»Als Gregor Samsa eines Morgens aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt.« Diese Worte sind einer der berühmtesten ersten Sätze der Literaturgeschichte. Sie haben sich schon längst verselbständigt und ähnlich wie »Call me Ishmael« oder »Aber Jakob ist immer quer über die Gleise gegangen« muss man nichts weiter dazu sagen; jeder weiß, welcher Text auf diese Weise beginnt. Und das ist nicht weiter verwunderlich, denn dieser eine Satz, mit dem uns Gregor Samsa vorgestellt wird, ist perfekt. Ich kann mich noch daran erinnern, als ich ihn vor etlichen Jahren das erste Mal gelesen habe: Ich war irritiert, fasziniert und wurde voller Neugier sofort in diesen ungewöhnlichen Text hineingezogen. Und habe ihn – wie so viele andere Leser – nie wieder vergessen. Deshalb möchte ich mich in diesem Blogbeitrag mit drei unterschiedlichen Ausgaben der Erzählung »Die Verwandlung« von Franz Kafka beschäftigen. Mit drei ganz besonderen Ausgaben.
Was für eine furchtbare Situation: Aufwachen und alles ist anders. Das bisherige Leben existiert nicht mehr, ist von einem Moment auf den anderen zerfallen, weggewischt, verschwunden. Nach dem ersten Erschrecken versucht Gregor Samsa sich in seiner neuen Gestalt zurechtzufinden, auch wenn er sich die Situation nicht erklären kann. Er wimmelt die anderen Familienmitglieder ab, als sie zunehmend besorgt an die Türe klopfen. Längst hätte er zu einer Dienstreise aufbrechen müssen und auch als sein Vorgesetzter aufgebracht die Wohnung betritt, um nach ihm zu sehen, hegt Gregor immer noch die Hoffnung, dass alles wieder gut wird, dass alles nur ein böser Traum ist. Doch als ihn die anderen – seine Mutter, seine Schwester, sein Vater und sein Chef, der Prokurist – schließlich erblicken, sind sie entsetzt. Und Gregor wird zu einem Ausgestoßenen, ausgegrenzt, allein in seinem Zimmer eingesperrt. Das Drama nimmt seinen Lauf – bis zum bitteren Ende.
Auch wenn man nur rudimentär über Franz Kafkas Leben Bescheid weiß, lässt sich vieles in diese düstere, verzweifelte Erzählung hineininterpretieren: Sein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater, eine Familie, die seinem literarischen Schaffen – das alles für ihn bedeutete – gleichgültig gegenüberstand, das Gefühl, nirgends dazuzugehören, die nächtlichen Fluchten in die Welt der Sprache oder seine Schwierigkeiten, sich anderen gegenüber zu öffnen. Darüber hinaus ist die Literaturwissenschaft nicht arm an zahlreichen weiteren Interpretationen; sie reichen von der soziologischen Deutung über das Motiv der Kapitalismuskritik bis hin zu religiösen Erklärungsversuchen. Doch wie immer bei Kafka entzieht sich auch »Die Verwandlung« einer eindeutigen Festlegung. Und wozu sollte es eine solche geben? Der Text steht für sich, und ein sprachliches Juwel wie dieses benötigt keine allgemeingültige Sinndeutung. Die mag jeder Leser, jede Leserin für sich selbst herausfinden – das macht Kafkas Texte so zeitlos.
Franz Kafka: Die Verwandlung. Mit Illustrationen von Rosy Lilienfeld
Dieses Buch aus dem Programm der Büchergilde Gutenberg ist ein bibliophiler Schatz – und ein Stück vergessene Kunstgeschichte. Die Kohlezeichnungen, die in dieser Ausgabe den Text der »Verwandlung« so großartig-düster unterstreichen, stammen von der Malerin, Bildhauerin und Graphikerin Rosy Lilienfeld. Entstanden sind sie im Jahr 1931 und sind somit die frühesten Zeichnungen, die es zu Kafkas Erzählung gibt. Die Frankfurter Künstlerin begann Ende der 1920er-Jahre damit, literarische Werke zu illustrieren, etwa »Hiob« von Joseph Roth oder Dostojewskis »Schuld und Sühne«. Zu Kafkas »Verwandlung« passen ihre expressionistischen Kohlezeichnungen perfekt; die Absurdität der Situation, die Trostlosigkeit, die Gregor umfängt, das Albtraumhafte der Erzählung – all dies ist so eindrucksvoll dargestellt, als hätten Franz Kafka und Rosy Lilienfeld das Werk gemeinsam verfasst.
