Ein Gastbeitrag von Maria-Christina Piwowarski* zur Schließung des Georgian National Book Center.
Die erfahreneren Buchmessebesucherinnen und -besucher raunten bewundernd: So etwas hätten sie seit Island nicht mehr erlebt, diese Stimmung der Begeisterung, des Mitgerissenwerdens, der literarischen Euphorie.
Georgien ist ein kleines Land am Schwarzen Meer, das geografisch bereits zu Asien gehört, ein Grenzland der Kontinente, ein Verbindungsstück der Kulturen.
Auf einer Fläche kleiner als Bayern leben nur ungefähr ein Viertel so viele Menschen. Und doch hat Georgien einen leidenschaftlichen Sturm der Sympathie für seine Literatur entfacht, als es im vergangenen Jahr Gastland der Frankfurter Buchmesse war.
Auch der Auftritt des Gastlandes Brasilien im Jahr 2013 bleibt den meisten als besonders gelungen in Erinnerung, doch Georgien hat 2018 noch einmal völlig neue Maßstäbe gesetzt und für viele sogar den eingangs erwähnten, oft gerühmten Auftritt Islands in den Schatten gestellt. Georgien in Frankfurt war etwas Einmaliges.
Die politische Geschichte dieses kaukasischen Landes ist eine sturmgepeitschte, eine bis zum heutigen Tag von Okkupation geprägte. Ich wage keine Thesen, ob solche existentiellen Erfahrungen zwangsläufig zu einer Dringlichkeit in der Literatur führen, doch die Romane, die in jüngerer Zeit aus dem Georgischen ins Deutsche übersetzt wurden, haben häufig einen von Ernsthaftigkeit durchdrungenen Charakter. Die Hochkultur unter Königin Tamar, ein Nationalepos aus dem 12. Jahrhundert, das heute noch georgische Schullektüre ist (und zwar nicht erst im Abiturjahrgang: Rustawelis „Der Recke im Tigerfell“), eine ganze Reihe von regimekritischen Texten, die unter sowjetischer Besatzung entstanden und nicht immer sofort verständlich sind, wenn die historischen Zusammenhänge fehlen, und zahlreiche zeitgenössische Romane und Gedichte, die jüngste Kriegserfahrungen und die dunklen 90er-Jahre verarbeiten, ergeben ein literarisches Gesamtbild, das größer ist als die Summe seiner Teile und vielleicht auch komplexer als die Literatur vieler anderer Nationen.
Es ist sicherlich keine ganz leichte Aufgabe, solche Bücher international zu vermitteln.
Mit großem Elan in Angriff genommen und mit Bravour gemeistert hat sie aber das Team um Medea Metreveli vom Georgian National Book Center (GNBC). 2014 wurde diese staatlich geförderte Institution gegründet, um georgische Literatur im Ausland bekannt zu machen und den Austausch zwischen literarischen Nationen zu fördern oder überhaupt erst herzustellen. Selbstverständlich lag der Fokus dabei erst einmal auf der weltweit größten Buchmesse in Frankfurt und dem Gastlandauftritt, der sowohl eine große Herausforderung, als auch eine enorme Chance bedeutet hat.
Mit „Georgia made by Characters“ hat das GNBC erfolgreich eine Welle des Interesses und der Georgien-Euphorie ins Rollen gebracht, allein 200 Übersetzungen ins Deutsche und 700 Veranstaltungen haben sie angestoßen.
Mein erster Kontakt mit dem GNBC war im Mai 2018. Im Literaturhaus Berlin fand ein Abend für Buchhändlerinnen und Buchhändler statt, bei dem die Autorin Anna Kordsaia-Samadaschwili und der Autor Davit Gabunia in einem wunderbar kurzweiligen Vortrag ungefähr 800 Jahre georgischer Literaturgeschichte zum Leben erweckten. Der Abend war geprägt von gegenseitigem Respekt und Bewunderung, von spürbarer Liebe zu den uralten und taufrischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern ihres Landes. Dieser Abend hat mir die Augen geöffnet. Er hat meinen Enthusiasmus, der durch Nino Haratischwilis 2014 bei der Frankfurter Verlagsanstalt erschienenen Georgien-Roman „Das achte Leben (für Brilka)“ ohnehin schon entzündet war, noch einmal angefeuert. Wie erfolgreich und bewegend der eigentliche Gastland-Auftritt dann im Oktober 2018 war, kann auch das YouTube-Video zu Georgia made by Characters spürbar machen, wenn man nicht das Glück hatte, selbst dabei gewesen zu sein
Auf der Website Georgia made by Characters und dem GNBC ist zu entdecken, was die Verantwortlichen darüber hinaus auf die Beine gestellt haben.
