Der Zeit nicht mehr gewachsen

Lucy Fricke: Toechter

Es geschieht manchmal, aber nicht oft: Man beginnt abends mit einem neuen Buch, versinkt vollkommen darin und klappt es komplett durchgelesen mitten in der Nacht wieder zu. Bei »Töchter« von Lucy Fricke war es genau so. Am Tag danach war ich zwar furchtbar müde, aber es hat sich gelohnt. Jede Seite. Jedes Wort.

Ich hatte sowieso vor, den Roman zu lesen. Bald. Dann landete ich beim abendlichen Durchforsten der Literaturblogs wieder einmal bei buchrevier, wo Blogger Tobias Nazemi Lucy Frickes Buch vorstellte – so begeisternd, dass ich »Töchter« direkt aus dem Berg der Buchvorräte hervorgezogen habe. Auf buchrevier war außerdem zu lesen: »Wenn ich einer dieser Blogger wäre, die die Bücher, die sie besprechen, gewissenhaft durcharbeiten, sich Notizen machen, bunte Post-its an Stellen mit bemerkenswerten Passagen kleben, könnte ich noch viele wunderbare Aussagen wie das oben Zitierte hier einfügen. Der Roman strotzt geradezu vor Zitierwürdigem. Da ich aber so einer nicht bin, kann ich hier nur aus dem ›Lamäng‹ einen wie immer sehr persönlich gefärbten Gesamteindruck wiedergeben und muss detaillierte Belege schuldig bleiben.«

Da ich genau einer dieser genannten Blogger bin, kam ich aus dem Markieren gar nicht mehr heraus, denn ohne Bleistift in der Hand – oder zumindest in greifbarer Nähe – ein Buch zu lesen ist für mich fast ein Ding der Unmöglichkeit. Und alle Stellen, die mich in »Töchter« innehalten ließen, hier unterzubringen, ist ebenfalls nicht zu schaffen. Aber ein paar davon muss ich unbedingt teilen. Fangen wir gleich damit an.

»Sein Leben hatte er in dieser Stadt verbracht, war mit Mitte zwanzig hergezogen und seitdem geblieben, pauschale Urlaube einmal ausgenommen. Ich versuchte mir meine Stadt vorzustellen, wenn ich sie das letzte Mal sah. War der Blick beim Abschied vielleicht genauso staunend, wie bei der allerersten Begegnung, wenn auch aus anderen Gründen? Konnte man das fassen, wenn aus den größten Hoffnungen letzte Erinnerungen wurden?«

Es sind Sätze wie diese, die den Roman für mich zu einer besonderen Lektüre machen. Und diese Stelle führt schon mitten hinein in die Geschichte. Die Ich-Erzählerin Betty holt zusammen mit ihrer besten Freundin Martha deren schwer krebskranken Vater Kurt ab, um mit ihm in die Schweiz zu reisen. Kurt hat dort einen Termin in einer Sterbeklinik.

Betty und Martha kennen sich seit zwei Jahrzehnten, beide sind um die vierzig und leben in Berlin-Kreuzberg. Und sind beide in einer Lebensphase, in der sich Sichtweisen verändern, in der Festgefügtes verschwindet, in der sie sich entscheiden müssen, ob sie sich den verdrängten Erinnerungen ihrer Kindheit stellen oder irgendwann daran zerbrechen werden. Denn beider Kindheit war auf unterschiedliche Weise voller Katastrophen, emotionaler Tiefschläge und zerstörtem Familienglück. In beider Leben haben die vollkommen verkorksten Beziehungen ihrer Eltern und das Fehlen eines Geborgenheitsgefühls dazu geführt, dass sie frühzeitig selbstbewusst ihr Leben in die eigenen Hände genommen haben. Selbstbewusst und verloren.

