Gut recherchierte historische Kriminalromane lassen auf ihrem Weg weit zurück in die Vergangenheit Epochen auferstehen, die scheinbar längst verschwunden sind. Aber nur selten gelingt dies so vielschichtig wie in dem Roman »1793« von Niklas Natt och Dag, der uns mitnimmt nach Stockholm in das titelgebende Jahr. Und in eine Zeit der Umbrüche.
1793 also. 100 Jahre zuvor war Schweden noch eine der wichtigen europäischen Großmächte gewesen, ein Land, dem der Dreißigjährige Krieg große Territorialgewinne eingebracht hatte. Mit dem Scheitern der Feldzüge Karls XII. und dessem Tod im Jahr 1718 setzte der Niedergang ein und 1793 war Schweden ein Land der extremen Gegensätze, bitterste Armut existierte neben dem verschwenderischen Lebensstil der Reichen. Vier Jahre zuvor hatten genau diese Gegensätze in Frankreich zu einer Revolution geführt, und nur wenige Monate vor Beginn der Romanhandlung war der französische König guillotiniert worden – ein Ereignis, das in ganz Europa für Unruhe unter den Mächtigen sorgte. Es brodelte auf dem Kontinent und jahrhundertealte gesellschaftliche Strukturen bekammen erste Risse.
»1793« beginnt ganz klassisch mit dem Fund einer Leiche. Stadtknecht – eine Art einfacher Wachmann – Jean Michael Cardell fischt einen menschlichen Torso aus dem Wasser, wobei es »Wasser« nicht ganz trifft, denn vor dem Armeleuteviertel Södermalm gleicht das Ufer eher einer stinkenden Kloake aus menschlichen Exkrementen, Abfall und Schlamm.
Die Leiche hat keine Augen mehr. Auch keine Zähne und keine Zunge. Beide Arme und beide Beine wurden säuberlich amputiert, die Wunden fachmännisch versorgt. In einer Zeit, in der unbekannte, im Wasser treibende Tote meist einfach im nächsten Armengrab verscharrt wurden, ruft dieser schockierende Fund die Behörden auf den Plan. Der Ermittler Cecil Winge wird beauftragt, Nachforschungen einzuleiten und als Gehilfen für seine Arbeit wählt er Cardell aus, jenen Stadtknecht, der die Leiche geborgen hat.
Und damit betritt ein neues Ermittlerduo die Bühne der Kriminalliteratur.
Cecil Winge ist Jurist, geprägt von den Gedanken der Aufklärung, Verehrer der Schriften Rousseaus; ein Beamter, der Foltermethoden verachtet, dem Unvoreingenommenheit und Korrektheit über alles gehen, der – damals unüblich – bei einem Prozess auch den Angeklagten verhört. Als Konzentrationsübung nimmt er regelmäßig seine Taschenuhr bis auf das letzte Schräubchen auseinander und setzt sie wieder zusammen. Und ebenso regelmäßig hustet er Blut. Denn er leidet unter Tuberkulose, die seinen ohnehin hageren Körper mehr und mehr auszehrt.
Jean Michael Cardell war Soldat, bis er schwer verwundet wurde und einen Arm verlor. Sein Posten als Stadtknecht ist »ein Almosen für einen Krüppel, der im Dienst für das Reich verstümmelt wurde«. Er geht keiner Schlägerei aus dem Weg, seine Holzprothese hat schon vielen die Zähne gekostet. Durch seine Verwundung hoch traumatisiert, von den Dämonen seiner Erinnerungen gepeinigt, leidet er unter regelmäßigen Anfällen: »Er spürt, wie sich sein nicht länger vorhandener Arm aus dem Dunkel heraus förmlich verdichtet, bis jede Faser seines Leibs ihm zuraunt, dass der Arm wieder da sei, wo er hingehöre. Er spürt, wie sich vom Unterarm ein Schmerz ausbreitet, der so übermächtig ist, dass er die Welt übertönen könnte: ein Schädel mit eisernen Zähnen, die durch Fleisch und Knochen nagen.« Er trinkt, um dies alles ertragen zu können.
Zwei Jäger. Ein sterbenskranker, ausgemergelter Denker und ein verkrüppelter, trinkender Veteran als Mann fürs Grobe: Winge und Cardell nehmen die Ermittlungen auf. Und beißen sich schnell an zu vielen Ungereimtheiten fest. Ihre Nachforschungen führen sie quer durch die Gesellschaft Stockholms, von den Ärmsten der Armen, von Morast und Elend bis zu den Treffpunkten, an denen degenerierte Reiche ihren abstoßenden Beschäftigungen nachgehen.
Und wir Leser lernen eine Stadt kennen, hinter deren glänzender Fassade sich Abgründe auftun. Düster ist es und kalt, der nahende Winter lässt die Tage stetig kürzer werden. Menschen hungern und frieren, von der Stadt beauftragte Häscher streifen durch die Straßen, um Obdachlose und Landstreicher zu entfernen. Wer keine Arbeit nachweisen kann, wird ohne Prozess, ohne Urteil in die überall neu entstehenden Spinnerei-Manufakturen geschafft, um dort Zwangsarbeit zu verrichten. Am Arbeitsplatz angekettet, jahrelang eingesperrt, aus purer Willkür – besonders abgesehen hatten es die Häscher auf Frauen, die sich aus purer Not prostituierten.
