Ein Mann in Schwarz

John Wray: Die rechte Hand des Schlafes

Es ist manchmal erstaunlich, auf welchen Wegen man auf ein Buch aufmerksam wird. Die meisten Empfehlungen erhalte ich durch Buchhandlungsbesuche oder über andere Literaturblogs. Bei »Die rechte Hand des Schlafes« von John Wray allerdings war eine Photographie der Auslöser für den Kauf des Buches. Und zwar ein Portraitphoto, das ich schon seit über 25 Jahren in meinen Besitz habe. Ohne zu wissen, wen es eigentlich zeigt. 

Deshalb beginnt dieser Text mit einem kurzen Abstecher zurück in das Jahr 1992. Damals arbeitete ich als Altenpflegehelfer in einem Freiburger Altenheim. Nach dem Zivildienst wusste ich nicht, was ich machen sollte und so kam mir dieser Job sehr gelegen. Als Übergangslösung, die dann drei Jahre dauern sollte, bevor mir die Idee mit der Buchhändlerlehre … aber das ist eine andere Geschichte. Während meiner Arbeit hatte ich immer wieder damit zu tun, dass Zimmer ausgeräumt werden mussten, wenn Bewohner des Heims verstorben waren und die Angehörigen alle persönlichen Dinge mitgenommen hatten.

Einmal fand ich dabei ein Photo, das achtlos neben dem Papierkorb auf dem Boden lag, nicht viel größer als ein Passphoto. Es ist ein altes Schwarzweißbild und zeigt einen jungen Mann, schwarz gekleidet, Schiebermütze auf dem Kopf, der mit ernstem, arrogant-stolzem Blick auf die Kamera zuläuft; die rechte Hand lässig in der Hosentasche, unter den linken Arm eine dünne Aktentasche geklemmt. Im Hintergrund eine Häuserfassade, ein dort angebrachter Pfeil könnte ein Luftschutzkeller-Hinweis sein, vielleicht aber auch nur Werbezwecken dienen. Von der Kleidung her dürfte das Bild irgendwann zwischen 1930 und 1950 aufgenommen worden sein.

Irgendetwas an diesem Photo hat mich fasziniert und ich habe es mitgenommen. Seitdem habe ich mir immer wieder überlegt, wer dieser Mensch auf dem Bild wohl gewesen sein könnte. Oder wann das Bild genau aufgenommen wurde. An welchem Ort? In was für einem Zusammenhang? War dieser junge Mensch mit dem harten Blick ein Opfer? Oder ein Täter? Ein Nazi? Ein Verfolgter? Ein Mitläufer? Er sieht studentisch aus, könnte aber auch gerade auf dem Weg zur Arbeit in einem Büro, einer Werkstatt oder vielleicht einer Druckerei sein. Ich werde es wohl nie herausfinden, und das macht die ganze Sache noch faszinierender.

Dann fiel mir bei einem meiner vielen Buchhandlungsbesuche das Cover des Romans »Die rechte Hand des Schlafes« von John Wray ins Auge. Darauf ein junger Mann mit einer ähnlichen Mütze, mit einem ähnlich harten Blick, ebenfalls dunkel gekleidet. Ich musste sofort an den Unbekannten auf meinem Photo denken und in meiner Phantasie verschmolzen die beiden miteinander. Deshalb kaufte ich das Buch. Und deshalb könnte dieser Unbekannte jetzt Oskar Voxlauer sein, die Hauptfigur des Romans.

Oskar Voxlauer also. Er ist Österreicher und kommt im März 1938 nach langer Abwesenheit zurück in seine Heimatstadt, in den kleinen Ort Niessen irgendwo in der Villacher Gegend, schon weit in den Bergen. In der Person Voxlauers vereinen sich die Dramen der ersten Hälfte des damals noch jungen Jahrhunderts: Als junger Mann, fast noch als Halbwüchsiger zog er mit der österreichisch-ungarischen Armee in den Ersten Weltkrieg. Nach Jahren des sinnlosen Gemetzels nutzte er gegen Ende des Krieges eine Gelegenheit, um zu desertieren. Er schlug sich in Richtung Osten durch, sah um sich herum ein Europa in Auflösung, durchquerte zerfallene Reiche und neu entstehende Republiken, bis weit hinein in die Ukraine führte ihn seine Flucht. In die Sowjetunion, dem Wirklichkeit gewordenen Traum von Gleichheit und Gerechtigkeit. Hier fand er eine Frau und einen Start in ein neues Leben.

