim Lesen auch über die eigene Seele hängt und einen niederdrückt. Ich mag so etwas gar nicht. Und genau deshalb liebe ich die französische Literatur des 19. Jahrhunderts ganz besonders: Dadurch, dass in dieser Zeit es möglich wurde die sozialen Grenzen zwischen Arm und Reich zu durchbrechen, wurde das auch in der Literatur ein wichtiges Thema. Diese Geschichten sind schön und hässlich zugleich, zeigen die feine Gesellschaft, aber auch die bittere Armut. Diese Bücher sind nicht so durchgängig von einem Schwermut durchzogen.
Liebe Grüße
Tobi
Hallo Tobi,
es freut mich, dass dieser Beitrag solche Auswirkungen hat…
Das war schon ein spannendes Projekt, es wird bald 20 Jahre her sein, aber die paar Tage in Prag haben sich mir unauslöschlich ins Gedächtnis gegraben.
Übrigens: Von Kafka stammt auch einer der Texte, der mir so viel positive Energie gegeben hat, wie sonst kaum ein anderer: https://kaffeehaussitzer.de/positiv-denken-mit-franz-kafka/
Beste Grüße
Uwe
Ein verrücktes Projekt, die Idee gefällt mir! Du warst aber streng mit dir und hast dein Vorhaben, nur (Kafka) zu lesen, durchgezogen… Wärst du zwischendurch öfter Stadt gegangen, hättest du dich möglicherweise nicht so einsam gefühlt, wer weiß… Aber so war es tatsächlich eine kafkaeske Erfahrung, noch dazu im dazu passenden nebeligen Februar. Erstaunlich, dass du dich mit niemandem verständigen konntest, ich dachte, 1996 wäre die Stadt schon offener gewesen. Ich war auch einmal in Prag, aber früher, als die Grenzen noch nicht offen waren und noch eine gewisse Anspannung und das Gefühl herrschten, als Tourist überwacht zu werden. Ständig wurde man angesprochen, ob man Geld tauschen wolle…
Ich bin eigentlich die ganze Zeit durch die Stadt gezogen, von Café zu Café, viele davon in Gegenden, in die sich kaum ein Tourist verirrt hat. Seltsam war es ja gerade, dass ich niemanden getroffen habe, der ein paar Worte Englisch oder Deutsch verstanden hat – nicht einmal an den Schaltern des Hauptbahnhofs einer europäischen Hauptstadt. Genau das hat die Situation so, ja, kafkaesk erscheinen lassen….
Wow, das hört sich nach einer intensiven, authentischen Leseerfahrung an – auf solch eine Idee wäre ich nicht gekommen!
Das war es auch – beim Schreiben habe ich gemerkt, wie präsent diese Kafka-Woche immer noch in meinem Kopf ist. 17 Jahre später…
Irre.