Sieben Kilogramm Ästhetik

Deutschland um 1900 - Ein Portraet in Farbe

Ein Markenzeichen des Taschen Verlags sind die hochwertigen, voluminösen Prachtbände zu völlig unterschiedlichen Themen. Mit dem Band »Deutschland um 1900 – Ein Porträt in Farbe« ist ein weiteres Exemplar erschienen, eine fast sieben Kilogramm schwere Photo-Zeitreise in eine längst vergangene Welt. Das Besondere daran verrät der Titel: Wir sehen diese Welt in Farbe. Und können so noch besser als sonst ermessen, welche Stadtbilder wir im Laufe eines Jahrhunderts verloren haben; es ist eine verschwundene Ästhetik, ein Buch wie ein Spiegel, der unserer – von der Tristesse moderner Stadtplanung geprägten Zeit – entgegengehalten wird.

Farbphotographien. Oder besser gesagt, farbige Photos, denn zwar gab es zu dieser Zeit bereits erste Versuche in Richtung Farbphotographie, doch einen breiteren Einsatz fand sie erst ab den 1930er-Jahren. Natürlich existierte aber auch vor 120 Jahren schon das Bedürfnis, die Abbilder der eigenen Welt in Farbe betrachten zu können. Es war die Zeit des Photochrom-Druckverfahrens, mit dessen Hilfe Photographien nachträglich koloriert werden konnten. Bis heute gilt es als eines der hochwertigsten, aber auch aufwändigsten Druckverfahren zur Herstellung farbiger Reproduktionen. Durch den nachträglichen Farbauftrag bekommen die oftmals gestochen scharfen Bilder etwas Unwirkliches, schon beinahe Märchenhaftes, so als wäre ein Gemälde abphotographiert worden. Und trotzdem erhält der Betrachter dadurch eine eindrucksvolle Vorstellung, wie die Straßen, Plätze und Landschaften aussahen, durch die unsere Groß- und Urgroßeltern gelaufen oder gefahren sind.

Der Zweite Weltkrieg und die Jahrzehnte danach haben unsere Stadtbilder von ihrer jahrhundertealten Geschichte abgeschnitten. Als Antwort auf den von Deutschland entfesselten Krieg kamen Tod und Zerstörung über die Verursacher. Doch vieles von dem, was die Bomberflotten übrig gelassen hatten, hätte gerettet und wiederaufgebaut werden können. Stattdessen haben im Osten die sozialistische Plattenbau-Ideologie und im Westen die Stadtplaner mit ihrem Beton-Fetischismus den verheerten Innenstädten den Rest gegeben. Natürlich befinden sich Städte immer in einem Umbruch, auch vor hundert Jahren war man nicht zimperlich, wenn es etwa darum ging, mittelalterliche Stadtbefestigungen niederzulegen oder alte Häuser durch Neubauten zu ersetzen. Doch trotzdem wirkten die Stadtlandschaften harmonisch, wie aus einem Guß, vielleicht weil auch bei Neubauten die gleichen Materialien verwendet wurden, wie schon seit eh und jeh, Backsteine, Holz, Gips und Ziegel. Nur zur Stabilisierung wurde begonnen, mit Stahlträgern zu arbeiten. Und vielleicht wirken deswegen auch heute noch die erhaltenen Altbauviertel oder die noch existierenden echten Altstadtgassen auf den Betrachter so angenehm in ihren Proportionen, so einladend und menschengerecht; es gibt sogar eine Studie der TU Chemnitz, die dieses Empfinden wissenschaftlich belegt. Ein Empfinden, das ganz im Gegensatz steht zu den städtebaulichen Brachen der Moderne, menschenfeindlich und abweisend in ihrer Trostlosigkeit. Wer einmal den Kölner Barbarossaplatz gesehen hat, der sogar aus all den zahlreichen Bausünden dieser Stadt noch hervorsticht, weiß, was ich meine.

