Ein Satz wie ein Geschenk

Annabel Wahba: Chamäleon

In der Beschreibung dieses Blogs heißt es, dass es darin um Bücher, Texte und Leseerlebnisse geht. Manchmal werde ich gefragt, was unter einem Leseerlebnis zu verstehen sei, doch darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Es kann etwa ein Buch sein, das mich zurückführt in eine vergangene Zeit meines Lebens, so, als würde ich in einen Spiegel schauen. Oder ein Roman, in dem eine mir wenig bekannte Epoche so intensiv vor mir ausgebreitet wird, wie es mit literarischen Mitteln nur möglich ist. Ein Buch, das seltsame Träume auslöst. Oder eines, das mich so tief in die Handlung hineinzieht, dass ich mich danach wochenlang auf keine neue Lektüre einlassen kann. Und manchmal kann ein Leseerlebnis lediglich aus einer kurzen Textstelle* bestehen oder aus einem einzigen Satz; wenn ich dort Worte finde, die etwas in mir verändern. Worte, die mich mitten ins Herz treffen. Die Trost spenden und eine offene Wunde schließen. Oder zumindest ein Pflaster darauf kleben. Und genau solch ein Pflaster, solch eine Textstelle ist mir auf den ersten Seiten des Romans »Chamäleon« von Annabel Wahba begegnet. Davon möchte ich hier erzählen. „Ein Satz wie ein Geschenk“ weiterlesen

Ein Wort zum Selfpublishing

Im Impressum dieses Blogs sowie auf der Seite mit den Kontaktangaben steht direkt bei der E-Mail-Adresse »Eine Anmerkung zu Selfpublishing-Titeln«. Und darunter folgender Hinweis: »Bei der Auswahl meiner Lektüre verlasse ich mich vor allem auf die Buchhandlungen meines Vertrauens und auf die Empfehlungen befreundeter Leser und Blogger. Bei der Fülle an Büchern und einer leider nur allzu begrenzten zeitlichen Kapazität lese ich ausschließlich Werke, die in einem Verlag erschienen und in einer Buchhandlung erhältlich sind. Alleine diese Vorauswahl würde für mehrere Leseleben reichen. Ich bitte daher darum, mir keine Informationen zu Selfpublishing-Titeln zukommen zu lassen.«

Wenn ich in mein E-Mail-Postfach schaue, dann frage ich mich an manchen Tagen, was an dieser Bitte nicht zu verstehen ist. Vielleicht entgeht mir ja tatsächlich die ein oder andere literarische Perle, aber dafür entdecke ich durch meine beiden Filter eben andere. In diesem Blogbeitrag möchte ich ein wenig mehr dazu schreiben. „Ein Wort zum Selfpublishing“ weiterlesen

Eine Straße als Sehnsuchtsort

Amor Towles: Lincoln Highway

Der drängende Wunsch, unterwegs zu sein ist eines der prägendsten Gefühle meines Lebens. Ich liebe die Aufbruchsstimmung, wenn ein Zug Fahrt aufnimmt. Ich liebe das einen plötzlich überfallende Fernweh, wenn am Himmel ein Flugzeug in der Abendsonne glänzt. Und besonders liebe ich den Anblick einer Straße, die sich am Horizont im Nirgendwo verliert. Was für ein Symbol: Unterwegs sein zu Neuem, dem Stillstand entfliehen – und sei es lediglich in der Phantasie. Kann es etwas Schöneres geben? Daher musste ich keine Sekunde lang überlegen, als ich den Roman »Lincoln Highway« von Amor Towles sah – nur wegen des Covers war das Buch gekauft, bevor ich den Klappentext wahrgenommen hatte und ohne den hochgelobten Vorgängeroman des Autors – »Ein Gentleman in Moskau« – gelesen zu haben. 

