São Paulo ist das, was man gemeinhin einen Moloch nennt: Im zentralen Stadtgebiet leben über 12 Millionen Menschen, mit allen Außenbezirken sind es über 21 Millionen. Blickt man von oben – etwa von dem Restaurantbalkon im 46. Stockwerk des Wolkenkratzers Edifício Itália – über die Stadt, ist die Aussicht überwältigend. Ein Hochhaus reiht sich an das nächste, in alle Richtungen, scheinbar endlos bis zum Horizont. São Paulo ist laut, pulsierend und überfüllt, ertrinkt im täglichen Verkehrschaos, ist ein Ort, an dem soziale Gegensätze hart aufeinandertreffen. Und ist die Metropole mit dem größten kulturellen Angebot Südamerikas, voller Cafés, Restaurants, Bars, Galerien und Museen. Eine anstrengende, manchmal gefährliche, spannende, faszinierende Stadt.
Letztes Jahr wartete ich dort an einem Julimorgen an der Metrôstation Estação Sumaré. Die Station wurde von dem brasilianischen Künstler Alex Flemming gestaltet: Auf den dicken Glasscheiben, durch die man auf eine darunter hindurchführende, achtspurige Stadtautobahn schauen kann, hat er Porträtphotos von Unbekannten aufgetragen. Auf den Bildern wiederum stehen brasilianische Gedichte als Hommage an die Literatur. Ich stand fast alleine auf dem Bahnsteig, es war ein seltsamer Augenblick der Ruhe inmitten der Lärmglocke des dröhnenden Berufsverkehrs auf der Straße unter mir. In diesem Moment fuhr die Bahn ein.
Der Waggon, der direkt vor mir hielt, war fast leer, bis auf eine Person. Es war ein junger Mann, der lesend darin saß, vollkommen versunken in das Buch, das er in der Hand hielt. Die Situation war schon fast surreal: Mitten in der chaotischen Millionenmetropole ein leerer Bahnsteig, vor mir ein leerer Waggon, darin eine einzige lesende Person und durch die Scheiben des Wagens blickten die gedichtverzierten Porträts von der Glaswand. Ich schaffte es noch, schnell den Photoapparat hochzureißen, um diesen Moment einzufangen. Oder es zumindest zu versuchen. Keine Sekunde zu früh, denn rasch füllte sich der Bahnsteig, füllte sich die Bahn, die Stimmung war verflogen. Der Zug fuhr weiter. Der lesende Mann hatte von alldem nichts mitbekommen, war mit seinen Sinnen vollkommen abgetaucht in seine Lektüre.
Das ist die Macht des Lesens und der Literatur: Mit dem Aufschlagen eines Buches blende ich die Welt um mich herum aus. Suche eine gewollte Einsamkeit, um tief einzutauchen in das Gelesene. Lasse mich hineinfallen in die Handlung, um alles andere zu vergessen, nehme eine gedankliche Auszeit vom Alltag. Das war schon immer das Reizvolle am Lesen, doch in Zeiten permanenter Erreichbarkeit, umgeben von Push-Mitteilungen auf dem Smartphone und dem ständigen Drang, nach neuen Tweets, Likes oder WhatsApp-Nachrichten zu schauen, wird diese gedankliche Auszeit zunehmend zu einem Luxusgut. Denn das bewusste Ausklinken aus allem bedeutet, Zeit ganz alleine für sich zu haben. Es ist ungemein wertvolle Zeit, zumindest kommt sie uns Technik-Getriebenen immer wertvoller vor, je seltener sie wird. Dabei kann diesen Luxus einer selbst gewählten Einsamkeit jeder haben; es genügt, ein Buch aufzuschlagen. Und sei es nur für eine Viertelstunde in der Metrô einer Millionenstadt.
Das sind die Gedanken, die mir damals durch den Kopf gingen und die ich hier versuche wiederzugeben. Ich werde nie erfahren, wer dieser Leser in dem Metrôwaggon war oder welches Buch er gelesen hat. Aber diesen einen Moment werde ich nie vergessen.
Beim Schreiben des Beitrags meldete sich eine viel ältere Erinnerung wieder. Eine, an die ich schon lange nicht mehr gedacht hatte. Die aber immer da war und nun Einlass begehrt in meine Gedanken. Weil sie perfekt das Thema weiterspinnt.
Sie führt zurück in den Januar 2003. Damals wohnte ich in der Kölner Südstadt und fuhr im Winter einige Wochen mit der Tram zur Arbeit. Morgens war es noch dunkel auf dem Weg zur Haltestelle. Und jeden Tag kam ich an einer Erdgeschosswohnung vorbei, in er ein alter Mann im Schein einer Schreibtischlampe saß und mit Hilfe einer Lupe in einem Buch las. Durch die dünnen Vorhänge war er deutlich zu erkennen, in meiner Erinnerung konnte man im Hintergrund überquellende Bücherregale sehen und ein ungemachtes Bett. Vielleicht will ich das aber auch nur gesehen haben, ganz sicher bin ich mir nicht mehr. Jedenfalls saß dieser alte Mann an seinem Tisch, den mageren Oberkörper nach vorne gebeugt, die Lupe vor dem Auge. Und las. Und las. Und las. Jeden Morgen. Und jeden Abend, wenn ich auf dem Weg nach Hause und es schon wieder dunkel war. Ein Buch nach dem anderen.
Es war ein Anblick, der traurig und tröstlich zugleich war. Ein einsamer, alter Mann, vielleicht war seine Frau gestorben, vielleicht wohnten seine Kinder weit weg. Vielleicht lebten die meisten seiner Freunde nicht mehr. Vielleicht war alles auch ganz anders, aber meine Gedanken begannen damals um die Frage zu kreisen: Was bleibt, wenn man alt ist? Wer bleibt? Wie wird man leben? Leben wollen? Leben können? Das Tröstliche waren die Bücher, die zu der Einsamkeit, die ich durch die Fensterscheibe zu spüren glaubte, einen Kontrapunkt setzten.
In diesem Fall war die Einsamkeit nicht – wie oben beschrieben – ein selbst gewählter Luxus des Lesens. In diesem Fall hatten die Bücher eine ganz andere Funktion: Sie sorgten dafür, dass ihr Leser weniger allein war. Waren seine Freunde. Milderten die Trostlosigkeit des Anblicks und machten die Vorstellung erträglicher, selbst vielleicht einmal in solch einer Lebensphase zu sein.
Ein paar Monate später, im Frühling, kam ich wieder an diesem Haus vorbei. Die Gardinen waren abgehängt, die Wohnung leer geräumt. Was war aus dem alten Mann und seinen Büchern geworden?
Auch das werde ich nie erfahren.
Genausowenig, wie diese beiden vollkommen unterschiedlichen Menschen je wissen werden, wie sehr sie in meiner Erinnerung geblieben sind.
Sie und ihre Bücher.
Wunderschön beschrieben.Ich gratuliere Ihnen dazu. Mit jedem Satz nahm meine leichte Melancholie zu. Lyrische Prosa! Ich lese es noch einmal und überlasse mich dabei einer versöhnenden Melancholie, einer Mischung aus Schwemut und Hoffnung.
Odo Marquardt: DerMensch leidet unter Einsamkeit, weil er die Einsamkeits- Fähigkeit verloren hat. Freundlichst JK
Vielen Dank!
Hier in Barcelona sehe ich ab und an Menschen, die während des Gehens auf dem Bürgersteig in einem Buch lesen. Eine Szene, die mich immer wieder fasziniert. Ich versuche jedesmal einen Blick auf den Titel zu erhaschen, um zu erfahren, welches Buch die Kraft hat, seine Leser so sehr in seinen Bann zu ziehen. Bisher ist es mir jedoch noch nicht gelungen. Vielleicht sollte ich mich beim nächsten Mal, einfach querstellen und fragen.
Es handelt sich fast immer um Frauen. Nur ein einziges Mal begenete ich einem gehenden, lesenden Mann.
Manchmal mache ich das auch, meistens wenn ich aus der Straßenbahn aussteige und unbedingt die Seite oder das Kapitel zu Ende lesen möchte…
Der alte Mann hat so intensiv gelesen, dass er irgendwann in einem dieser Bücher verschwand und irgendwann selbst gelesen wird.
Finde ich einen tröstlichen Gedanken.
Danke für diesen Artikel.
Sehr schön <3
Für mich ist es eine Einsamkeit, in der ich mich wohl und zu Hause fühle –
immer schon.
<3
Dieser Text berührt mich sehr und ich kann dir nur zustimmen. Die Momente vertieften zweckfreien Lesens sind rar und daher wertvoll.
Das war wirklich ein besonderer und schöner Moment, den du fotografisch und mit Worten festgehalten hast. Als hätte die Zeit für einen Moment stillgestanden. Ja, Lesen kann selbst gewählte „Einsamkeit“ sein, in die man freiwillig abtaucht, und gleichzeitig auch ein Rettungsanker, der tatsächliche Einsamkeit ein wenig vergessen lässt wie vielleicht im dem Fall des alten Mannes.
Ich muss an die Pariser Metro denken, in der früher sehr viele Menschen Bücher lasen, während man das heute so gut wie gar nicht mehr sieht. Stattdessen haben alle ihr Smartphone im Blick und Stöpsel im Ohr. Abtauchen und nichts von der direkten Umwelt mitbekommen kann man so auch, nur ganz anders. Während Lesen doch auch in gewisser Weise „ruhig“ und konzentriert macht, wirkt das ständige Wischen und Hinundherspringen, das Nachschauen und Liken etc. doch eher getrieben und nervös.
Ich empfinde das Lesen (noch) nicht als Luxus. Es gibt unzählige Bücher, die es zu lesen gibt, ich werde geradezu überflutet von Titeln, und ich entscheide letztlich, wann und was ich lese. Es liegt vielmehr eine große Freiheit darin. Gut, die Arbeit nimmt viel Zeit in Anspruch, aber ich habe Freizeit, die Abende, die Wochenenden, Urlaubszeiten, an denen ich lesen kann. Dann gibt es kein Fernsehen, das Handy liegt weit weg. Lesen ist für mich existenziell, Lebensgefühl, nicht mehr nur ein Hobby.
Ich sehe die Personen, die Du in Deinem Beiträgen erwähnst, als Hoffnung an. Noch wird gelesen, gibt es Menschen, alte wie junge, die in Bücher versinken, doch diese Vielleser sind es, die immer rarer werden, so mein Eindruck. Viele Grüße
Als leidenschaftlicher „urbaner Geograph“ hier ein Link zur visuellen Veranschaulichung der Größe Sao Paolos: http://mapfrappe.com/?show=51953 ;-)