Neben der reinen Literaturvermittlung, Übersetzungsförderung und Beratung haben sie die georgische Kultur in Kunst-, Theater- und Filmfestivals vertreten und zahlreiche Austauschprogramme für georgische Autorinnen und Autoren nach Deutschland und vor allem anders herum ermöglicht: Deutsche Buchhändlerinnen und Buchhändler, Bloggerinnen und Blogger, Verlegerinnen und Verleger, Journalistinnen und Journalisten etc. wurden in Scharen nach Georgien eingeladen, und konnten dort bestens umsorgt vom GNBC literarische Erkundungstouren unternehmen. Im Idealfall hatten Verlagsmenschen anschließend einen georgischen Titel im Rückreisegepäck, den sie übersetzen lassen wollten. Viele von ihnen wollen auch weiterhin Titel aus dem Georgischen verlegen.
Zuletzt habe ich das GNBC jetzt Anfang Juni in Tbilisi bei der Arbeit erleben dürfen: Medea Metreveli, Maia Danelia, Salome Maghlakelidze, Nino Nadibaize und Irine Chogoshvili sind gerade mit Enthusiasmus dabei, den Buchmesse-Auftritt in Paris im nächsten Jahr vorzubereiten.
Mit Verlegerinnen und Verlegern aus der Türkei, aus Frankreich, England und Norwegen setzen sie die Zusammenarbeit fort, die sie in den vergangenen Jahren vor allem mit deutschen Verlegerinnen und Verlegern begonnen haben.
Doch sie werden ihre Arbeit wohl nicht zu Ende führen können. Denn noch im Juli dieses Jahres soll ihre erfolgreiche Zusammenarbeit als GNBC beendet werden. Offiziell heißt es, sie würden mit dem „Schriftstellerhaus“ in Tbilisi zusammengelegt, faktisch kommt es einer absoluten Degradierung gleich. Die neuen Strukturen werden vermutlich Personalwechsel, vielleicht Entlassungen nach sich ziehen und ihre erfolgreiche Zusammenarbeit auf internationalen Literaturbühnen wird, wenn sie überhaupt fortgesetzt werden kann, nicht die gleiche Freiheit haben, nicht die gleichen Erfolge vorweisen können. Die Stimmung ist unsicher und gedrückt, auch wenn sie sich vor den ausländischen Gästen nichts anmerken lassen und charmant und enthusiastisch sind wie immer. Darüber, dass sie seit 2014 als Kolleginnen fest zusammengewachsen sind, dass sie nicht fassen können, warum die Wertschätzung so still und leise umgeschlagen ist, dass die Aussichten für die Zukunft beängstigend sind, darüber sprechen sie mit den Menschen nicht, die zum ersten Mal überhaupt in Kontakt mit georgischer Literatur kommen. Sie sind Profis.
Was muss es für ein Gefühl sein, diesen wirklich glänzenden Buchmesse-Auftritt in jahrelanger Arbeit vorbereitet zu haben, ihn dann durchzuführen, eine Schallmauer der Aufmerksamkeit durchbrochen zu haben, von nationaler und internationaler Seite hochgelobt und dann plötzlich von der eigenen Regierung wie ausrangiert zu werden? Wo doch noch so viele Projekte in anderen Ländern erst angekurbelt sind und dringend weitergeführt werden müssen! Und zwar von einer Truppe, die ihr Handwerk versteht, die internationale Kontakte geknüpft hat, die weiter erfolgreich sein könnte, wenn man sie nur ließe.
Es gab Ende Mai einen offenen Brief der Kurt-Wolff-Stiftung, dem sich deutsche Verlegerinnen und Verleger, Übersetzerinnen und Übersetzer und mittlerweile auch die Literaturhäuser angeschlossen haben und den Artikel „Erfolgreich, gefeiert, gefeuert?“ in der FAZ von Tilman Spreckelsen.
Aber seitdem ist Ruhe in Deutschlands Feuilletons. Ich vermisse den Aufschrei. Ich vermisse, dass wir loyal an der Seite unserer Freundinnen und Freunde stehen, ich vermisse ein größeres Bekenntnis. Wenigstens derer, die zum Beispiel auf kostenfreien Pressereisen von der Arbeit des GNBC profitiert haben. Und das müssen mehr Menschen sein als jene, die den offenen Brief unterschrieben haben. Er ist ein wichtiger Anfang, doch was geschieht nun weiter?
Letztes Jahr um diese Zeit waren wir alle im Georgien-Fieber; wir wussten so langsam alle, dass „Madloba“ „Danke“ heißt und, wie man die Autorin Nana Ekvtimishvili schnell und elegant und idealerweise richtig ausspricht – und heute schreiben wir einen offenen Brief zu Rettung der Organisation, die das überhaupt ermöglicht hat, und damit ist es gut? Das reicht an Engagement? Weil wir im Kopf schon beim neuen Gastland Norwegen sind? Weil das Leben weitergeht?