Und dann noch der Titel. Lincoln Highway. Die erste Fernstraße der USA, die beide Küsten als eine durchgehende Strecke miteinander verband; vom Times Square in New York bis zum Lincoln Park in San Francisco. Ich freute mich auf die Lektüre, auf einen Roadtrip ins Ziellose Freute mich, die Protagonisten durch endlose Weiten zu begleiten, Meile um Meile, dem Ungewissen entgegen. Das waren die Assoziationen, die Cover und Titel in mir weckten. Und um das Fazit dieser Buchvorstellung an den Anfang zu stellen: Es war in der Tat ein Roadmovie, das mich begeistert, mich auf einen wilden Trip zu einem Neuanfang mitgenommen hat. Nur vollkommen anders, als gedacht. „Eine Straße als Sehnsuchtsort“ weiterlesen

Die ukrainische Tragödie

Anne Applebaum: Roter Hunger - Stalins Krieg gegen die Ukraine

Das Buch »Roter Hunger« von Anne Applebaum kaufte ich mir vor ein paar Jahren, um eine Wissenslücke zu schließen. Denn ich wusste bisher wenig über die große Hungersnot, die 1932 und 1933 die Ukraine heimsuchte – außer, dass sie von Stalin bewusst herbeigeführt wurde, um den ukrainischen Widerstand gegen die sowjetische Herrschaft zu brechen. Der Holodomor war eines der vielen unmenschlichen Verbrechen, die den Weg des Stalinismus säumten und ist in seiner Dimension ungeheuerlich. Erst jetzt bin ich dazu gekommen, das Buch zu lesen und angesichts des brutalen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine, der seit Februar 2022 mitten in Europa tobt, erhält dieses Werk eine neue, beklemmende Aktualität. Denn neben den darin geschilderten Ereignissen vermittelt es das nötige historische Hintergrundwissen, mit dem dieser Krieg betrachtet werden muss. Um zu verstehen, dass der russische Despot Wladimir Putin nie Ruhe geben wird und dass Verhandlungen niemals einen dauerhaften Frieden schaffen werden. „Die ukrainische Tragödie“ weiterlesen

Die Augen seines Vaters

Remo Rapino: Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio

Ein Mann mit Rucksack auf dem Weg ins Ungewisse: Das Cover des Romans »Das wundersame Leben des Liborio Bonfiglio« von Remo Rapino erinnert ein wenig an Robert Seethalers »Ein ganzes Leben«. Und wie bei diesem Werk geht es ebenfalls um die Lebensgeschichte eines Einzelgängers, eines Menschen der sich immer wieder mit der Einsamkeit arrangieren muss, die ihn wie ein Kokon umgibt. Es ist jener Liborio Bonfiglio, den wir Leser als alten Menschen kennenlernen. Als Ich-Erzähler nimmt er uns mit auf eine Reise durch acht Jahrzehnte Leben und durch die Wechselbäder der italienischen Geschichte. „Die Augen seines Vaters“ weiterlesen

Das Verschwinden der Leichtigkeit

Der Eiffelturm: Steinsockel eines Pfeilers

Braucht man ein großformatiges Buch mit Photos vom Bau des Eiffelturms und mit darin abgebildeten Originalbauplänen? Natürlich nicht. Wozu auch? Konnte ich daran vorbeigehen, als ich es im Schaufenster einer Buchhandlung sah? Auf keinen Fall. Und das hat mit einer Erinnerung zu tun, die schon ziemlich lange zurückliegt, die ich aber niemals vergessen werde. Deshalb ist der Band »The Eiffel Tower« aus dem Taschen Verlag jetzt in meinem Bücherregal eingezogen. Es ist der viersprachige Nachdruck des im Jahr 1900 erschienenen Prachtbands »Gustave Eiffels 300-Meter-Turm« und ein echtes Schmuckstück. Und ich erzähle eine alte Geschichte, die auf eine traurige Weise in unser Heute passt.  „Das Verschwinden der Leichtigkeit“ weiterlesen

Leben um des Lebens willen

Guillermo Arriaga: Das Feuer retten

Der Roman »Das Feuer retten« von Guillermo Arriaga liegt neben mir, gerade habe ich ihn beendet und schaue auf das ziegelsteingroße Buch. Aus den achthundert Seiten scheint Qualm aufzusteigen, so als verströmen sie nach der Lektüre noch eine Mischung aus Testosteron, Adrenalin und Pulverdampf. Was habe ich da gelesen? Die Geschichte einer leidenschaftlichen Liebe. Die Geschichte einer Selbstzerstörung. Die Geschichte einer kaputten Gesellschaft. Die Geschichte eines zerrissenen Landes, geprägt von Gewalt und Ungerechtigkeit. Die Geschichte zweier Menschen, deren Anziehungskraft füreinander sie alle Normen vergessen lässt – mit dramatischen Folgen. Und lebensgefährlichen Konsequenzen. 

