Ich werde nie das völlig unbewegliche Gesicht des DDR-Grenzsoldaten vergessen, der das Photo in meinem Reisepass ganz genau mit meinem Gesicht verglich. Minutenlang. Ich stand in einer Art Einzelkabine am Grenzübergang Berlin-Friedrichstraße, die Türen geschlossen, zwischen uns eine dicke Glasscheibe. Endlich schlug er meinen Pass zu und die Türe öffnete sich nach Ost-Berlin. Es war 1986, ich war 17 und zum ersten Mal in Berlin. Ein paar Jahre später war die DDR verschwunden.
Wie die Geschichte so spielt: Damals hätte ich es niemals für möglich gehalten, dass ich zwölf Jahre später mit dem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit regelmäßig an der Stelle dieses Grenzübertritts vorbeikommen würde. Es war im Sommer 1998 und ich war Praktikant bei Lettre International.
Diese Zeitschrift ist ein faszinierendes Projekt. Gegründet wurde sie 1988 im damaligen West-Berlin und verstand sich von Beginn an als eine grenzenübergreifende Kulturzeitung für Europa. Zahlreiche namhafte Schriftsteller, Künstler und Philosophen aus vielen verschiedenen Ländern veröffentlichten darin Essays, Analysen und Erzählungen. Jens Reich, Milan Kundera, György Konrád, Timothy Garton Ash, Václav Havel, Joseph Brodsky, Juan Goytisolo, Ocotavio Paz, Nadine Gordimer, Edward Said und viele, viele andere gaben und geben sich bei Lettre die Klinke in die Hand. In der Regel handelt es sich bei den Texten um deutsche Erstveröffentlichungen, wobei etwa 80% der Beiträge Übersetzungen ins Deutsche sind.
So entstand ein kulturelles, intellektuelles und politisches Forum, das die großen Umwälzungen und politschen Veränderungen in Mittel- und Osteuropa mit meinungsbildenden Beiträgen begleitete. Die Titelbilder der Hefte sind jeweils von Künstlern gestaltet, darunter so bekannte Namen wie Jörg Immendorf, Markus Lüpertz, Georg Baselitz, Ai Weiwei, Miquel Barceló, Sigmar Polke, Martin Kippenberger oder Gerhard Richter. Wie gesagt, ein faszinierendes Projekt.
Hier hatte ich also einen Praktikumsplatz gefunden. Es war alles so, wie ich mir das im Herzen einer solch intellektuellen Unternehmung vorgestellt hatte: Berlin-Mitte, ein einziger, riesiger, loftartiger Raum mit einer hohen Betondecke, überall Schreibtische, Bücher, Hefte, Papierstapel, Computer, Kabel, Telefone und überquellende Aschenbecher. Die Arbeitszeiten waren von 11.00 bis 19.00 Uhr, die Arbeitsatmosphäre war kreativ und hochkonzentriert. Sätze wie »Wenn nachher Tabucchi anruft, leg mir das Gespräch hier rüber« waren keine Seltenheit und ließen mich mit ehrfurchtsvoller Erwartung auf das Telefon starren. Man hatte ständig das Gefühl, genau hier, in dieser herrlich maroden Fabriketage liefen unzählige Fäden aus ganz Europa zusammen, um die nächste Ausgabe von Lettre International mit Leben und Inhalten zu füllen. Die Neue Zürcher Zeitung hat das alles einmal perfekt auf den Punkt gebracht: »Wenn es eine kulturelle Stimme des alten Kontinents gibt, so artikuliert sie sich in Lettre International. Es ist der Versuch, Europas Spaltungen publizistisch zu überwinden ohne die Weite und Vielfalt der Kulturen aufzugeben.«
Es waren phantastische Wochen. Ich bin tief eingetaucht in eine Geisteswelt, die ich so noch nicht kannte oder nur an der Oberfläche wahrgenommen hatte. Berlin-Mitte war zu dieser Zeit noch nicht komplett durchsaniert, sondern ein Ort voller Aufbruchstimmung, Inspiration und überraschender Entdeckungen. Ein paar Jahre später ist Lettre nach Berlin-Kreuzberg umgezogen, als in Mitte die Mieten explodierten.
Inzwischen hat Lettre International den 25. Geburtstag gefeiert, im März 2013 erschien das hundertste Heft. 25 Jahre als vollkommen selbständig agierende, unabhängige und zum keinem Medienkonzern gehörende Zeitschrift. Ein kleines Wunder. Zum Jubiläum habe ich mir endlich auch ein Abo gegönnt und wünsche diesem großartigen Projekt noch viele erfolgreiche Jahre.