Wieder einmal war der Zufall im Spiel. Im März 2013 schlenderte ich über die Leipziger Buchmesse und kam am Brasilien-Stand vorbei. Im Vorfeld des Ehrengastauftritts zur diesjährigen Frankfurter Buchmesse präsentierte sich Brasilien vorab in Leipzig und gab einen Einblick in die Literaturszene. Genau in diesem Moment fand eine Autorenlesung auf brasilianisch statt, die absatzweise übersetzt wurde. Brasilianisches Portugiesisch ist für mich, obwohl ich es nur sehr bruchstückhaft verstehe, eine der melodischsten Sprachen der Welt. Also blieb ich stehen und hörte zu. Der Autor hieß Ronaldo Wrobel, war etwa in meinem Alter und stammte aus Rio de Janeiro. Genau dort spielt auch sein Roman »Hannahs Briefe«, auf den ich durch diese Lesung aufmerksam wurde.
In einer Buchhandlung wäre ich vermutlich achtlos an dem Buch vorbeigelaufen. Titel und Cover sehen so dermaßen nach kitschiger Unterhaltungsliteratur aus, dass es mich nicht weiter interessiert hätte. Aber der Schein trügt. Der Roman führt den Leser in das Rio de Janeiro der 30er Jahre. Genauer gesagt in das Viertel rund um die Praça Onze. Heute ist dort ein verkehrsumtoster Platz, damals war dort das verwinkelte Quartier der jüdischen Einwanderer. Einige von ihnen lebten schon lange dort, andere kamen erst wegen der politischen Entwicklungen in Europa. Einer von ihnen ist der Schuhmacher Max Kutner, ein polnischer Jude.
Kutner wird von der Geheimpolizei gezwungen, auf jiddisch verfasste Briefe von überwachten Personen zu übersetzen. Es bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich zu fügen, aber bei dieser Arbeit stößt er auf die Korrespondenz einer Hannah und verliebt sich nur aufgrund der Briefe in diese Frau. Die Umschläge sehen die Übersetzer nie, deshalb versucht er auf eigene Faust, die Adresse Hannahs herauszufinden. Ohne zuviel zu verraten: Er findet sie. Aber dann fängt die Geschichte eigentlich erst an. Und sie hat einige Überraschungen zu bieten.
Eigentlich weiß ich nicht so recht, ob mir das Buch gefallen hat. Die Hauptpersonen blieben beide irgendwie unscharf und konnten keine Sympathien in mir wecken. Auch ist nicht klar, wieso sich Kutner nur durch die Lektüre der Briefe in Hannah verliebt, das bleibt alles sehr an der Oberfläche. Aber die Geschichte fesselt den Leser durch sehr überraschende Wendungen, die das bisher Erzählte plötzlich in einem ganz neuen Licht erscheinen lassen. Denn es geht um Spionage, um Betrug, um Lügen. »Bevor es die Vernunft gab, die Ethik, die Moral, gab es die Lüge. Als der erste Mensch beschloss, die Wahrheit zu predigen, tat er das nicht aus Liebe zu Gott, sondern weil er Angst hatte, betrogen zu werden. Ganz einfach.« Doch so einfach ist es nicht. Nicht für Max Kutner, der die Zusammenhänge erst viel zu spät versteht. Und der auch selbst etwas zu verbergen hat.
Ronaldo Wrobel lässt eine vergangene Welt in einem vergangenen Brasilien auferstehen. Auf Seite 86 des Buches liefert er eine grandiose Beschreibung der damaligen Zustände: »Wissen schließt Unwissenheit nicht aus, und Überfluss nicht Mangel. Brasilien war das beste Beispiel. Das Land war riesig, fruchtbar und warm. Alles keimte, alles breitete sich immer weiter aus, unter anderem die Armut, vielleicht weil es ein geheimes Einverständnis zwischen Mangel und Exzess gab. Überfluss förderte Not – oder war es andersrum? In Rio starb man nicht vor Hunger oder Kälte, hier verteilten wohlhabende Damen ihr Kleingeld an Bedürftige, die kräftiger waren als die Hafenarbeiter in Polen. Früchte fielen von den Bäumen und verfaulten neben Bettlerinnen, die ihre Kinder stillten. Favelas und Wohnsilos standen neben Villen und Palästen. Nur Nichteingeweihte wunderten sich über die eigenartige Harmonie in der brasilianischen Hauptstadt, diesem tropischen Flickenteppich.«
Ronaldo Wrobel ist Brasilianer: Welches Brasilien meint er damit? Das von damals? Oder das von heute?
Vermutlich beide.
Buchinformation
Ronaldo Wrobel, Hannahs Briefe
Aus dem Brasilianischen von Nicolai von Schweder-Schreiner
Aufbau Verlag
ISBN 978-3-351-03524-2
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