Der Autor hat dem Buch zwei Sätze des französischen Regisseurs und Autors Jean Cocteau vorangestellt: »Wenn das Feuer mein Haus niederbrennt, was würde ich retten? Ich würde das Feuer retten.« Dieses titelgebende Zitat ist eine Kampfansage an die Mittelmäßigkeit, in der es sich die meisten von uns bequem eingerichtet haben. Doch wehe, wenn die Mauer, die unser bequemes Leben umgibt und die das Gefühlschaos und die brennende Leidenschaft aussperrt, auch nur einen hauchdünnen Riss bekommt. Dann bricht die eigene, kleine Welt auseinander. „Leben um des Lebens willen“ weiterlesen

Papiergewordene Geschichte, Teil zwei

Papiergewordene Geschichte, Teil zwei

Im Blogbeitrag »Papiergewordene Geschichte« habe ich vor einiger Zeit alte Bücher aus meinen Buchregalen vorgestellt, die für mich besondere Schätze sind. Nicht, weil sie besonders wertvoll wären, sondern weil sie als Objekte schon selbst Geschichten erzählen – und dadurch ein Stück papiergewordene Geschichte darstellen, vollkommen unabhängig vom Inhalt. Es sind Bücher, die schon seit Jahrzehnten durch die unterschiedlichsten Hände gegangen sind, die historische Umwälzungen überlebt haben und nun durch die Zeiten hindurch zu uns sprechen. Hier kommt die zweite Runde dieser Buchschätze. „Papiergewordene Geschichte, Teil zwei“ weiterlesen

Eine Stadt im Sumpf

Nathaniel Rich: King Zeno

Eine Weile habe ich überlegt, wie ich das Buch »King Zeno« von Nathaniel Rich hier vorstellen soll. Denn auf den ersten Blick hat es der Autor als Kriminalroman angelegt; und ja, er erzählt von der Suche nach einem Mörder, von Leichenfunden, es gibt Schusswechsel und Verfolgungsjagden und am Ende einen Showdown. Doch hinter dieser Fassade hat die Geschichte noch viel mehr zu bieten, sie nutzt die Form des Krimis als Vehikel, um von einer Stadt im Umbruch zu berichten, von einer spannenden Musikszene, die der Welt neue Impulse geben wird – und von Umweltsünden, die diese Stadt knapp ein Jahrhundert später einholen sollten. Die Rede ist von New Orleans und »King Zeno« nimmt uns mit in das Jahr 1918; zehn Monate lang begleiten wir drei Menschen, deren Leben sich in diesem Zeitraum verändern wird. Dramatisch verändern wird, auf die ein oder andere Weise. „Eine Stadt im Sumpf“ weiterlesen

Die Toten reisen schnell

Mariana Enriquez: Unser Teil der Nacht

An dieser Stelle sollte ein prägnanter erster Satz stehen. Einer, der es schafft, sofort neugierig auf ein Buch zu machen, das mich begeistert, fasziniert und so gepackt hat, wie es nicht oft vorkommt. Das ich rasend schnell gelesen habe, weil ich nicht anders konnte, die Sogwirkung war unbeschreiblich. Um es nur widerstrebend aus der Hand zu legen, da auch die längsten Leseabende irgendwann beendet werden mussten. Ein Buch, das mir ein paar Nächte lang unruhige und seltsame Träume beschert hat, nachdem die letzte Seite umgeblättert war. Das sich tief in mein Unterbewusstsein gegraben hat. Das jetzt beim Schreiben schweigend neben mir liegt und mich wieder hineinzieht in eine der ungewöhnlichsten, aber auch verstörendsten Geschichten, die ich jemals gelesen habe. Die Rede ist von dem großartigen, düsteren Roman »Unser Teil der Nacht« der argentinischen Autorin Mariana Enriquez. Das alles in einem einzigen prägnanten ersten Satz unterbringen? Es ging nicht. „Die Toten reisen schnell“ weiterlesen