Bis vor kurzem war so gut wie nichts über die 1896 in Frankfurt am Main geborene Künstlerin bekannt. Ihr Name sagte kaum jemanden etwas, nur wenige Blätter mit Zeichnungen waren katalogisiert, sie war nahezu vergessen. Die barbarische Zerstörungswut der Nationalsozialisten hatte ganze Arbeit geleistet: Große Teile ihres Werkes wurden vernichtet, verbrannt oder sind bis heute verschollen. Auch viele Teile ihrer Biographie liegen im Dunkel; 1939 emigrierte sie in die Niederlande, die deutschen Besatzer verhafteten sie drei Jahre später in Utrecht. Im September 1942 wurde sie in Auschwitz ermordet.
In den letzten fünfzehn Jahren ist es gelungen, das noch vorhandene Werk dieser großartigen Künstlerin dem Vergessen zu entreißen. Im Jüdischen Museum Frankfurt wurden inzwischen etwa 200 Arbeiten zusammengetragen, weitere Zeichnungen befinden sich im Frankfurter Städel Museum und im Jüdischen Museum Berlin. Von ihren Skulpturen fehlt bisher jede Spur, die Existenz eines Gemäldes gilt inzwischen als gesichert.
Die wunderschöne, leinengebundene Büchergilde-Ausgabe von »Die Verwandlung« trägt dazu bei, Rosy Lilienfeld und ihr Werk uns Nachgeborenen vorzustellen und zugänglich zu machen; im Nachwort finden sich neben der Schilderung ihres Schaffens und viel zu kurzen Lebens weitere Beispiele ihrer künstlerischen Vielseitigkeit. Ein Buchprojekt gegen das Vergessen.
Corbeyran & Horne: Die Verwandlung – von Franz Kafka. Graphic Novel
Die Kunstform der Graphic Novels habe ich erst spät für mich entdeckt, aber inzwischen ist eine kleine Sammlung zusammengekommen. Corbeyran & Hornes graphische Interpretation von »Die Verwandlung« ist eine gelungene Annäherung an Kafkas Erzählung und arbeitet einzelne Aspekte besonders heraus. Zu Beginn etwa steht das Arbeitsverhältnis Gregor Samsas stark im Vordergrund; in seinem Beruf als Handlungsreisender ist er permanent gehetzt, steht unter der strengen Fuchtel seines Vorgesetzten, mit seiner Tätigkeit muss er die Schulden seines Vaters abbezahlen – das alles erfahren wir, während wir Gregor als große Schabe bei seinen Gedankengängen beobachten, auf dem Rücken liegend, unfähig, seinen Verpflichtungen nachzukommen, nicht mehr in der Lage, mit seiner Familie und dem herbeieilenden Vorgesetzten zu kommunizieren. Am Ende der Geschichte, als alles vorbei, als er komplett aus der Welt und dem Leben seiner Familie verschwunden ist, steht Gregors Schwester Grete im Fokus – die sich während der gesamten Tragödie neu in der Familienkonstellation positioniert, dabei geradezu aufblüht und in manchen Interpretationen als heimliche Hauptfigur der Handlung gilt. Umgesetzt ist das in der Graphic Novel durch die farbliche Gestaltung: Die gesamte Geschichte ist in dunklen, düsteren Tönen gehalten, die eine geradezu klaustrophobische Stimmung hervorrufen. Verstärkt wird dies durch Bilder, in denen eine Perspektive von oben gewählt wurde und in denen die Wände der Räume übertrieben hoch und dadurch umso einengender erscheinen. Das rote Kleid der Schwester auf der letzten Seite ist der erste Farbton nach all der Düsternis und wirkt dadurch umso strahlender. Und Gregors Schicksal ist vergessen.
