Über das Vergehen der Jahre

Elke Heidenreich: Altern

Manchmal kommt alles ganz anders, als man es sich vorstellen kann. Diese Erkenntnis ist sicherlich nicht neu, aber immer wieder wahr. Als bei mir 1989 das Ende der Schulzeit und damit der Zivildienst nahte, wollte ich auf keinen Fall meine kleine Stadt am Bodensee verlassen. Und noch weniger wollte ich eine Stelle im Pflegebereich antreten müssen. Da ich es aber nicht schaffte, etwas Passendes zu finden, wurde ich eingeteilt, zog 200 Kilometer weiter und begann am 1. August 1989 auf der Pflegestation eines Altenheims zu arbeiten. In Freiburg, am Rand des Schwarzwalds. Und beides, die Stadt und die Zivi-Stelle, haben mein weiteres Leben geprägt. Freiburg wurde für fast ein Jahrzehnt zu einem Zuhause und die Arbeit mit alten Menschen lag mir gut. So gut, dass ich mir nach dem Ende des Zivildienstes einen Job als Altenpflegehelfer suchte und weiter in der Pflege arbeitete. Bevor mich der Weg in die Buchbranche führte, aber das ist eine andere Geschichte

Über vier Jahre hatte ich mit alten Menschen zu tun, manche noch rüstig, viele gebrechlich, einige kaum ansprechbar und alle in der Endphase ihres Lebens. Mehr als einmal saß ich neben einem Bett und hörte den letzten Atemzug – das sind Momente gewesen, die man nicht mehr vergisst. Ebenso wenig vergisst man, wie sehr die Arbeit im Pflegebereich ein Knochenjob ist, mit schlecht bezahltem Schichtdienst und großer Verantwortung. Und so manches Mal kam man physisch wie mental an seine Grenzen. Doch immer wieder gab es wunderbare Momente: Wenn sich ab und zu ein paar Minuten Zeit für ein Gespräch mit einem der alten Menschen ergaben – und das war oft so, als würde man durch ein Fenster in die Geschichte zurückblicken. Und manchmal bekam man als junger Mann mit Anfang zwanzig ein vages Gefühl davon, wie es sein würde, einmal selbst alt zu sein. Eines dieser Gespräche ist mir bis heute im Kopf geblieben. Ich unterhielt mich mit einer der Bewohnerinnen, einer alten Dame mit feinen Gesichtszügen, die ich sehr gerne mochte. An diesem einen Tag sagte sie zu mir: »Wissen sie, ich konnte mir nie vorstellen, alt zu sein. Und plötzlich bin ich es und das ging so schnell. Wo sind die ganzen Jahre nur hin?«  „Über das Vergehen der Jahre“ weiterlesen

Der Zeit nicht mehr gewachsen

Lucy Fricke: Toechter

Es geschieht manchmal, aber nicht oft: Man beginnt abends mit einem neuen Buch, versinkt vollkommen darin und klappt es komplett durchgelesen mitten in der Nacht wieder zu. Bei »Töchter« von Lucy Fricke war es genau so. Am Tag danach war ich zwar furchtbar müde, aber es hat sich gelohnt. Jede Seite. Jedes Wort.

Ich hatte sowieso vor, den Roman zu lesen. Bald. Dann landete ich beim abendlichen Durchforsten der Literaturblogs wieder einmal bei buchrevier, wo Blogger Tobias Nazemi Lucy Frickes Buch vorstellte – so begeisternd, dass ich »Töchter« direkt aus dem Berg der Buchvorräte hervorgezogen habe. „Der Zeit nicht mehr gewachsen“ weiterlesen

Was den Menschen ausmacht

Thea Dorn: Die Unglückseligen

Was macht den Menschen aus? Ein zentrale Frage in der Literatur, deren Beantwortung auf vielfältigste Weise erfolgen kann, direkt oder indirekt. Zwei meiner Lieblingsbücher wählen den direkten Weg und reduzieren den Sinn des menschlichen Daseins auf die Vergänglichkeit. Denn nur die Sterblichkeit, die Endlichkeit des Lebens mit all seinen Möglichkeiten macht die Handlungen des Menschen, sein Werden und Wirken zu etwas Besonderem. Zu diesem Ergebnis kommt Simone de Beauvoir in »Alle Menschen sind sterblich«. Und Fruttero & Lucentini erzählen in ihrem Roman »Der Liebhaber ohne festen Wohnsitz« die Legende von Ahasver, dem Ewigen Juden, weiter, der ziellos über die Erde wandelt ohne Ruhe zu finden. Zwei Lieblingsbücher, zweimal Unsterblichkeit. Deshalb dürfte es nicht erstaunlich sein, dass ich sofort neugierig wurde auf Thea Dorns »Die Unglückseligen«, geht es doch darin genau um dieses Thema. Nur ganz anders. „Was den Menschen ausmacht“ weiterlesen

Wohin geht die Reise?

Rolf Lappert: Ueber den Winter

Wenn ich ein symbolisches Bild für den Begriff Familie finden müsste, würde ich an ein Planetensystem, an eine Galaxie denken. Jeder Planet steht alleine für sich, alle kreisen sie um ein Zentrum, sie ziehen sich an und sie stoßen sich ab, aber keiner kann ohne den anderen sein. Ein geschlossenes System, das man nur verlassen könnte mit einem radikalen Abbruch aller Beziehungen, einem Ausbruch ohne Wiederkehr. Hält man sich lediglich bedeckt, bleibt man trotzdem Teil des Ganzen, ob man will oder nicht. Und kann durch besondere Umstände jederzeit wieder mitten hinein in das Planetensystem gezogen werden. So geht es Lennard Salm, dem Protagonisten des Romans »Über den Winter« von Rolf Lappert. „Wohin geht die Reise?“ weiterlesen

Lyrik aus dem Hinterhalt

Lord Alfred Tennyson: Ulysses

Einen tiefergehenden Zugang zu Lyrik hatte ich nie. Und werde ihn wohl auch nie haben. Trotzdem gibt es immer wieder ein Gedicht, das mich berührt. Oder auch nur eine Gedichtzeile, die unter die Haut geht und im Kopf bleibt. Das passiert oft ganz unvermittelt, hinterrücks, völlig überraschend und in Situationen, in denen man absolut nicht damit rechnet. Zum Beispiel, wenn man sich einen James-Bond-Film ansieht. So geschehen gestern bei »Skyfall«. „Lyrik aus dem Hinterhalt“ weiterlesen