Aber zurück zu den Farbbildern. Mir ist das Herz aufgegangen, als ich dieses Buch das erste Mal durchgeblättert habe. Es ist eine Reise von den Prachtbauten der Metropolen über die Städte und Städtchen der Provinz bis hin zu den vielfältigsten Landschaftsaufnahmen quer durch das ganze Land. Vom Mastengewirr im Hamburger Hafen bis zum Marienplatz in München, vom Berliner Großstadtverkehr bis ins idyllische Konstanz am Bodensee. Ein Aufbruch ist vielerorts zu spüren, die ersten Automobile zwischen Pferdekutschen, Bahnhöfe und repräsentative Zweckbauten neben Bauernhäusern und Dorfplätzen, die wirken, als sei die Zeit stehengeblieben. Es ist eine Ära des Umbruchs, die Menschen auf den Photos wissen dabei noch nicht, was für ein mörderisches Jahrhundert noch auf sie zukommen wird. Überhaupt Menschen: Viele Bilder wirken seltsam leer. Das mag zum einen daran liegen, dass aufgrund notwendiger langer Belichtungszeiten Menschen in Bewegung oftmals auf Photos der damaligen Zeit nicht sichtbar sind. Es sind aber auch die Automassen, die fehlen; der Horror einer autogerechten Stadt lag damals noch in weiter Ferne.

Wird das jetzt ein Loblied auf eine vermeintlich gute alte Zeit? Natürlich nicht. Die Missstände der damaligen Epoche sind nicht in Farbe abgelichtet. Nicht die Elendsviertel in Hamburg, in denen es 1892 noch zu einer Cholera-Epidemie kam. Nicht die Mietskasernen in Berlin mit ihren zig Hinterhöfen und ihren dunklen und feuchten Wohnungen. Nicht die Bettler, nicht die barfüßigen Arbeiterkinder. Nicht das extrem harte Leben der Bauern, nicht die verhärmten Schichtarbeiter, die mit vierzig schon ihre Gesundheit ruiniert hatten. Und auch wenn wir nach wie vor weit davon entfernt sind, in der besten aller denkbaren Welten zu leben, sind die gesellschaftlichen und sozialen Verbesserungen seit der damaligen Zeit enorm.

Nur in der Architektur gab es – so scheint mir – keinen Fortschritt. Betrachtet man die alten Photos, sieht man Stadtensemble in einer nahezu perfekten Ästhetik. Die Patina in Form von abgeplatztem Putz oder freigelegtem Backsteinmauern unterstreicht den Eindruck eher noch, ähnlich wie in den italienischen oder südfranzösischen Städten, den Sehnsuchtsorten vieler Mitteleuropäer. Und egal wo, immer wenn die Monstrositäten der siebziger oder achtziger Jahre dazu kamen, wurde der Eindruck zerstört. Deren Patina sind die Schlieren auf dem Beton oder angelaufene Fensterfassaden. Nicht viel besser sind die einfallslosen Glas-Beton-Stahl-Würfel, mit denen seit zwei Jahrzehnten die Städte zugepflastert werden.

Sicher, es gibt immer wieder gelungene, sogar grandiose moderne Architektur. Doch das sind einsame Leuchttürme in einem Meer der architektonischen Banalitäten und Einfallslosigkeiten. Deshalb ist es in meinen Augen richtig und wichtig, zu versuchen verlorene Stadtbilder zu rekonsturieren, der Neumarkt in Dresden oder das Berliner Stadtschloss sind dafür gute Beispiele. Es ist viel mehr als eine Kulisse, die dort entsteht. Um das mit Herrmann Hesse zu sagen: »Soll man rekonstruieren? Ich muss die Frage rückhaltlos bejahen. Vielleicht ist die Zahl der Menschen in Deutschland wie außerhalb heute noch nicht so sehr groß, welche vorauszusehen vermögen, als welch vitaler Verlust, als welch trauriger Krankheitsherd sich die Zerstörung der historischen Stätten erweisen wird. Es ist damit nicht nur eine Menge hoher Werte an Tradition, an Schönheit, an Objekten der Liebe und Pietät zerstört: Es ist auch die Seelenwelt dieser Nachkommen einer Substanz beraubt, ohne welche der Mensch zwar zur Not leben, aber nur ein hundertfach beschnittenes, verkümmertes Leben führen kann.«

Oder um abschließend aus den Ergebnissen einer forsa-Umfrage zu zitieren, die im Auftrag der ZEIT-Stiftung durchgeführt wurde: »Historische Gebäude gehören zur Lebenszufriedenheit. Gut instandgehaltene ältere und historische Gebäude dürfen für die Mehrheit der Menschen in Deutschland – für 67 Prozent – nicht fehlen.«

Allen Bemühungen zum Trotz wird die verschwundene Welt Geschichte bleiben. Wünschenswert wäre es, wenn die Verantwortlichen für Stadtplanungsprojekte mehr Respekt vor der historischen Bausubstanz entwickeln würden, denn jedes abgerissene alte Haus reißt eine weitere Lücke, die nie wieder geschlossen werden kann. Und wie es einmal war, zeigt eindrucksvoll dieser monumentale Photoband, eine Welt voller Schönheit, unwiederbringlich verloren. Umso wichtiger sind Bücher wie dieses.

