Trostlosigkeit, in Worte gemeißelt

Laurie Lee: Ein Moment des Krieges

Der Roman »Ein Moment des Krieges« von Laurie Lee ist eines dieser Bücher, die vor vielen Jahren bei mir eingezogen sind und seitdem darauf warteten gelesen, oder vielmehr: entdeckt zu werden. Ich weiß nicht mehr, wo und wann ich es erworben habe; ich kann mich vage daran erinnern, dass ich die Inhaltsbeschreibung interessant fand und dass mir der erste Satz gefallen hat: »lm Dezember 1937 überquerte ich von Frankreich aus die Pyrenäen – zwei Tage zu Fuß durch den Schnee.« Vor einiger Zeit fand es Aufnahme in mein Leseprojekt zum Spanischen Bürgerkrieg und nun habe ich es endlich gelesen. Und entdeckt habe ich dadurch nicht nur einen faszinierenden Augenzeugenbericht aus jener unheilvollen Zeit, sondern einen Roman, dessen mitreißend-melancholische Sprache mich voll und ganz in ihren Bann gezogen hat. Zu verdanken habe ich dies der Übersetzung von Robin Cackett.

Der englische Dichter Laurie Lee beschreibt in seinem Werk sein eigenes Erleben als Freiwilliger der Internationalen Brigaden, die in Spanien auf Seiten der Republikaner gegen die faschistischen Truppen General Francos kämpften. Ein Satz, der erst einmal nach Heldenmut klingt, nach Idealismus und Opferbereitschaft. Nach dem Verlangen, sein eigenes Leben im Kampf für die Freiheit in die Waagschale zu werfen. Und ja, natürlich stimmt das alles, irgendwie jedenfalls. Aber die Wirklichkeit des Krieges, mit der die vielen tausend Freiwilligen aus allen möglichen Ländern konfrontiert wurden, war eine ganz andere. Und mit Hilfe von Büchern wie dem vorliegenden können wir Nachgeborenen uns vielleicht den Hauch einer Vorstellung davon machen. 

Nach dem beschwerlichen Weg über die Pyrenäen trifft er auf den ersten republikanischen Außenposten, hoch oben in den Bergen. Bauern und Hirten, ausgemergelt, schlecht bewaffnet und misstrauisch. 

»Ich kauerte nieder, um mich an den qualmenden Flammen zu wärmen, und gab mich ganz dem Gefühl hin, in Spanien angekommen zu sein. Ich hatte es zum ersten Mal droben an der Grenze gespürt, als ich mich zwischen den Felsen hindurchschlängelte – da war eine atmosphärische Spannung gewesen, ein Wechsel der Gerüche und Geräusche, als ob ein großes Tor sich hinter mir schlösse und für immer das Land versperrte, aus dem ich gekommen war; ein rauher Wind bließ mir entgegen, die südlichen Abhänge der Pyrenäen erstreckten sich zu meinen Füßen, und vor mir tat sich die vielfach zerklüftete Unermesslichkeit Spaniens auf. Hinter mir lag der stechende Geruch von Gauloises, der einschläfernde Wohlgeschmack opulenter Soßen und marinierter Braten, das fruchtbare Ackerland der Franzosen; vor mir erwartete mich, noch gespenstisch, das ganze Sammelsurium meiner Erinnerungen – die Witterung alter Lumpen und schmauchender Holzfeuer, das Aroma gesalzenen Stockfischs und sauren Weins, ein Hauch von Krankheit, Stein und Stechdorn, alten Gäulen und fauligem Leder.«

Lee kannte Spanien gut, in früheren Jahren hatte er viel Zeit dort verbracht und die archaische Welt der kargen Hochebenen, die sonnenverbrannten Berge und Täler des Südens und die pulsierenden Städte, in den denen die Gegensätze zwischen Arm und Reich gnadenlos aufeinanderprallten, schätzen und lieben gelernt. Doch das Spanien, in das er nun als Kämpfer zurückkehrt, ist ihm fremd geworden. Ein winterliches Land, das unter der Knute des Bürgerkriegs ächzt – beim Eintreffen Lees im Dezember 1937 tobte der Kampf, der mit außerordentlicher Brutalität geführt wurde, bereits seit eineinhalb Jahren. Die von Hitler und Mussolini unterstützten Armeen der Faschisten beherrschen mittlerweile etwa zwei Drittel Spaniens. Die republikanische Seite – die lediglich Hilfe von Stalins Russland erhält, während sich die großen europäischen Demokratien Frankreich und England aus dem Krieg heraushalten – ist inzwischen nicht nur von ihrer Kampfkraft her unterlegen. Ideologische Auseinandersetzungen zwischen Sozialisten, Anarchisten, Trotzkisten und Kommunisten von Stalins Gnaden mitsamt den sowjetischen NKWD-Kadern, die nach und nach die Kommandogewalt zu übernehmen versuchen, schwächen die Sache der Republik zusätzlich. Der Ausgang ist bekannt. 