Leider war der Traum von Gleichheit und Gerechtigkeit nur ein sehr kurzer und das Terrorregime der Bolschewiki ließ ihn in einem Straflager verschwinden, für fast zwanzig Jahre lang. Am Ende seiner Odyssee kommt Oskar Voxlauer zurück in seinen Heimatort, alleine, mit leeren Händen, gezeichnet vom Leben. Und damit fängt der Roman erst an.

Man kann sich vorstellen, wie seltsam es sich für ihn anfühlen muss, nach all dem Erlebten und Erduldeten wieder seiner piefigen Heimatstadt zu sein. Der Vater tot, die Mutter alt und hilfsbedürftig, das einst schmucke Haus verwahrlost. »Und dieses Wohnzimmer und diese Veranda, die er sich in den vergangenen Jahren nie deutlich hatte vorstellen können, wurden wie in seiner frühesten Kindheit wieder zum Urbild all dessen, was er kannte und verstand.«

Lange hält er es nicht aus und als sich die Gelegenheit bietet, zieht er in die abgelegene Hütte seines Jugendfreunds Pauli Ryslavy, der im Ort ein Gasthaus betreibt. Die Hütte liegt mehrere Stunden Fußmarsch und eine zu überquerende Paßhöhe entfernt; sie steht auf Ryslavys Grundbesitz, umgeben von Wiesen, Fischteichen und Wald. Hier möchte Oskar seinen Frieden finden, weit weg von den Angelegenheiten seiner Mitmenschen. Aber natürlich kommt alles ganz anders.

Die Geschichte nimmt ihren Lauf und in einer Zeit des Umbruchs ist es nicht möglich, sich aus allem herauszuhalten. Auch nicht, wenn man in einer abgelegenen Hütte lebt, denn auch dort gibt es Nachbarn: Seien es grobschlächtige Holzbauern, die überzeugte Nazis sind oder eine sektenmäßige Aussteiger-Kolonie, die  von allen mißtrauisch beäugt wird. Und nicht zu vergessen die Bewohnerin des Forsthauses, Else, die eine wichtige Rolle in Voxlauers Leben spielen wird – ebenso wie ihr Cousin, überzeugter Faschist und tief verwurzelt in der österreichischen Nazi-Bewegung.

»Die Luft war in einer Art feucht, wie man es nur im Spätherbst oder gegen Frühlingsanfang findet, die ganze Welt war von einem intensiv schillernden Glanz durchdrungen. Aber man spürte immer noch einen Strom kalter Luft über dem Boden und der Wasserfläche.« Es ist die Ruhe vor dem Sturm.

John Wray versammelt die unterschiedlichsten Figuren und Konstellationen in seinem Roman; nach und nach entsteht ein Szenario, in dem sich so viel Spannung ansammelt, dass die Entladung einfach kommen muss. Es ist eine äußerst gelungene Mischung aus provinzieller Tristesse, grandios beobachteten Naturschilderungen, mitreißenden Dialogen, vielschichtigen Handlungssträngen und spannenden Charakteren – das alles vor dem Hintergrund der politischen Umwälzungen. Denn es ist das Jahr 1938 und der »Anschluss« Österreichs an das Deutsche Reich rückt näher und näher. Immer mehr Raum nimmt dies im Roman ein, in dem kleinen Ort und den Tälern ringsumher tummeln sich rechte Fanatiker und Opportunisten. Und die Außenseiter werden schnell zu Opfern. Die aufgeheizte Stimmung in Österreich am Vorabend des deutschen Einmarsches ist fast greifbar in diesem Buch.

Und mittendrin Oskar Voxlauer in seiner Hütte, der zwischen allen Stühlen zu sitzen droht. Als sich die Ereignisse überschlagen und an den Häusern die Hakenkreuzfahnen wehen, holt ihn in seiner Abgeschiedenheit das Leben wieder ein. Für Voxlauer wird alles viel komplizierter, als er es sich hätte vorstellen können. Denn er merkt, dass um in herum längst ein Beziehungsnetz entstanden ist, das er zerschneiden muss, um weiterleben zu können; wenigstens noch eine Zeit lang. Und dabei werden Verluste nicht ausbleiben.

