Auch über ein Jahrhundert später umgibt die Texte von Franz Kafka eine Aura von geheimnisvoller Eleganz. Sie stammen aus der Feder eines Menschen, für den das Schreiben alles bedeutete, der sich über die Literatur definierte und allen Widrigkeiten zum Trotz jene Texte schuf, die uns heute noch faszinieren. Dabei war er kein einzelgängerischer Außenseiter. Denn auch wenn er zu seiner Familie ein gespaltenes, zu seinem Vater ein zerrüttetes Verhältnis hatte und es ihm schwerfiel, sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen oder Beziehungen einzugehen, so war er gleichzeitig fest eingebunden im intellektuellen Leben Prags, hatte Freunde und Bekannte, verbrachte gerne Zeit in Kaffeehäusern und Buchhandlungen, diskutierte leidenschaftlich über Literatur und die Themen der Zeit. Wie haben all diese äußeren Einflüsse sein Schaffen geprägt? Und ist es möglich, Spuren davon in seinen Texten zu finden? Diesen Fragen geht der Literaturwissenschaftler Andreas Kilcher in seinem Buch »Kafkas Werkstatt« nach und nimmt uns mit auf eine Reise in eine Zeit voller Umbrüche und neuer Gedanken.
»Der Schriftsteller bei der Arbeit« lautet der Untertitel und genau darum geht es: Andreas Kilcher untersucht die Arbeitsweise Franz Kafkas, ausgehend davon, dass Texte immer aus Texten entstehen – denn um zu schreiben muss man lesen. Viel lesen, die Aufnahme von Gelesenem »beschleunigt und verstärkt die Produktion eigener Gedanken.« Die Rede ist dabei von Texten aller Art – egal ob Bücher, Broschüren, Magazine, Zeitungen oder Kataloge – die im Gedächtnis des Autors miteinander verschmelzen und (mit) dazu beitragen, dass etwas Neues entsteht. Und Kafka war ein unermüdlicher Leser, der über sich selbst sagte: »Zweifellos ist in mir die Gier nach Büchern«.
Folgerichtig widmet sich Andreas Kilcher im ersten Teil seines Buches den Orten, an denen Franz Kafka Bücher erwarb, sich Anregungen holte oder in denen er öffentlich zugänglichen Lesestoff fand. Die meisten davon befanden sich in Prag, etwa die Hof- und Universitätsbuchhandlung J.G Salve im Haus zur goldenen Lilie, die Buchhandlung Jakob B. Brandeis, zugleich Verlag und Antiquariat und bekannt für eine große Auswahl an Büchern über jüdische Themen oder die Buchhandlung und Antiquariat André – dessen Besitzer mit dem Vater von Max Brod befreundet war und der »die Bücher von Brod und seinen Freunden wie Kafka besonders auszustellen pflegte.« Kafka liebte es, die Schaufensterauslagen der Buchhandlungen zu begutachten oder sich stundenlang in Buchläden aufzuhalten. Ebenso wie in den Prager Lesehallen, Bibliotheken und den Kaffeehäusern, wo täglich eine große Anzahl von Zeitungen und Magazinen auslag, die Kafka geradezu verschlang. Dies alles beschreibt Kilcher kenntnisreich, zahlreiche Zitate, Abbildungen und Quellennachweise lassen ein detailliertes Bild von Kafkas Lesegewohnheiten entstehen, die geprägt sind von einer fast manischen Sehnsucht nach dem geschriebenen Wort.
Eine genauere Betrachtung erfährt Kafkas eigene Bibliothek – die Überreste seiner Büchersammlung befinden sich heute in Universitätsbibliothek Wuppertal und sind ein Zeugnis der grauenvollen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts: Nach Kafkas frühem Tod blieben die Bücher in der Familie, bis seine drei Schwestern in deutschen Konzentrationslagern ermordet wurden. Seine Nichten überlebten den Krieg, Vera – eine von den beiden – heiratete und brachte Kafkas Bibliothek in ihrem Hausstand unter. Nach der Scheidung in den Vierzigerjahren verblieben sie bei ihrem Ex-Mann und verschwanden von der Bildfläche. 279 Bände – ein Bruchteil – tauchten 1980 bei einem Antiquar in München wieder auf, von dem sie die Kafka-Forschungsstelle Wuppertal erwarb.
Der zweite und umfangreichere Teil des Buches ist eine Art Experiment. Im Mittelpunkt steht Kafkas Erzählung »Die Sorge des Hausvaters«, in dem es um ein seltsames Wesen namens Odradek geht, das aussieht »wie eine flache sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings dürften es nur abgerissene, alte aneinander geknotete, aber auch ineinander verfitzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein.« Es ist einer von Kafkas rätselhaftesten und am wenigsten interpretierbaren Texten – und das will etwas heißen. Doch ein Text entsteht nie losgelöst von der Zeit, in der dessen Verfasser lebt. Im ersten Teil des Buches haben wir erlebt, wie intensiv sich der fanatische Leser Kafka mit den intellektuellen Fragestellungen seiner Epoche beschäftigt hat – und nun legt Andreas Kilcher anhand der seltsam unbestimmten Odradek-Geschichte dar, wie sehr diese Fragestellungen darin eingeflossen sind, mal mehr, mal weniger offensichtlich. Vier Themen sind es, die Kafkas »literarisch-kulturelle Umwelt« geprägt haben, vier damals neue Denkrichtungen, die eng verbunden sind mit der Kulturgeschichte der Jahre vor dem Ersten Weltkrieg: Die Psychoanalyse, der Marxismus, der Zionismus und der Okkultismus.
Punkt für Punkt stellt Kilcher Verbindungen her, beschreibt die Bedeutung der vier Denkrichtungen, zeigt die Bezüge in Kafkas Erzählung zu den wichtigen Werken und Autoren der Zeit, aber auch zu anderen seiner Texte. Es ist spannend zu sehen, auf welche Weise diese vier großen Themen prägend waren für ihre Epoche und wie sich dies in Kafkas Schaffen niederschlägt. Die Psychoanalyse wurde damals intensiv diskutiert, die Bandbreite reichte von begeisterter Zustimmung bis hin zu hasserfüllter Ablehnung. Der Marxismus, der bislang nur als Theorie existierte, hatte im Jahr der Odradek-Veröffentlichung ein reales Zuhause in der neugegründeten Sowjetunion gefunden – doch noch konnte niemand das Blutbad ahnen, das der Kommunismus in den kommenden Jahrzehnten anrichten würde. Interessant ist besonders Kafkas Beschäftigung mit dem Zionismus und damit verbunden das Nachdenken über seine eigene jüdische Identität – er begann Hebräisch zu lernen und von einem neuen, anderen Leben in Palästina zu träumen. Oder wie sehr der Okkultismus als gesamtgesellschaftliches Phänomen existierte. Hier war Prag eines der großen Zentren in Europa und damals extrem populäre Romane wie »Der Golem« von Gustav Meyrink erinnern noch heute daran.
»Ebenso wenig, wie Kafka Freudianer, Marxist oder Zionist wurde, indem er sich mit deren Schriften und Thesen beschäftigte, wurde er Okkultist. … Charakteristisch für ihn war … eine zugleich neugierige und distanzierte, aber auch spielerische Auseinandersetzung. Diese zielte auf eine doppelte literarischer Aneignung: Eine Übersetzung des Inhalts und eine Übersetzung der Form.« Und so finden sich Spurenelemente der großen Themen seiner Zeit in seinen Texten. Am Beispiel der Ondradek-Erzählung weist Andreas Kilcher dies nach.
»Kafkas Werkstatt« bietet interessante, nachvollziehbar aufbereitete Thesen, die den Blick auf Kafkas Werk erweitern und die zeigen, wie sehr er ein Sohn seiner Zeit, seiner Epoche war. Doch auch mit all dem Hintergrundwissen verlieren seine Texte nichts von ihrer rätselhaften, geheimnisvollen Eleganz – und das wird sich auch nach den nächsten hundert Jahren nicht geändert haben. Große Literatur, unvergänglich.
Buchinformation
Andreas Kilcher, Kafkas Werkstatt – Der Schriftsteller bei der Arbeit
Verlag C.H. Beck
ISBN 978-3-406-81505-8
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Vielen Dank für den Einblick in Kafkas Werkstatt, die Hinweise auf Buchhandlungen und damalige geistige Strömungen und geschichtliche Ereignisse sowie die „Sorge des Hausvaters“.
Vielen Dank für den Kommentar und fürs hier Mitlesen.