In zwei Welten

Dorit Rabinyan: Wir sehen uns am Meer

In New York begegnen sich durch Zufall zwei junge Menschen, die sich ineinander verlieben und eine intensive Zeit miteinander verbringen. Etwas, das tagtäglich geschieht. Doch diese beiden wissen von Beginn an, dass diese Zeit nur ein paar Monate dauern, dass ihre Liebe keine Zukunft in ihren jeweiligen Welten haben kann. Denn Liat ist Israelin und Chilmi Palästinenser. Im Roman »Wir sehen uns am Meer« erzählt Dorit Rabinyan ihre Geschichte.

Alles beginnt an einem Herbsttag in einem Café an der Ecke 9th Street/6th Avenue in Manhattan, nicht weit entfernt vom Washington Square. Liat ist mit ihrem Bekannten Andrew verabredet, der aber kurzfristig verhindert ist, sie nicht mehr erreichen konnte und daher – gerade bei seinem Arabischlehrer Chilmi aufbrechend – diesen bittet, kurz in dem Café vorbeizuschauen und Liat Bescheid zu geben. So treffen die beiden aufeinander, kommen ins Gespräch, verlassen gemeinsam das Café, reden, laufen durch die Straßen, reden weiter, suchen gemeinsam Chilmis verlorenen Schlüssel, laufen und reden, sind irgendwann in der U-Bahn nach Brooklyn auf dem Weg zu Chilmis Atelierwohnung. Und ja. Das war es dann.

New York. Die Stadt ist sehr präsent in dem Buch, die beiden werden viele Stunden und viele Kilometer durch diese Stadt laufen. Für ihre Zweisamkeit wird New York zu einem Zufluchtsort mit all seiner Anonymität und Großartigkeit, eine Art neutraler Boden für ihre Liebe. Und überhaupt geben die Stadtbeschreibungen von New York und später von Tel Aviv einen sprachlich mitreißenden Handlungsrahmen, lassen Stimmungen, Gerüche, Geräusche so plastisch vor dem inneren Auge entstehen, als sei man selbst in den beschriebenen Straßen unterwegs.

Zu Beginn ist es ein sachtes Annähern. Liat sieht es zuerst nur als eine kurze Affäre, vielleicht ein One-Night-Stand am Wochenende. Doch eine Woche vergeht, zwei Wochen, drei – und sie verbringen immer noch so viel Zeit wie möglich zusammen. Während die Uhr tickt.

Die Wissenschaftlerin und der Künstler, die Israelin und der Palästinenser: Die Ich-Erzählerin Liat kommt aus Tel Aviv und hat jüdisch-iranische Vorfahren. Ein Fulbright-Stipendium hat die Philologin nach New York geführt, wo sie in der Wohnung von Bekannten im Viertel rund um die New York University lebt. In ein paar Monaten läuft ihr Stipendium aus; die Rückkehr nach Israel ist schon gebucht. Chilmi ist Maler, liebenswert chaotisch, ein Mensch der ganz und gar in seiner Kunst aufgeht. Aus Ramallah stammend hat er an der Akademie der Schönen Künste in Bagdad studiert und lebt seit ein paar Jahren mit einem Künstervisum in New York. In Brooklyn.

Aufgewachsen sind die beiden nur knapp 70 Kilometer voneinander entfernt. Und doch in verschiedenen Welten. Liat war – wie die meisten jungen Menschen in Israel – zwei Jahre in der Armee. Chilmi war wegen Graffitisprayens vier Monate im Gefängnis. Er ist aufgewachsen in einer Kultur der Erinnerung an verlorene Dörfer und Felder, einer Mischung aus Sehnsucht und Revanchismus. Sie ist aufgewachsen mit dem ständigen Gefühl der Bedrohung durch mörderische Provokationen der Hamas-Terroristen, ohne sich wiederum Gedanken über das Leben normaler palästinensischer Familien zu machen.

Zuhause lebten beide in ihren jeweiligen Blasen; fasziniert voneinander erkennen sie bei ihren endlosen Gesprächen in New York die Unterschiede in dem anderen, aber auch die vielen Gemeinsamkeiten. Denn das Land, das Klima, die Gerüche und viele ähnliche Verhaltensweisen prägten sie letztendlich beide. Manchmal sind es nur Kleinigkeiten, die versteckt in die Romanhandlung eingearbeitet sind, etwa als sie bemerken, dass sie fast die gleiche Ländervorwahl haben. Und dann kommt der Winter, einer der härtesten und kältesten seit Jahren, der den beiden Levantestämmigen gleichermaßen zu schaffen macht.

Doch in ihre gegenseitige Faszination, in ihre Verliebtheit bricht immer wieder die Außenwelt, die politische Realität hinein. Sei es, dass Liat nicht möchte, dass jemand von ihrer Familie oder ihren Freunden von Chilmi erfährt – eine Beziehung mit einem Palästinenser würde nicht akzeptiert werden. Sei es, dass sie mit Chilmis Bruder, der ein paar Tage zu Besuch kommt, essen gehen und das Gespräch über den Nahen Osten vollkommen eskaliert. Und immer wieder ist da dieser feine Riss in ihrer Beziehung, durch den sich jahrelange anerzogene und angestaute Ressentiments Bahn brechen. Nur damit die beiden immer wieder merken, dass ihre Liebe trotzdem echt ist, dass letztendlich der Mensch gegenüber zählt; nicht die Politik und schon gar nicht die Religion.