Lange lässt sich eine solche Verlorenheit betäuben durch gespielte Coolness, durch exzessives Feiern, durch flüchtige Affären oder ständiges Unterwegssein – doch irgendwann holt einen die Leere ein, Freundschaften bleiben auf der Strecke, Menschen aus dem Umfeld verschwinden. Betty und Martha gehen unterschiedlich damit um, »Martha wollte, nach zahlreichen gescheiterten Fluchtversuchen, nun um jeden Preis eine Familie gründen, um alles besser zu machen, um es überhaupt zu machen, glücklich werden, es durchziehen. Mir hatte die Kindheit und mehr noch die Jugend jede Sehnsucht nach Familie so gründlich aus den Knochen getrieben, dass schon die Aussicht darauf Beklemmung in mir auslöste.«

Und mit vierzig beginnt die Zeit, ab der die meisten Menschen mit dem Älterwerden konfrontiert werden. Das Ausgehen beginnt anstrengend, die kleinen Fluchten beginnen mühsam zu werden; langsam schleicht sich das Gefühl ein, »der Zeit nicht mehr gewachsen« zu sein.

»Das Gesicht in meinem Spiegel sah genauso alt aus, wie es war, knapp über vierzig. Inzwischen blieben in der Sonne die Falten weiß. Als hätte ich mir das Gesicht von innen zertrümmert. Schön war ich immer nur in der Vergangenheit. Das Alter kam über Nacht und es kam immer wieder.«

Dann erhält Martha den Anruf von ihrem Vater Kurt. Ihrem Vater, der sich nie für sie interessierte, der nie da war, wenn sie ihn gebraucht hätte. Und trotzdem sagt sie zu, ihn in jene Sterbeklinik zu seinem finalen Drink zu fahren; einen Schlussstrich unter jahrzehntelanges Hadern zu ziehen. Und Betty begleitet die beiden. Die Reise wird zu einem irrwitzigen Roadtrip in die Vergangenheit der beiden Frauen und natürlich kommt alles vollkommen anders, als sie es sich hätten vorstellen können.

Die Fahrt führt die beiden in die Schweiz, dann nach Italien und noch viel weiter. Sie entwickelt sich zu einer Reise in die eigene Vergangenheit, eine Reise zu all dem, was schiefgelaufen ist in ihrem Leben, ein Trip weit hinein in das Leben ihrer Väter. Und zu den Dämonen der Verlassenheit, die sie beide schon das ganze Leben quälen.

Manche Texststellen aus diesem Vätersuche-Roadmovie mögen ein wenig klingen wie aus einem postmodernen Poesiealbum, doch mich hat der Roman vollkommen begeistert. Die Mischung aus Verlorenheit, Traurigkeit und Zerrissenheit enthält einen Hauch Hoffnung, ohne dass dies bei allen wahnwitzigen Wendungen der Handlung aufgesetzt wirkt.

Und obwohl die beiden Protagonistinnen nahezu alle Klischees zweier ausgebrannter Großstadtbewohnerinnen erfüllen, schildert die Autorin ihre Heldinnen nicht als zerbrechliche, verzweifelte Frauen, sondern als zwei zähe Kämpferinnen, die trotzig weitermachen; und immer wieder schimmert dabei ein schräger Humor mit einer Prise sarkastischer Selbstironie hindurch.

Von all dem abgesehen ist es eine Wohltat, einen Midlifecrisis-Roadmovie-Roman einmal mit weiblicher Besetzung zu lesen. Und für diejenigen, die jetzt an »Thelma und Louise« denken – das ging der Autorin auch so:

»Was soll das eigentlich werden?«, fragte ich. »Thelma und Louise?«
»Die waren jung, sexy und unterdrückt«, sagte Martha. »Guck uns an, wir sind nicht mal unterdrückt.«
»Tschick?«, probierte ich weiter.
»Das waren Jungs. Wir sind Frauen kurz vor den Wechseljahren. Ich hoffe, das willst Du nicht vergleichen.«

Unbedingte Leseempfehlung.

Buchinformation
Lucy Fricke, Töchter
Rowohlt Verlag
ISBN 978-3-498-02007-1

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7 Antworten auf „Der Zeit nicht mehr gewachsen“

  1. Unheimlich schöne Rezension – wäre es nicht gerade mitten in der Nacht und morgen nicht Sonntag, würde ich glatt losgehen, um mir den Roman zu besorgen. Wahrscheinlich werde ich das dann am Montag nach der Uni machen. Daumen drücken, dass es hier in meinem kleinen Studentenstädtchen in der Buchhandlung ein Exemplar für mich gibt.

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