Mitten hinein in diese chaotische Situation fällt das Eintreffen Laurie Lees. Und dazu kommt der Winter. Wir Mitteleuropäer verbinden Spanien meist mit Sonnenschein und langen, warmen Abenden. Doch die Winter dort können streng sein, gnadenlos kalt und alles Lebendige unter sich begraben. Als er mit einem Pferdewagen in die nächste Stadt gebracht wird, beschreibt er dies wie folgt:

»Es war ein eisiger Wintermorgen, die Hufe und Räder rutschten auf den spiegelglatten Felsen, während wir ins Tal hinabholperten, hie und da führte unser Weg durch ein schneebedecktes Dorf, das leer und kahl dalag, als sei alles Leben und Lärmen daraus verbannt. Die Stille machte mich frösteln. Es war keine natürliche Stille, kein Vogelzwitschern oder Ziegenglöckchen vermochte sie zu durchdringen. Es war, als habe eine lähmende Seuche den Ort heimgesucht – ein Eindruck, dem ich in den kommenden Wochen noch öfter begegnen sollte. Was ich spürte, war nichts anderes, als die betäubende Dumpfheit des Krieges.«

Das Gefühl einer alles überdeckenden Stille, der Eindruck eines gelähmten und geschundenen Landes – dies zieht sich durch das gesamte Buch. Die eindrucksvollste Stelle findet sich auf Seite 58: »Damals nahm ich zum ersten Mal die ätherische Brandigkeit eines kriegsgeschüttelten Landes dar, eine so durchdringende Fäulnis, dass selbst die Erde zu modern anfing und ihre Farben, Töne und Lebendigkeit verlor. Wir befanden uns nicht auf dem Schlachtfeld, doch auch hier war Krieg geführt worden, kleine Morde und kurze Exzesse der Rachsucht. Das Land wirkte gepeinigt, befleckt, verunreinigt und alle Menschlichkeit schien daraus verbannt. Der gewohnte Lauf des Lebens war zum Stillstand gekommen, niemand rührte sich, selbst die Bäume wirkten abgestorben; man sah keine Hunde oder Kinder, Pferde oder Mädchen, keine rauchenden Kamine und keine trocknende Wäsche, niemanden, der auf der Türschwelle ein Schwätzchen hielt oder am Bach spazierenging, sich aus dem Fenster lehnte oder dem vorbeifahrenden Zug nachsah. Stattdessen hatte sich eine schmierige Leblosigkeit über Dächer und Felder gelegt, als sei alles aufgegeben oder in ein Koma gefallen; nur da und dort kauerten auf einer windigen Kreuzung in tropfnassen Capes ein paar Soldaten. Dies war nicht nur ein Land im Krieg, sondern ein Land im Krieg mit sich selbst – es litt an einer abgründigeren, dauerhaften Auszehrung.«

Ich bitte um Nachsicht für die eigentlich viel zu langen Zitate aus dem Buch, doch mich hat die Sprache so begeistert, dass ich diese Stellen hier einfach wiedergeben muss. Selten habe ich einen Text gelesen, in dem Trostlosigkeit so brillant und mitreißend in Worte gemeißelt wurde – und sie dadurch nochmals unterstreicht. 

»Als wir in die wartende Stadt einzogen, verstummten die Lieder. Tarazona de la Mancha wirkte hart und trostlos wie ein Stück verrostetes kastilisches Eisen. Die Armut der schneebedeckten Hütten, die dichtgedrängt den matschigen Marktplatz säumten, erweckte den Eindruck eines beinahe sibirischen Elends. Gedrungene, vermummte Gestalten schlichen durch die Straßen; das kalte Schweigen des Ortes und seiner Bewohner schien vom Gefühl einer sinnlosen Gefangenschaft geprägt, die für Weichheit, Zärtlichkeit oder Menschenfreundlichkeit keinen Platz ließ. Hier lag Spanien bereits tot darnieder wie ein gefrorener Kadaver, und es schien, als seien wir trotz all unserer anfänglichen Begeisterung zu spät gekommen – zu spät nicht nur als Retter, sondern auch als Aasgeier in der Nacht.«

Sein »Moment des Krieges«, den Laurie Lee in den Wintermonaten 1937 und 1938 erlebt, hat es in sich. Er wird verdächtigt, ein Spion zu sein und entgeht nur knapp seiner Exekution. Er erlebt einen Bombenangriff auf einen Bahnhof aus nächster Nähe – dramatisch schildert er, wie Franco sein eigenes Land den italienischen und deutschen Schlächtern als Testgebiet zur Verfügung stellt, um für den kommenden nächsten Krieg zu üben. Er ist unterwegs im abgedunkelten, nächtlichen Madrid – das der Belagerung durch die Faschisten trotzt und zum Symbol des Widerstands geworden ist. Er kämpft in der verlustreichen und vollkommen sinnlosen Schlacht von Teruel, in der über 60.000 Soldaten der Republikaner fallen oder verwundet werden – ein Blutzoll, der ein weiterer Schritt zur Niederlage sein wird und nach der Lee sich fragen wird, ob sein Tun noch einen Sinn hat. Schließlich folgt die Rückkehr nach England, ein Land hinter sich lassend, das dem Untergang geweiht ist.