Und doch sind ihre verschiedenen Welten immer da, sie tragen sie mit sich, auch in New York. Liat zweifelt nie an ihrem Selbstverständnis als Israelin, als Jüdin, für die alles Hebräische Heimat bedeutet. Sie schwärmt vom Meer, vom Strand zwischen Tel Aviv und Jaffa, den sie so sehr liebt. Während Chilmi so gut wie noch nie am Mittelmeer war, zu kompliziert ist der Weg mit all seinen Straßensperren und Kontrollpunkten.

Dabei kann er es von der Wohnung seiner Mutter im neunten Stock eines Hochhauses bei klarem Wetter sogar sehen. Eine der stärksten Szenen des Buches führt Liat in diese Wohnung: Chilmis Bruder Marwan filmt mit einer Handkamera ein Familientreffen und schickt die DVD nach New York. Die Kamera schwenkt über die Brüder, die Schwester, die Mutter, die Enkel, durch die Wohnung, auf den Balkon und weit über das Land im Sonnenuntergang. Nie werden Liat und Chilmi zusammen mit ihren Familien einen Abend verbringen können, näher heran werden sie nicht kommen. Am Horizont glitzert und glänzt Tel Aviv und dahinter ist das Meer zu erahnen. Für beide bedeutet dieser Anblick Heimat, doch aus zwei vollkommen gegensätzlichen Perspektiven. Und an jenem Meer wird die Geschichte zu ihrem Ende kommen, bald nachdem es die beiden im winterlichen New York auf dem Fernsehbildschirm haben schimmern sehen. An dem Strand zwischen Tel Aviv und Jaffa.

Dass alles gut ausgeht, glaubt wahrscheinlich kein Leser; von Beginn an ist klar, dass diese Liebe zum Scheitern verdammt ist. Und das ist Ende ist tragisch. Aber auf eine ganz andere Art und Weise als erwartet. Schlimmer.

Die Geschichte zweier Liebender, die bedingt durch äußere Umstände nicht zueinander finden können, ist schon oft erzählt worden. Doch der aktuelle politisch-religiöse Bezug vervielfacht die Intensität der Lektüre dieses Romans. Besonders, wenn man weiß, dass Dorit Rabinyan darin ihre eigene Geschichte verarbeitet hat und er viele autobiographische Anspielungen enthält, ohne eine autobiographische Erzählung sein zu wollen. Bei seinem Erscheinen 2014 löste das Buch im konservativen israelischen Establishment einen Skandal aus; das Bildungsministerium verbot, es auf die Leseliste von Gymnasien zu setzen. Eine Kontroverse, die dem Erfolg von »Wir sehen uns am Meer« in Israel keinen Abbruch tun konnte, ihn eher noch beflügelte.

Gewidmet hat Dorit Rabinyan das Buch Hasan Hourani, dem palästinensischen Künstler, mit dem sie während einer kurzen Zeit in New York zusammen war. In einem emotionalen Filminterview* spricht sie über ihn, über ihr Buch und das Schreiben – genau an der Stelle, an der alles endet. Am Meer, zwischen Tel Aviv und Jaffa.

*Wenn man die Hintergründe des Buches noch nicht kennt, empfehle ich, den Film erst nach der Lektüre anzuschauen.

Buchinformation
Dorit Rabinyan, Wir sehen uns am Meer
Aus dem Hebräischen von Helene Seidler
Verlag Kiepenheuer & Witsch
ISBN 978-3-462-04861-2

#SupportYourLocalBookstore

4 Antworten auf „In zwei Welten“

  1. Lieber Uwe!
    Eine wunderbare Besprechung! Vielen Dank, dass du immer wieder tolle Bücher ausgräbst, fernab vom mainstream und den gerade aktuellen Bestseller-Listen. Diesem Roman kann man nämlich gar nicht genug Leser wünschen. Es ist nicht nur ein Liebesroman, es ist ein wuchtiger, politischer Roman, der noch sehr lange nachklingt. Durch die intensiven Gespräche der Protagonisten rückt der Nahost-Konflikt sehr nah. Da ich diesen Roman bereits mehrfach in meinem Freundeskreis verschenkt und empfohlen habe, ist es im Laufe der Zeit auch hier zu intensiven Diskussionen gekommen mit dem Ergebnis, dass es keine einfachen und schon gar keine schnellen Lösungen geben kann. Ich habe nach diesem Roman einige weitere Bücher zu dem Thema gelesen. Ich kann dir „Frühstück mit der Drohne“ von Atef Abu Saif (Unionsverlag) sehr empfehlen. Es handelt sich hier um ein komplettes Tagebuch, das den 51 Tage andauernden Krieg vom 07.07. bis zum 26.08.2014 zwischen Israel und den Palästinensern dokumentiert. Dieses Tagebuch ist unter schwierigsten Bedingungen entstanden und beschreibt ohne die üblichen Schuldzuweisungen. Es hat mich sehr beeindruckt.
    Liebe Grüße
    Petra

    1. Liebe Petra,

      vielen Dank für Deinen Kommentar und die Buchempfehlung – das klingt nach einem lesenwerten Buch, das ich mir gleich einmal näher anschauen werde.

      Liebe Grüße

      Uwe

    1. Lieber Andreas,

      ich bin zufällig in einer Buchhandlung auf diesen Roman gestoßen und freue mich sehr, dass es mir gelungen ist, meine Begeisterung weiterzugeben.

      Herzliche Grüße

      Uwe

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert