Every move you make

Anthony McCarten: Going Zero

Es war ein seltsamer Zufall: Beim Einkaufen dachte ich darüber nach, mit welchen Sätzen ich die Buchvorstellung des Romans »Going Zero« von Anthony McCarten beginnen könnte. Und während ich den Einkaufswagen durch die Gänge des Supermarkts schob, lief im Hintergrund der alte Police-Song »Every Breath You Take«. Ausgerechnet. »Every breath you take | And every move you make | Every bond you break | Every step you take | I’ll be watching you«: Auch wenn es darin eigentlich um das Psychogramm eines Stalkers geht, beschreiben diese fünf Songzeilen den perfekten Überwachungsstaat. Und genau davon erzählt »Going Zero«. Von der totalen Überwachung. Das ist natürlich kein neuer Romanstoff, da die Brisanz dieses Themas spätestens seit Edward Snowden allen Menschen klar sein dürfte. Doch Anthony McCarten wählt einen eher spielerischen Ansatz, um sich damit zu beschäftigen, zumindest zu Beginn der Handlung. Bevor einiges aus dem Ruder läuft. Na ja, eigentlich alles.

Die Idee: WorldShare, ein fiktiver Social-Media-Gigant und die CIA entwickeln ein gemeinsames Projekt. Cy Baxter und Erika Coogan, die milliardenschweren Eigentümer von WorldShare, haben einen Pakt geschlossen. Es geht darum, die allumfassende Auswertung der Daten unzähliger WorldShare-Nutzer mit den riesigen Datenmengen der CIA zu kombinieren, um damit einen gigantischen Überwachungsapparat auf die Beine zu stellen. Der zwar im Dienst der Regierung und mit deren Finanzierung agiert, aber privat betrieben wird – ein Trick, um der CIA Ermittlungen im Inland zu ermöglichen, die dem US-Geheimdienst eigentlich nicht gestattet sind. »Fusion« ist der Name des Projekts, das WorldShare viel, sehr, sehr viel Geld in die Kasse spülen und die Plattform auf ein neues Level heben soll: zu einem allwissenden Netzwerk, das es so noch niemals gegeben hat. Als letzte Hürde vor dem Start steht der Beta-Test an, um die Funktionsfähigkeit von Fusion zu demonstrieren. Damit beginnt das Buch. 

Genauer gesagt beginnt es mit Kaitlyn Day, einer Bibliothekarin, die auf den ersten Blick ein wenig weltfremd wirkt, mit angeknackster Psyche und sehr verwurzelt im Analogen. Sie gehört zu zehn ausgewählten Testpersonen, die bei jenem Beta-Test versuchen sollen, sich vor den Ausspähmöglichkeiten von Fusion so lange wie möglich zu verbergen. Denjenigen, denen es dreißig Tage lang gelingt, winkt ein Preisgeld von drei Millionen Dollar. Und als dann per SMS das Startsignal »Go Zero!« erfolgt, haben die Testpersonen genau zwei Stunden Zeit, um unterzutauchen, um die Brücken in der analogen wie in der digitalen Welt hinter sich abzubrechen. Nach Ablauf der zwei Stunden beginnt die Jagd, das komplette Programm der Überwachungsmaschinerie läuft an und der Fusion-Zentrale mit zahllosen Mitarbeitern – Analysten, IT-Cracks und Hackern – steht so ziemlich jede Möglichkeit zur Verfügung, um die Bürger der USA zu beobachten, zu bespitzeln, ihre persönlichsten Daten abzugreifen und ihre Leben zu infiltrieren.

»Every breath you take | And every move you make | Every bond you break | Every step you take | I’ll be watching you« – Stings Stimme habe ich jetzt die ganze Zeit im Kopf. 

Gibt es für Kaitlyn und die neun anderen Zeros – wie die Testpersonen genannt werden – überhaupt eine Chance? Kameras an den Straßenecken, in Geldautomaten, in Geschäften. Rückfahrkameras in Autos, Verkehrsüberwachungskameras, Wärmebildkameras, Drohnen mit Kameras, die GoPro-Kameras auf den Helmen der Fahrradkuriere, natürlich die Kameras in Smartphones, die dazu auch zum Abhörgerät umgewidmet werden können, und, und, und – der Überwachungszugriff ist allumfassend und beschränkt sich nicht nur auf die öffentlichen Geräte. Was gehackt werden kann, wird gehackt. Ausgewertet werden Gesichter, Körperhaltung, Gang, Kleidung oder Stimmen. Dazu erfahren wir über unzählige andere Möglichkeiten des Abgleichens von Datenbanken, gar nicht erst zu reden von vielen digitalen Spuren, die jeder von uns tagtäglich im Netz hinterlässt. Und so etwas wie die Bewegungsprofile unserer Mobiltelefone muss ich wohl erst gar nicht erwähnen. Kurz Kaitlyn, die Zeros, wir alle sind gläsern – denn Anthony McCarten beschreibt keine Zukunftsvision, sein Roman spielt im Hier und Jetzt.

»Diese Debatte über Privatsphäre, ein kurioses Relikt aus dem 20. Jahrhundert, ist nur noch Hintergrundrauschen, pure Naivität: Ein Recht auf Privatsphäre gibt es nicht mehr, die ist längst verloren oder jedenfalls so löchrig geworden, dass sie im Grunde keinerlei Wert mehr hat.« 

Überraschenderweise ist Kaitlyn keine leichte Beute, sie hat ein paar unerwartete Tricks auf Lager. Und während einer der Zeros nach dem anderen von den Zugriffsteams aufgespürt wird, entkommt sie ihren Häschern immer wieder aufs Neue, auch wenn es ein paar Mal verdammt knapp ist. Cy Baxter, die CIA-Leute und auch wir Leser beginnen uns zu fragen, wer diese Kaitlyn Day eigentlich ist. Zumal der Autor damit beginnt, den ein oder anderen rätselhaften Hinweis einzustreuen. Dann beginnt der zweite Teil des Buches. Und auf einmal ergibt vieles einen Sinn. 

An dieser Stelle muss ich stoppen. Bisher habe ich mich mehr oder weniger am Klappentext des Buches entlanggehangelt, aber das Buch lebt von einigen überraschenden Wendungen, die hier natürlich nicht verraten werden sollen. Jedenfalls werden sie der ohnehin schon temporeichen Handlung noch einen zusätzlichen Drive verleihen. Denn für einige der Beteiligten geht es um viel mehr, als es zu Beginn den Anschein hat. 

Von Beginn an gibt Autor Anthony McCarten Vollgas, stakkatohafte Sätze unterstreichen die hohe Geschwindigkeit der Erzählung, die einzelnen Kapitel tragen stets die noch verbleibende Zeit als Überschriften: »27 Tage 5 Stunden«, »12 Tage 21 Stunden«, »7 Tage 9 Stunden« … »Going Zero« bietet eine atemlose Lektüre, der man gerne auch ein paar Schwächen verzeiht; Cy Baxter etwa wirkt wie die bloße Karikatur eines Silicon-Valley-Milliardärs. Aber das macht ganz und gar nichts, da das Buch permanent zum Mitdenken anregt. Denn erst einmal wirkt alles wie ein reizvolles Versteckspiel und natürlich machen sich beim Lesen auch die eigenen Gedanken selbständig: Wohin würde ich gehen, welche Maßnahmen könnte ich ergreifen, um zu verschwinden, unterzutauchen, um mich unerkannt zu bewegen? Doch je länger die Suche dauert, desto mehr beginnt die Situation zu eskalieren, desto mehr wird es für Cy Baxter etwas Persönliches. Etwas sehr Persönliches.

Verpackt als spannende Story demonstriert der Autor die Möglichkeiten eines vollkommen außer Kontrolle geratenen Überwachungsapparates, der durch seine eigene Paranoia zum monströsen Big Brother mutiert. Dabei geht es immer nur um die Sicherheit, um das Abwägen zwischen Freiheitsrechten und Schutz der Gesellschaft – so zumindest das Denken der alles ausspähenden Akteure. Und selbstverständlich soll es niemals solche Ausmaße annehmen wie in China, der totalitären Überwachungsdiktatur schlechthin. Glauben jedenfalls Baxter und seine CIA-Freunde, doch dies ist – wie in der realen Welt – die Lebenslüge der westlichen Geheimdienste, die natürlich genau das machen, wofür sie geschaffen wurden: Informationen sammeln und auswerten, mit allen Mitteln, die möglich sind. Und damit im Namen der Freiheit genau diese Freiheit zerstören. Außerdem geht das Buch der Frage nach, wieso wir es eigentlich akzeptieren, dass alles, was wir online machen, uns zu gläsernen Menschen werden lässt? Dass wir süchtig nach unseren Smartphones sind, die unser Gehirn permanent mit Sinnlosigkeiten bombardieren? Dass wir ununterbrochen beobachtet und ausspioniert werden, es den meisten aber vollkommen egal ist? Cy Baxter hat dafür eine Erklärung: »Nichts bleibt verborgen. Sie wollen es so. Und wieso? Soll ich Ihnen sagen, wieso? Weil beobachtet zu werden … das fühlt sich ein klein wenig so an, wie geliebt zu werden.«

Wie gesagt, das Buch spielt im Hier und Jetzt. Es wurde aber vermutlich fertiggestellt, bevor am 30. November 2022 das KI-Programm ChatGPT der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Diese Entwicklung hebt das Thema der Überwachung noch einmal auf ein ganz neues Level und man mag, man kann es sich kaum ausmalen, was hier in den nächsten Jahren auf uns zukommen wird. Eine perfekt passende Stelle dazu findet sich im Buch, und mit ihr möchte ich diesen Text beenden: 

»Und unterdessen entwickelt sich das Internet in aller Stille in die einzige Richtung, die es kennt; genau wie das Universum, getrieben von Kräften, die nie jemand ganz verstanden hat, expandiert es immer weiter, … ein Wachstum, das noch über das Exponentielle hinausgeht, ein System, das sich an Komplexität nur mit dem Menschen selbst vergleichen lässt. Die letzte Möglichkeit, diese Expansion zu stoppen oder auch nur zu verlangsamen, war im Augenblick seiner Schöpfung. Danach war es nur noch etwas, das einfach da war, das man akzeptieren musste, beobachten konnte, mit unverständigem Staunen betrachten wie Sterne, wie die Erdrotation, wie Austern, die sich in Vollmondnächten öffnen, sodass man einen Blick auf ihre Perle erhaschen kann.«

Buchinformation
Anthony McCarten, Going Zero
Aus dem Englischen von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes Verlag
ISBN 978-3-257-07192-4

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6 Antworten auf „Every move you make“

  1. Auch ich lese den Blog sehr aufmerksam und bin echt dankbar für die vielen tollen Tipps.
    Hab bei „Going Zero“ nach der Hälfte mal gestoppt, war etwas enttäuscht, da sich die technischen Überwachungsutensilien als hauptsächlich Drohnen entpuppt haben. Ich dachte, ich erfahre hier einiges über technische Fortschritte die ich noch nicht kenne und die mich vom Hocker hauen werden. Im ersten Teil ist das leider nicht der Fall. Aber nach deiner Rezension werde ich jetzt dem zweiten Teil eine Chance geben.
    Danke auf jeden Fall für deine tolle Arbeit

    1. Danke für Deinen Kommentar. Es stimmt, vor allem kommen bereits bekannte Ausspähmöglichkeiten zum Einsatz – doch genau das macht für mich die Handlung so bedrohlich, denn all das ist möglich. In unserer Welt, nicht im Roman.

  2. Das klingt spannend, Danke für den Tipp!
    Ich lese schon einige Zeit deinem Blog mit. Danke, dass du deine Leidenschaft aufschreibst und teilst.

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