Also war alles umsonst? Der Kampf gegen Faschismus und Reaktion und für eine gerechtere Welt war gescheitert, Francos Krieg gegen seine Feinde sollte noch Jahrzehnte nach der endgültigen Niederlage der Republik andauern und Tausende Opfer fordern – in Gefängnissen und Straflagern. Francisco Franco wird bis zu seinem Tod 1975 das Land mit eiserner Hand regieren. (Um kurz abzuschweifen: Das spanische »Gesetz über das historische Andenken«, in dem das Regime Francos verurteilt wurde, ist erst im Jahr 2007 in Kraft getreten.) Als der Spanische Bürgerkrieg im März 1939 endet, liegt das Land in Trümmern; bis heute ist nicht bekannt, wie viele Menschen in den nicht ganz drei Jahren starben, die Schätzungen der Historiker schwanken zwischen 200.000 und 500.000. Und bis heute sind längst nicht alle Massengräber entdeckt, längst nicht alle Toten gefunden, die in der blutigen spanischen Erde ruhen. 

Noch einmal die Frage: Also war alles umsonst? Als eine Art Antwort mag ein letztes Zitat aus dem Buch dienen: »Nur die wenigsten von uns ahnten, dass sie in einen Krieg antiquierter Musketen und klemmender Maschinengewehre gezogen waren, der von tapferen, aber überforderten Amateuren geführt wurde. Doch im Augenblick zauderte niemand, keiner ahnte die Kehrseite der Wahrheit, wir hatten eine neue Freiheit gewonnen, ja fast eine neue Moral, und einen neuen Satan entdeckt – den Faschismus.«

Ja, es ist wichtig und richtig, die Freiheit gegen deren Feinde zu verteidigen, notfalls mit der Waffe in der Hand, wie wir gerade tagtäglich aus den Nachrichten des Jahres 2022 erfahren – und wenn dort »Intellektuelle« und Hobby-Philosophen zu Verhandlungen mit einem mordenden Aggressor aufrufen, ist das auf eine schon fast widerwärtige Weise rückgratlos.

Doch gleichzeitig macht uns Laurie Lee mit seiner Beschreibung eines geschundenen Landes und mit seinen Schilderungen der alles verschlingenden Gewalt eines klar: Krieg ist nichts Heroisches. Damals nicht, heute nicht. Nie. Gewidmet hat er sein Buch: Den Geschlagenen.

Dies ist ein Titel aus dem Leseprojekt Spanischer Bürgerkrieg.

Buchinformation
Laurie Lee, Ein Moment des Krieges
Aus dem Englischen von Robin Cackett
Berlin Verlag
ISBN 978-3-8270-0232-7
Der Titel ist leider nur noch antiquarisch erhältlich, dürfte aber auf den einschlägigen Plattformen ohne Probleme zu finden sein.

4 Antworten auf „Trostlosigkeit, in Worte gemeißelt“

  1. Es gibt ein weiteres interessantes Buch von Laurie Lee, sein »Cider with Rosie« halte ich für ein besonders schönes Exemplar britischer Literatur:
    https://mittelhaus.com/2018/05/31/laurie-lee-cider-with-rosie/

    Es zeigt ein ganz anderes Stück Literatur, deswegen einen besonderen Dank für Deine Rezension, denn L.Lee zu kennen lohnt sich. Da hast Du wieder etwas schönes herausgepickt, Chapeau!

    Deinen Schwenk zum Ukraine Krieg halte ich für gewagt. Insbesondere diejenigen, die das Morden möglichst schnell durch Verhandlungen beenden möchten, für » rückgratlos« zu erklären, ist mir zu sehr »Melnyk-Sprech«.
    Aber das mehr am Rande.

    1. Dankeschön für Dein Feedback. Was das Beenden des Mordens angeht: Das kann nur ein Mensch veranlassen und das ist Herr Putin. Deshalb halte ich es in der Tat für rückgratlos, einem Land, das um sein Überleben kämpft, das verwüstet wird, dessen Bewohner von der russischen Soldateska drangsaliert und umgebracht werden, zu Verhandlungen zu raten. Anstatt ihm jede Unterstützung zu geben, die benötigt wird, um die russischen Aggressoren wieder hinter die Grenzen zurückzutreiben. Und dann kann man auch verhandeln …

  2. Danke für den tollen Lesetipp. Ich denke, Bürgerkrieg ist noch einmal heftiger, als sich als Gemeinschaft gegen einen Angriff von außen auf die gemeinsame Souveränität und damit eben für gemeinsame Werte kämpfend zu verteidigen. Harter Stoff in beiden Fällen auf jeden Fall. Kommt auf die immerwährende Liste. LG, Bri

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