Ich wünsche mir, dass wir den Frauen um Medea Metreveli beweisen, dass uns wichtig ist, was mit dem GNBC passiert. Ich wünsche mir, dass Literatur aus dem Georgischen weiterhin stattfindet, in unseren Regalen und Köpfen und Herzen.
Ohne das GNBC wird das nicht im gleichen Maße möglich sein.
*Maria-Christina Piwowarski ist Buchhändlerin in der Berliner Buchhandlung ocelot, not just another bookstore und eine der engagiertesten Literaturvermittlerinnen, die ich kenne. Dieser Text über die drohende Schließung des Georgian National Book Center (GNBC) ist ein Gastbeitrag, der auch auf anderen Blogs und Kanälen veröffentlicht und hoffentlich weite Verbreitung finden wird. Auch ich war seinerzeit zu einer der Pressereisen nach Georgien eingeladen, konnte aber aus terminlichen Gründen nicht teilnehmen – etwas, das ich auch ein Jahr später noch sehr bedauere. Umso mehr hat es mich damals gefreut, durch begeisternde Menschen wie Maria-Christina Piwowarski viel über die georgische Literatur zu erfahren.
Im Blog Bücherkaffee wurde der Text ebenfalls veröffentlicht.
Danke für den interessanten Artikel zu einem sehr bitteren Thema – das GNBC sollte für seinen Enthusiasmus, seinen Elan und seine unermüdliche Arbeit belohnt und nicht degradiert werden.
Hallo Maria-Christina Piwowarski,
auch mich hat der literarische Georgien-Enthusiasmus mit Nino Haratischwilis Roman „Das achte Leben (für Brilka)“ gepackt. Danach habe ich immer wieder Bücher georgischer Autoren gelesen, die in Deutschland erschienen sind. Mit großer Freude habe ich zur Kenntnis genommen, dass Georgien Gastland der Frankfurter Buchmesse werden sollte. Leider konnte ich seinerzeit die Buchmesse nicht besuchen, mir ist jedoch die wunderbare Rede von Nino Haratischwili noch gut in Erinnerung: „Georgien hat viele Geschichten zu erzählen,…“ Ich hoffe sehr, dass über die Schließung des GNBC noch nicht das letzte Wort gesprochen ist und damit nicht eine weitere tragische Geschichte erzählt werden muss. Gerade heute, habe ich im Deutschlandfunk in „Kultur heute“ allerdings ein Interview mit Zaal Andronikashvili gehört, dass wenig Hoffnung macht. Es lohnt auf jeden Fall, dieses Interview anzuhören, um zumindest etwas über die Hintergründe zu erfahren, die dazu geführt haben.
Lieber Uwe, ich finde es großartig, dass du in deinem Blog Raum für einen Gastbeitrag zu einem so wichtigen Thema bietest.
Liebe Petra,
danke für den Kommentar.
Ich glaube, mit Haratischwilis „Brilka“ hat für sehr viele von uns das Georgien-Fieber begonnen. Umso schöner war es dann, im Gastlandjahr wortwörtlich erlesen zu können, wie vielseitig die georgische Literatur ist.
Natürlich gibt es noch so viel mehr zu entdecken und ich stimme Zaal Andronikashvili aus ganzem Herzen zu, wenn er in dem Deutschlandfunkbeitrag sagt, dass der Auftrag des GNBC noch lange nicht erfüllt ist.
Zaals Einschätzung ist wesentlich für das tiefere Verständnis zu den aktuellen Ereignissen.
Ich habe meinen Text auch deshalb zuvor von ihm gegenlesen lassen, weil mir bewusst ist, dass meine nichtgeorgische Sichtweise der Dinge nur einen Teil des Problems wiedergeben kann.
Wir gut, dass er nun offen Hintergründe benannt hat – auch, wenn sie in der Tat wenig Hoffnung lassen. Aber umso wichtiger finde ich es, dass wir das hier nicht klaglos hinnehmen, sondern nachfragen und dagegenhalten.
Deshalb danke ich auch Uwe von Herzen für den Raum auf seinem Blog.
Ein wunderbarer Artikel. Danke dafür. Und ja: Wegschauen gilt nicht. Nur: Es findet so viel überall auf der Welt statt. Ich würde es vielleicht so ausdrücken für mich: Den Blick offen halten für das, was es alles gibt. Nicht mit Scheuklappen durch die Welt laufen, nicht nur auf schon festgesetzte Werte setzen, sondern Neuem eine Chance geben. Offenheit als Chance sehen. Für sich und für andere.