Seele zu verkaufen

»Wenn das Internet der Buchdruck wäre, würden wir gerade im Jahr 1460 leben.« Dieses Zitat habe ich schon einmal hier im Blog verwendet, ohne zu wissen, von wem es stammt. Aber es beschreibt, so finde ich, ziemlich gut die Dimension der technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen wir uns befinden und die uns ein Leben lang begleiten werden. Ebenso wie die Leben der kommenden Generationen. Seit ich den Satz das erste Mal zitiert habe, sind inzwischen fast zehn Jahre vergangen; ich weiß immer noch nicht, woher ich ihn habe, aber wir wären nun im Jahr 1470 – und stehen gerade an der Schwelle zur nächsten Stufe der technischen Entwicklungen. Entwicklungen, die vermutlich drastische Auswirkungen auf unsere Zukunft und unser Verhalten haben werden. Der Roman »Candy Haus« von Jennifer Egan passt perfekt in unsere sich rasant verändernde Welt und ich habe ihn nicht nur mit großer Begeisterung, sondern auch mit einem leichten Gruseln gelesen. Denn die nahe Zukunft, in der er zum großen Teil spielt, könnte bald auch unsere Gegenwart sein – so eng liegen beide zusammen.

Momentan erleben wir ein Zerfasern der Sozialen Medien, die prägend waren für die letzten fünfzehn Jahre. Facebook hat sich längst überlebt, Twitter wird von einem egomanischen Milliardär an die Wand gefahren, die Postings auf Instagram wirken wie geklonte Wiederholungen, während TikTok das Feld aufrollt und dabei konsequent die Linie Immer-schneller-immer-greller-immer-lauter fährt, Ausnahmen bestätigen wie überall die Regel. Die Zeit bleibt nicht stehen, Plattformen entwickeln sich nur langsam, während der Zug der User weiterzieht, auf der Suche nach dem Neuen. Daher stehen die Betreiber stets unter dem Druck, sich neue Gimmicks einfallen zu lassen, mit denen sie die Menschen auf ihren Seiten zum Bleiben animieren können.  

Genau in dieser Situation lernen wir im ersten Kapitel von »Candy Haus« Bix Bouton kennen, eine Art fiktiver Marc Zuckerberg, Visionär der ersten Stunde. Wir befinden uns in unserer Gegenwart, sein soziales Netzwerk Mandala spannt sich über die ganze Welt, eine »leuchtende Sphäre der Verknüpfung«. In einer starken Textstelle denkt Bix an das Jahr 1992 zurück, als er übersprudelte vor Ideen, mit denen die meisten Menschen damals nichts anfangen konnten, auch nicht seine Freundin Lizzy – doch mit denen er die Welt komplett umkrempeln würde: »Lizzy und ihre Clique wussten 1992 nicht einmal ansatzweise, was das Internet war, aber Bix spürte die Vibrationen, mit denen die Fäden eines alles verbindenden, unsichtbaren Netzes die vertraute Welt zu durchziehen begannen, als wären es immer weiter um sich greifende Risse in einer Windschutzscheibe. Das Leben, wie sie es kannten, würde bald in Scherben gehen und hinweggefegt werden, und dann würden alle gemeinsam in eine neue, metaphysische Sphäre emporsteigen.« Die Geburtsstunde von Mandala. 

Aus der metaphysischen Sphäre wurde ein gigantisches Geschäftsmodell, das Bix zum Milliardär machte. Doch der Visionär in ihm lebt weiter, spürt nun etliche Jahre später, dass das Alte an seine Grenzen stößt, dass er weiterdenken muss, damit sie ihn nicht einholt, die alles lähmende Leere in seinem Kopf. Und seine nächste Idee wird sämtlich bisher Dagewesenes in den Schatten stellen – sie bedeutet die ultimative Vernetzung. 

Bix entwickelt eine an Mandala angedockte App mit dem Namen Besitze dein Unterbewusstes™. Und wie es der Name schon andeutet, können die Nutzer mit Hilfe einer technischen Vorrichtung ihre gesamten Erinnerungen online hochladen – um sie sich anzuschauen. Die eigenen und die von Millionen und Abermillionen anderer Menschen. Eine faszinierende Idee. Eine erschreckende Idee. Bix verändert damit die Welt ein zweites Mal, diesmal noch gründlicher, denn viel gläserner kann nun niemand mehr werden. Jeder kann sein komplettes Leben mit allen Erinnerungen, auch den persönlichsten, zur Besichtigung freigeben – und die meisten stimmen dem gedankenlos zu, denn zu groß ist die Verlockung, in den Leben der anderen herumzustöbern. Wie schrecklich diese Vorstellung ist, wurde mir besonders klar, als ich für das Beitragsbild in meiner Photokiste stöberte und natürlich nur Bilder auswählte, die nicht zu privat sind, auch wenn man sie ohnehin kaum erkennen kann.

Rund um diese App Besitze dein Unterbewusstes™  hat Jennifer Egan ihren Roman aufgebaut, sie ist der rote Faden, der sich durch sämtliche Kapitel zieht. Die Autorin erzählt von einer Welt, in der das Stöbern in Erinnerungen – den eigenen und fremden – zum Leben gehört, der Unterschied zwischen On- und Offline ist kaum noch vorhanden. Zu Beginn des Buches begegnen wir Bix, kurz bevor er seine App erfindet, aber viel mehr werden wir mit ihm nicht zu tun haben, außer, dass sein Name immer wieder auftaucht. Aber in jedem Kapitel steht eine andere Person im Mittelpunkt, meist ist es jemand, den wir zuvor nur am Rande wahrgenommen haben: Eine Nebenfigur in dem einen Kapitel wird zur Hauptfigur in einem der nächsten. Auch der Schreibstil und die Erzählweise ändern sich, mal ist es die Ich-Perspektive, aus der wir auf das Geschehen schauen, mal blicken wir den Protagonisten über die Schulter, einmal besteht ein Kapitel aus einem E-Mail-Wechsel, mal aus einer Art innerem Monolog, es gibt konventionell erzählte Texte neben einem protokollartigen Einsatzbericht. Aus dieser Vielfalt der Personen und Perspektiven entsteht eine ganz eigene Dynamik, die unsere volle Aufmerksamkeit erfordert.

Denn mit der Zeit beginnen sich die Erinnerungen der Protagonisten miteinander zu verknüpfen, alles ist ineinander verschachtelt, fast wie beiläufig miteinander verzahnt. Immer wieder dreht es sich um existentielle Fragen: Kann man der eigenen Erinnerung trauen? Was ist in den Momenten wirklich geschehen, die prägend waren für das eigene Leben? Nun ist es möglich, die eigenen Erinnerungen aus fremder Perspektive zu betrachten, indem man diejenigen anderer Beteiligter aufruft. Sich die Erinnerungen von Freunden, Eltern, Kindern anzuschauen und dabei Gedanken zu finden, die vielleicht besser im Dunkel des Vergessens geblieben wären. 

Wie in der von Jennifer Egan geschilderten Welt beginnt die Romanhandlung zunehmend gläserner zu werden; es entsteht ein flirrendes Kaleidoskop aus geteilten Erinnerungen, aus Unstimmigkeiten, aus einer wie auch immer gearteten Wahrheit – und der Suche danach. Menschen gehen in ihren Erinnerungen verloren, ihr eigenes Selbstbild erleidet Risse und Beschädigungen – denn das Ureigene, das jeder Mensch hat, das jeden von uns ausmacht, wird öffentlich, kann von allen anderen betrachtet und seziert werden. 

Öffentliche Erinnerungen also. »Candy Haus« ist eine augenzwinkernde Utopie, doch im sich immer weiter und schneller drehenden Karussell der technischen Möglichkeiten klingt alles in diesem Buch so realistisch, dass es einen gruselt. Denn vieles von dem, was wir heute nutzen, erschien vor zwanzig, dreißig Jahren ebenfalls vollkommen utopisch: wer wie ich in einer vollkommen analogen Welt aufgewachsen ist, staunt immer wieder darüber, wie radikal sie sich verändert hat. Und das Preisgeben der eigenen Identität, das Schrumpfen von einer Persönlichkeit zu einer digitalen Kunstfigur im Tausch gegen Aufmerksamkeit und Reichweite – das alles lässt sich heute täglich beim Durchstreifen der digitalen Weiten betrachten. Jennifer Egan treibt dies in ihrem Roman auf die Spitze und macht klar, um was es sich letztendlich handelt: Um nichts weniger als das, was man früher in den Märchen als das Verkaufen der eigenen Seele bezeichnete. Ein brillantes Buch für unsere Zeit, genau zum richtigen Moment.

Buchinformation
Jennifer Egan, Candy Haus
Aus dem Englischen von Henning Ahrens
S. Fischer Verlag
ISBN 978-3-10-397145-3

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»Fahrenheit 451«: Ein Interview zur Neuübersetzung

Der Dystopie-Klassiker »Fahrenheit 451« von Ray Bradbury wurde von Peter Torberg neu übersetzt. Entstanden ist dabei ein mitreißend erzählter Roman mit einer bildgewaltigen Sprache – ganz im Sinne des Autors, der dieses Buch seinerzeit in nur neun Tagen niederschrieb; seine Aufgewühltheit beim Verfassen des Textes ist in der Neuübertragung deutlich spürbar. Überhaupt verdanke ich der Übersetzungsleistung Peter Torbergs etliche großartige Leseerlebnisse; als Beispiele seien »Winters Knochen« von Daniel Woodrell, »Bitter Wash Road« von Gary Disher oder »Einsame Tiere« von Bruce Holbert genannt. Vor einiger Zeit hatten wir uns auf der Frankfurter Buchmesse auf einen Kaffee getroffen und ein Interview verabredet. Nun bot die Neuübersetzung von »Fahrenheit 451« einen guten Anlass, ihm Fragen zu seiner Tätigkeit zu stellen. „»Fahrenheit 451«: Ein Interview zur Neuübersetzung“ weiterlesen

Dokument der Hilflosigkeit

Frank Schirrmacher: Technologischer Totalitarismus - Eine Debatte

Flüchtlingskrise, ein Europa, das auseinanderzubrechen droht, ein neuer Kalter Krieg am Horizont – die Nachrichtenlage ist zur Zeit so bedrückend wie schon lange nicht mehr. Dabei gerät ein Thema völlig aus dem Fokus; ein Thema, das aber eine ebenso gewaltige Sprengkraft entfalten wird wie die genannten. Nur viel stiller und leiser. Denn wenn auch zur Zeit kaum darüber geredet oder berichtet wird, hat sich an der Brisanz der Datenüberwachung, des Datenmissbrauchs und der Datenspionage nichts geändert; sichere Regelungen sind weiter entfernt sind denn je. Es lohnt sich umso mehr ein Blick in das Buch »Technologischer Totalitarismus«, herausgegeben von Frank Schirrmacher. In dem 2014 gestarteten Leseprojekt Schöne neue, paranoide Welt hier auf Kaffeehaussitzer nimmt dieser Sammelband eine Schlüsselrolle ein, denn er vermittelt einen guten Eindruck über die Ratlosigkeit, mit der wir dem digitalen Umbau unserer Welt oftmals gegenüberstehen. „Dokument der Hilflosigkeit“ weiterlesen

Angststaat, aus Asche geboren

Yali Sobol: Die Hände des Pianisten

Diesmal war es verdammt knapp. Tel Aviv ist schwer zerstört, Tausende Menschen sind im Krieg gestorben und nur im letzten Moment konnte die israelische Armee die völlige Katastrophe verhindern. Danach hat sie umgehend die Macht übernommen, um das Land wieder zu stabilisieren, eine zivile Regierung existiert nicht mehr, Generalmajor Meni Schamai herrscht mit seiner Militärjunta über das Land. Das ist die Ausgangslage des Romans »Die Hände des Pianisten« von Yali Sobol, dessen Handlung in einer nahen Zukunft angesiedelt ist, »nach dem letzten Krieg«, und das könnte jederzeit sein.

Ist das ein Roman über den Nahost-Konflikt? Eigentlich nicht. Israel ist lediglich eine Metapher, es geht vor allem darum zu erzählen, wie schnell sich in einem Land im Ausnahmezustand totalitäre Strukturen verfestigen können und was dies mit den Bewohnern, den Menschen macht. „Angststaat, aus Asche geboren“ weiterlesen

Wollt ihr die totale Transparenz?

Dave Eggers: Der Circle

Vor ein paar Jahren behauptete eine Kollegin voller Überzeugung, dass man über sie nichts im Internet finden würde. Nach einer fünfminütigen, unangestrengten Google-Recherche wusste ich ihren zweiten Vornamen und ihre Mobiltelefonnummer. Aber das ist vollkommen harmlos, jedenfalls im Vergleich zu der völligen Transparenz, die zu erreichen sich die Firma Circle auf die Fahnen geschrieben hat. Circle ist so eine Art Über-Google, ein fiktives Unternehmen in einer nahen, sehr nahen Zukunft und der  Namensgeber von Dave Eggers Roman: »Der Circle«. „Wollt ihr die totale Transparenz?“ weiterlesen

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