Keine Heldengeschichten

Uwe Wittstock: Februar 33 - Der Winter der Literatur

Am 30. Januar 1933 war die Weimarer Republik am Ende, die Nationalsozialisten an der Macht, und das erste längere demokratische Experiment auf deutschem Boden versank in Gewalt und staatlichem Terror. Die Dynamik, mit der dies geschah, ist erschreckend: »Für die Zerstörung der der Demokratie brauchten die Antidemokraten nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs. Wer Ende Januar aus einem Rechtsstaat abreiste, kehrte vier Wochen später in eine Diktatur zurück.« Dieses eindrucksvolle Zitat stammt aus dem Buch »Februar 33 – Winter der Literatur« von Uwe Wittstock. Anhand der Schicksale vieler der damaligen Literaturschaffenden rekonstruiert er die dramatischen Ereignisse. Furchteinflößend und mitreißend gleichzeitig, denn er schafft es, uns so dicht an diese alles verändernden Wochen heranzuführen, wie es mit der Macht der Sprache nur möglich ist. „Keine Heldengeschichten“ weiterlesen

Indiebookday 2022, improvisiert

Indiebookday 2022

Seit 2013 ist der Indiebookday ein fester Termin im Kalender vieler Literaturbegeisterter. Er findet stets an einem der letzten Samstage im März statt und ist den vielen unabhängigen Verlagen gewidmet. Die Idee dazu hatte mairisch-Verleger Daniel Beskos; sie ist einfach und hocheffektiv gleichzeitig. Die Leser sind am Indiebookday dazu aufgerufen, eine Buchhandlung aufzusuchen und ein Buch aus einem unabhängigen Verlag zu kaufen; ein Verlag also, der konzernunabhängig ist, dadurch mehr Freiheiten bei der Programmgestaltung hat und meist nur aus einem kleinen Team besteht. Auf der Seite Morehotlist, dem »Magazin für unabhängige Bücher und Buchmenschen« gibt es eine Liste deutschsprachiger Independent-Verlage. Und auf der Seite We Read Indie wird für die Frage »Was ist Indie?« eine gute Definition angeboten.

Das Wichtigste an der Aktion: Das im Lieblingsbuchladen gekaufte Buch wird anschließend auf den Social-Media-Accounts der jeweiligen Buchkäufer präsentiert – zusammen mit dem Hashtag #indiebookday. So erhalten die Bücher aus unabhängigen Verlagen an diesem Tag eine geballte Aufmerksamkeit; gleichzeitig ist es Werbung für die Vielfalt der Literatur. Auch viele Buchhandlungen beteiligen sich daran und haben für diesen Tag entsprechende Büchertische aufgebaut. „Indiebookday 2022, improvisiert“ weiterlesen

Remarque und ein staatlich geprüftes Gewissen

Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

Im Beitrag »Die Bücher meines Lebens« stelle ich diejenigen Werke vor, die in fünf Lebensjahrzehnten den prägendsten Eindruck hinterlassen haben. Einen Roman habe ich dabei vergessen: »Im Westen nichts Neues« von Erich Maria Remarque ist eines der wenigen Bücher, die ich zwischen meinem sechzehnten und zwanzigsten Lebensjahr gelesen habe. Es war die zweite Hälfte der Achtziger und eine Zeit, in der ich mit Literatur und der einsamen Beschäftigung des Lesens nichts anfangen konnte; die Nachmittage, Abende und Nächte mit den Freunden zu verbringen war viel wichtiger. Und trotzdem hat mich Remarques berühmtes Werk gepackt und fasziniert; ich weiß nicht, wie oft ich es damals las, sieben-, acht-, neunmal bestimmt. Die Ausgabe von »Im Westen nichts Neues«, die mir seinerzeit in die Hände fiel, stammt aus dem Jahr 1929; meine Großeltern müssen sie während der zwölf Jahre, in denen das Buch verboten war, irgendwo versteckt haben. Sie waren zwar überzeugte Parteigenossen und da hätte sich dieses Buch schlecht im Regal gemacht. Aber weggeschmissen haben sie es nicht – sie haben nie etwas weggeworfen. Und irgendwann war es in dem Buchregal meiner Eltern gelandet. Dann in meinem. Da ist es immer noch und jetzt, während ich dies schreibe, liegt es neben mir, ich schaue, welche Stellen ich damals mit Bleistift markierte und rufe mir die Jahre zurück ins Gedächtnis, in denen ich es gelesen habe. „Remarque und ein staatlich geprüftes Gewissen“ weiterlesen

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief

Georg Heym: Der Krieg. In: Kurt Pinthus (Hg.): Menschheitsdämmerung

Der Krieg
Georg Heym, 1911

Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.