»Er legte den Kopf weit zurück gegen den Stamm des Baums, bis er seinen eigenen Atem sehen konnte. Wo das Wetterleuchten gewesen war, hatte sich eine blaue Wolke gebildet, die sich langsam über den ganzen Himmel ausbreitete. Die Elektrizität in der Luft war deutlich zu spüren. Sie saßen lange dort oben auf dem Kamm, eingehüllt in den Mantel, und trieben in den Schlaf hinüber. Sie wussten, dass der Krieg näher kam, aber es war ihnen gleichgültig.«

John Wrays Roman ist für mich eine echte Entdeckung. Eine Entdeckung, die ich ohne das Photo jenes Unbekannten nicht gemacht hätte. Während ich diesen Text schreibe, liegt das Bild neben mir und jener Schwarzgekleidete schaut mir dabei zu.

Wer er wohl sein mag? Eine Weile hieß er für mich Oskar Voxlauer, aber ich möchte immer noch gerne wissen, wer er wohl wirklich gewesen sein mag. Daher schließe ich diesen Beitrag mit einer Frage: Wer kennt den Mann auf diesem Photo? Es ist zwar mehr als unwahrscheinlich, darauf eine Antwort zu erhalten, aber man weiß ja nie bei diesem Internet.

Der Unbekannte

Buchinformation
John Wray, Die rechte Hand des Schlafes
Aus dem Englischen von Peter Knecht
Rowohlt Taschenbuch
ISBN 978-3-499-27319-3

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12 Antworten auf „Ein Mann in Schwarz“

  1. Ich komme aus Villach, der Ort Niessen ist mir nicht bekannt, wurde vermutlich umbenannt.
    Bild: Ich kaufte ein altes Bild auf dem Flohmarkt (fast 30 Jahre später stellte sich heraus, dass es v. 1 Maler war, der Hitler porträtierte) und fand eine Todesanzeige im Rahmen. Manchmal denke ich nach, warum und wer kommt auf die Idee eine Todesanzeige in einen Bilderrahmen zu geben. Manches wird immer ein Geheimnis bleiben.

  2. Hallo,
    Du hast mich damit an einen Roman erinnert, den ich mir vor Jahren gekauft und leider nie gelesen habe. Hoffentlich finde ich nun endlich Zeit, das Buch zu lesen.
    Das wäre ja wirklich spannend, wenn Du nun mehr über das Photo erfahren würdest. Aber auch so ist es eine schöne Geschichte darüber, wie manchmal ein Buch seiner Leser findet.
    Wir werden sicher erfahren, wenn Du neue Informationen zu dem Photo bekommst.
    Liebe Grüße
    Ruth

  3. Wow, was für eine Verbindung. Das Photo hätte ich auch mit genommen. Interessant wäre wirklich zu wissen, wer dieser junge Mann war. Steht keine Angabe auf der Rückseite wo es entwickelt wurde? Ich habe zuhause nach dem Tod meines Vaters letztes Jahr eine ganze Zigarrenkiste mit solchen Fotos … ich drücke die Daumen, wer weiß. Das Buch kommt mal wieder auf die unendlich lange Liste … Herzliche Grüße, Bri

  4. Guten Morgen,
    was soll ich sagen außer Danke für diese großartige Rezension, die geschürrte Neugierde auf einen mir noch unbekannten Autor und das Verlangen dieses Buch zu lesen. Was für einen tolle Geschichte um diese Geschichte herum.
    Herzliche Grüße
    Kerstin

  5. Hallo,

    das liest sich fast selbst wie ein Romanbeginn: das alte Portraitphoto als letztes Vermächtnis eines Toten, der unbekannte Mensch, den es zeigt… Oskar Voxlauer also, warum nicht.

    Interessant, der Roman beginnt also an einem Punkt, der eher nach dem Ende klingt! Die Rezension macht sehr neugierig auf das Buch.

    LG,
    Mikka

    1. Es ist immer schwierig, nicht zu viel zu verraten, doch all das, was dem tragischen Helden geschehen ist, erfährt man ziemlich am Anfang des Buches. Und genau dieser Lebenslauf macht die Geschichte aus.
      Das Photo hat einfach perfekt dazu gepasst …
      Liebe Grüße
      Uwe

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