Franz Kafka: Die Verwandlung. The Collection Livraria Lello
Vermutlich ist die Livraria Lello in Porto die einzige Buchhandlung auf der Welt, für die man Eintritt bezahlen muss. Seit 1906 existiert sie in der jetzigen Form und ist ein Jugendstiltraum – kein Wunder, dass sie in keiner Auflistung der schönsten Buchhandlungen fehlt und dabei immer einen der Top-Plätze belegt. Und das zu Recht, denn das aufwendig gestaltete Interieur mit unzähligen Verzierungen und die in der Mitte des Raumes gelegene, atemberaubend geschwungene Treppe mit den rotlackierten Stufen machen die Buchhandlung zu einem geradezu ikonischen Ort. Das Gerücht, dass sich J.K. Rowling, die in den Neunzigern eine Weile in Porto lebte, unter anderem durch das wunderbar altmodisch-verspielte Ambiente zum Harry-Potter-Setting inspirieren ließ, ist zwar widerlegt, aber es tut der Prominenz des Buchladens keinen Abbruch. In Zeiten des Overtourism entwickelte sich Livraria Lello zu einem Touristenmagnet und Instagram-Hotspot, was dazu führte, dass unzählige Menschen Tag für Tag die Buchhandlung betraten um zu photographieren, alles blockierten, aber nichts kauften. Daher muss man seit einigen Jahren Eintritt bezahlen, aktuell sind es stolze acht Euro, die bei einem Kauf verrechnet werden. Und trotzdem sind die Schlangen endlos, die halbstündigen Slots manchmal auf Tage hinaus ausgebucht. Faszinierend ist dabei die Mischung des Publikums: Menschen, die mit Buchhandlungen und Büchern nichts am Hut haben, die einfach nur stumpf ihre Instagram-Bucketlist abarbeiten, treffen auf Menschen, die sich an den Details nicht sattsehen können, die dort sind, weil es eine Buchhandlung ist. Eine traumhaft schöne, deren Eleganz auch die Menschenmassen nichts anhaben können.
Als ich dieses Jahr in Porto war, musste ich mir dieses Schmuckstück natürlich anschauen. Und war begeistert, allem Trubel zum Trotz (und wünschte mir, diese Buchhandlung schon vor zwanzig Jahren besucht zu haben). Die acht Euro Eintritt habe ich dann in einer wunderschönen, leinengebundenen Ausgabe von Kafkas »Die Verwandlung« investiert. Denn die Livraria Lello gibt eine eigene Klassikerreihe heraus, meistens sind es Werke auf Portugiesisch, Spanisch, Englisch und Französisch. Und ein paar wenige auf Deutsch – darunter auch Kafkas Meisterwerk, das er 1912 geschrieben hat; nur ein paar Jahre nach der Eröffnung der Buchhandlung. Und beide sind sie immer noch da.
Das mondän-verspielte, aber gleichzeitig düster-wuchtige Interieur der Buchhandlung passt gut zu Kafka, finde ich. Doch seht selbst; als Bonustrack gibt es ein paar Bilder aus der Livraria Lello in Porto.
#KaffeehaussitzersKafkaJahr
Bücherinformationen
Franz Kafka, Die Verwandlung
Mit Illustrationen von Rosy Lilienfeld
Büchergilde Gutenberg
ISBN 978-3-7632-7471-0
Exklusiv für Mitglieder der Büchergilde Gutenberg
Corbeyran & Horne, Die Verwandlung
Graphic Novel nach der Erzählung von Franz Kafka
Knesebeck Verlag
ISBN 978-3-86873-266-5
Franz Kafka, Die Verwandlung
The Collection Livraria Lello
ISBN 978-989-9095-33-5
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