In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß.

In den Gassen faßt es ihre Schulter leicht.
Eine Frage. Keine Antwort. Ein Gesicht erbleicht.
In der Ferne wimmert ein Geläute dünn
Und die Bärte zittern um ihr spitzes Kinn.

Auf den Bergen hebt er schon zu tanzen an
Und er schreit: Ihr Krieger alle, auf und an.
Und es schallet, wenn das schwarze Haupt er schwenkt,
Drum von tausend Schädeln laute Kette hängt.

Einem Turm gleich tritt er aus die letzte Glut,
Wo der Tag flieht, sind die Ströme schon voll Blut.
Zahllos sind die Leichen schon im Schilf gestreckt,
Von des Todes starken Vögeln weiß bedeckt.

Über runder Mauern blauem Flammenschwall
Steht er, über schwarzer Gassen Waffenschall.
Über Toren, wo die Wächter liegen quer,
Über Brücken, die von Bergen Toter schwer.

In die Nacht er jagt das Feuer querfeldein
Einen roten Hund mit wilder Mäuler Schrein.
Aus dem Dunkel springt der Nächte schwarze Welt,
Von Vulkanen furchtbar ist ihr Rand erhellt.

Und mit tausend roten Zipfelmützen weit
Sind die finstren Ebnen flackend überstreut,
Und was unten auf den Straßen wimmelt hin und her,
Fegt er in die Feuerhaufen, daß die Flamme brenne mehr.

Und die Flammen fressen brennend Wald um Wald,
Gelbe Fledermäuse zackig in das Laub gekrallt.
Seine Stange haut er wie ein Köhlerknecht
In die Bäume, daß das Feuer brause recht.

Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,

Über sturmzerfetzter Wolken Widerschein,
In des toten Dunkels kalten Wüstenein,
Daß er mit dem Brande weit die Nacht verdorr,
Pech und Feuer träufet unten auf Gomorrh.

Was für ein Gedicht. Georg Heym schrieb es 1911, drei Jahre vor dem Ausbruch des ersten Weltkriegs. Ein rußgeschwärzter Riese, der wie eine unaussprechliche Monstrosität aus dem Dunkel erscheint, den Mond in seiner unbarmherzigen Hand zerdrückt und damit das Signal gibt für den Beginn des Weltenbrands. Der wie ein Köhlerknecht mit seinem Stab die alles verschlingenden Feuer anfacht, wieder und wieder. Das Grauen, in Worte gefasst. „Aufgestanden ist er, welcher lange schlief“ weiterlesen

Über die Leere, die uns umgibt

Lydia Sandgren: Gesammelte Werke

Anstatt über den Roman »Gesammelte Werke« von Lydia Sandgren zu schreiben, würde ich viel lieber noch darin lesen, wäre gerne noch in der Geschichte gefangen, die mich vollkommen in ihren Bann gezogen hat. Aber auch 874 Seiten sind leider irgendwann zu Ende und es war mitten in der Nacht, als ich das Buch zugeklappt habe; übermüdet und hellwach gleichzeitig. Am nächsten Tag begann das Gelesene zu sacken, sich im Kopf auszubreiten und mir wurde nach und nach klar, was für ein grandioses Leseerlebnis mir beschert worden war – verbunden mit der Wehmut, die liebgewordenen Personen nun nicht mehr wiederzutreffen. Literatur, die wie ein helles Licht über den trüben pandemischen Winter strahlt. Dabei behandelt »Gesammelte Werke« ernste Themen, es geht um Verlust, um das Gefühl der Leere und die Suche nach einem Sinn im Leben; es gibt viele Fragen und nicht immer Antworten darauf – das alles aber ist eingebettet in einer wunderbaren Erzählung über die Freundschaft, das Älterwerden und die Liebe zur Kunst, zur Literatur und zur Sprache. „Über die Leere, die uns umgibt“ weiterlesen