Dem Autor gelingt es auf eine beeindruckende Art und Weise, jene Frühzeit der Industrialisierung darzustellen; mit all ihren dunklen Schatten und unzähligen Menschen, die ihr geopfert wurden. Denn das Ende des 18. Jahrhunderts war nicht nur von politischen Umbrüchen geprägt. Der Aufbruch ins industrielle Zeitalter und die damit verbundenen neuen Produktionsformen trafen auf eine streng hierarchisch geprägte Gesellschaft und sorgten flächendeckend für eine neue Form der Verelendung. Arm zu sein bedeutete mehr denn je rechtlos zu sein; in vielen Gegenden unserer Welt hat sich dies bis heute nicht geändert.
»Die Stadt stinkt und ist voll von dahinsiechenden Menschen, die nichts lieber tun, als einander die ohnehin knappe Lebenszeit zusätzlich zu verkürzen. Aber ja, im Abendlicht ist sie schön und umso schöner, je mehr Wasser zwischen ihr und ihrem Betrachter liegt.«
Im zweiten Teil des Buches taucht ein Ich-Erzähler auf, Kristofer Blix mit Namen, der seine Erinnerungen in Briefform aufschreibt. Zusammen mit der neuen Erzählebene kommt auch eine weitere Zeitebene ins Spiel, die vor der ursprünglichen Handlung angesetzt ist. Blix ist ein etwas naiver junger Mann, der mittellos in den Tag hineinlebt und sich mit kleinen Betrügereien durchschlägt. Der erst gezwungen heitere Ton seiner Aufzeichnungen wird nach und nach immer ernster und finsterer. Und schließlich wird klar, welche Rolle Blix bei all den Geschehnissen spielt.
Und eine weitere Person tritt auf, Anna Stina, eine jener bedauernswerten Frauen, die wegen Hurerei zu Zwangsarbeit in einem Spinnhaus eingesperrt worden sind. Auch Anna wird eine wichtige Rolle in der Geschichte einnehmen – und durch ihre Augen erhaschen wir Leser einen Blick auf die gnadenlosen Bedingungen, unter denen jene Eingesperrten dahinvegetieren und arbeiten mussten.
Währenddessen spuckt Winge weiter Blut, die Tuberkulose macht ihm zu schaffen. In seinem Umfeld warten alle auf sein Ende, vor allem jene, die ihn schon immer wegen seiner fortschrittlichen Ideen misstrauisch beäugt hatten. Die Stockholmer Polizei ist ein wahres Haifischbecken voller Intrigen, die Anspannung vor dem Hintergrund der revolutionären Stimmung in Europa ist fast mit den Händen zu greifen.
Und dann finden sie die beiden Ermittler endlich, die entscheidende Spur, die sie an den gottverlassenen Ort führen wird, an dem alle Handlungsstränge zusammenlaufen. Die ganze Geschichte liegt ausgebreitet vor den beiden; mit ihrer unfassbaren Tragik, mit ihrer verheerenden Mischung aus enttäuschter Liebe und unmenschlichem Hass.
Eine Frage bleibt noch zu klären. Werden Winge und Cardell Freunde? Können solch unterschiedliche Menschen überhaupt befreundet sein? Sie ergänzen sich perfekt, werden ein Team, das nicht nachgibt, das sich trotz Rückschlägen, die ihnen beinahe das Leben kosten, nicht vom eingeschlagenen Kurs abbringen lässt. Zwei Jäger eben. An einer Stelle meint Cecil Winge zu seinem Begleiter: »Ich brauche keine tröstlichen Worte – und werden Sie nur ja nicht mein Freund, Jean Michael. Dafür ist die Zeit zu knapp.«
Was bleibt als Fazit? »1793« ist ein Buch, das im Gedächtnis bleiben wird. Zwei markante Charaktere, eine verschachtelte, aber schlüssige Handlung, viel äußerst gekonnt verarbeitetes Hintergrundwissen und eine grandios-düstere Grundstimmung, die jenes ausklingende 18. Jahrhundert in all seinen Facetten zeigt – bitte mehr davon. Viel mehr. Auch wenn die Zeit knapp ist.
Buchinformation
Niklas Natt och Dag, 1793
Aus dem Schwedischen von Leena Flegler
Piper Verlag
ISBN 978-3-492-06131-5
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Überraschend starkes Buch, das ich auch für DieKolumnisten besprochen hab (und ursprünglich nur auf Verdacht bestellt). Ich reposte mal mein Fazit, das auch meinen einzigen Kritikpunkt enthält:
„(…) Ein wenig zum Stolperstein könnte die Aufsplittung der Erzählstränge werden: Dadurch, dass jeder separat für sich erzählt wird, dauert es immer eine ganze Zeit, bis wieder ein Bezug zur vorherigen Handlung erkennbar wird. Besonders der zweite Strang, in Briefen erzählt, fällt ein wenig ab: Dass jemand ohne tiefere Bildung, der solche Grausamkeiten erlebt und verübt hat, in einem solch manierlichen gutbürgerlichen Stil Briefe schreibt, das ist schwer vorstellbar. Auf der anderen Seite gelingt Autor Natt och Dag im vierten Teil das Zusammenführen der einzelnen Erzählungen so überzeugend, dass man sich das Buch zuletzt kaum anders denken kann. Es gibt, abweichend von dem, was einige unaufmerksame Amazon-Rezensenten behaupten, tatsächlich im strengen Sinne überhaupt keine „Neben“handlung, und die Verfahrensweise erinnert ein wenig, wenn auch deutlich moderater, an die Aufsplittung und Engführung von David Mitchels Cloud Atlas (…)“
Dein Fazit trifft es gut, auch mich brachte der zweite Erzählstrang, bei dem die Perspektive und die zeitliche Abfolge wechselte, kurz ins Straucheln – bis dann alles einen Sinn ergibt. Großartig komponiert.