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Buchinformation
Marc Walter, Sabine Arqué, Karin Lelonek (Hrsg.),
Deutschland um 1900 – Ein Porträt in Farbe
Taschen Verlag
ISBN 978-3-8365-3752-0

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3 Antworten auf „Sieben Kilogramm Ästhetik“

  1. Warum erscheinen uns diese Bilder so fremd und dennoch so faszinierend? Nicht nur, weil vieles, was darauf zu sehen ist, zerbombt oder abgerissen wurde und die Proportionen in den Großstädten völlig verschoben wurden. Längst sind Kirchen nicht mehr die höchsten Gebäude und Rathäuser bedrängt von Kaufhäusern. Sie sind uns aber auch so fremd, weil auf den Fotos weder Autos – sonst entgeht man ihnen kaum irgendwo – noch Grafitti zu sehen sind. Ganz ungewohnt für unsere Augen.
    Ein anderer Aspekt fordert meinen Widerspruch heraus. Das Alte wieder aufzubauen, statt Neues zuzulassen, ist für mich der falsche Weg, auch wenn ich Dir Recht gebe, dass die Architektur der Nachkriegszeit nur wenige herausragende Gebäude hervorgebracht hat. Es gab schon einmal eine Zeit des architektonischen Kopierens in Deutschland, den Historismus. Nichts spiegelt mehr die Kleingeistigkeit der wilhelminischen Epoche wider wie dieses Auf-Alt-Trimmen von damals. Verlorene Stadtbilder zu rekonstruieren ist in den meisten Fällen nicht mehr, als die Wunden notdürftig zu überzutünchen. Ausnahmen wie die Frauenkirche in Dresden bestätigen dies eher. Bei ihrem Wiederaufbau ging es auch darum, eine Stadtsilhouette wieder zu vervollständigen.
    Jede Zeit hat ihre Architektur. Erst in der Rückschau lässt sich ermessen, ob sie Qualität hatte oder nicht. Immer wieder hat es Zeitalter eher schlechterer Architektur gegeben. Vielleicht haben wir mit den vergangenen 60 Jahren gerade so eine hinter uns. Unsere Nachkommen werden es wissen. Für eine der Zeit eigene Architektur spricht auch, dass diese Zeit ohne sie in der Rückschau gesichtslos bleibt, keinen Charakter hat. Man stelle sich nur mal vor, die Baumeister der Gotik hätten nur die Romanik kopiert, nichts Eigenes geschaffen.

    1. Vielen Dank für den ausführlichen Kommentar. Ich denke, dass wir gar nicht so weit auseinanderliegen, denn es geht mir beim Thema Rekonstruktion ebenfalls um markante Punkte der Stadtsilhouetten. Sie schaffen ein Gefühl für die Geschichte des Ortes, das ein gesichtsloser Neubau so nie erzeugen könnte. Allerdings finde ich nicht, dass man die Architektur des Historismus verdammen sollte, vielmehr sind es genau diese Häuser und Gebäude der Gründerzeit, die noch heute beeindrucken. Dazu Jugendstil- und Art Deco-Elemente sowie die ersten Experimente der Bauhaus-Architektur – das alles vereint mit jahrhundertealten Gebäuden: Nie sahen Städte für mein Empfinden schöner aus. Die Lieblosigkeit und Einfallslosigkeit der Nachkriegsblöcke kann man ja noch mit der Dringlichkeit entschuldigen, möglichst schnell und günstig wieder Wohnraum schaffen zu müssen. Dementsprechend ist aber auch die Bausubstanz von minderer Qualität. Den größten Teil dessen wiederum, was seit den siebziger und achtziger Jahren geschaffen wurde, halte ich für rückbauwürdig. Falls mir also jemals eine Architekturfee begegnen sollte und ich einen Wunsch frei habe…

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