Spurensuche im Graphischen Viertel

Durch das Graphische Viertel: Der Leipziger Gutenbergweg

Man stelle sich eine Stadt vor. Eine Stadt mit weit über 700.000 Einwohnern. Eine Stadt, in der Kultur, Handel und Industrie in einer perfekten Symbiose existieren. Eine Stadt mit mehr als unzähligen Buchhandlungen, Verlagen und Druckereien. Eine Stadt als Zentrum der Medienproduktion schlechthin. Eine Buchstadt. Wohlhabend. Lebendig. Innovativ. Verschwunden im Bombenhagel des Zweiten Weltkriegs. Geblieben ist ein Mythos.

Die Rede ist von Leipzig. Östlich der Innenstadt liegt das Graphische Viertel, das auch heute noch so heißt. Damals waren in diesem Viertel unzählige Verlage angesiedelt, Druckereien, Buchbindereien, ein breites Spektrum an Firmen, die mit der Herstellung und Produktion von Printmedien zu tun hatte. Ein solches Ballungszentrum der Medienindustrie hat es danach nie wieder gegeben, sogar das New York von heute würde davon in den Schatten gestellt. Verlage und Druckereien existierten meistens unter einem Dach, unter einem Namen. Und große Namen waren darunter wie Brockhaus, Insel oder Reclam. Firmen und Marken, die es heute noch gibt, die allerdings nichts mehr mit Leipzig zu tun haben. Es gab kleine, aber feine Verlage – heute würde man wahrscheinlich Independents dazu sagen – wie den Kurt Wolff Verlag, der den Schriftstellern der Moderne den Weg bereitete. Es gab Notendruckereien, Plakatdruckereien, Großbuchbindereien, es gab einen eigenen Bahnhof, an dem Papier angeliefert wurde und Büchersendungen sich auf den Weg überall hin nach Deutschland machten. Es gab Buchgroßhändler wie Koehler & Volckmar, das Stammhaus der heute noch erfolgreich am Markt aktiven Firma lag in Leipzig. Und es herrschte eine rege Betriebsamkeit, Lastwagen und Pferdefuhrwerke waren unterwegs und natürlich Menschen, Menschen, Menschen. Bei Schichtende strömten Tausende Drucker, Setzer, Arbeiter aus den Werkstoren, es gab Kneipen, Speiselokale, Arbeiterwohnungen, aber auch prachtvolle Gründerzeithäuser, in denen großbürgerliche Familien lebten. Und dazwischen standen überall die Verlage und Druckereien, Industriepaläste, groß, imposant, für die Ewigkeit gebaut. Einen beeindruckenden Überblick über die Dichte des Buchgewerbes gibt eine interaktive Karte, die Mitarbeiter der Nationalbibliothek Leipzig in Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung Leipzig erstellt haben: 2.200 Firmen wurden mit ihren Adressen in eine digitale Karte mit historischem Overlay übertragen.

Heute wirkt die Gegend verlassen. Ein paar dieser Industriepaläste, die den Krieg und die DDR überlebt haben, wurden zu schicken Loftwohnungen oder Bürogebäuden umgebaut. Es gibt immer noch einen hohen Altbaubestand, inzwischen zu großen Teilen saniert. Aber dazwischen sind die Narben des Krieges präsent, unübersehbar. Brachflächen, leere Grundstücke, Schutthaufen, Ruinen. Und kaum Menschen auf den Straßen. Das Graphische Viertel von damals ist vollständig verschwunden.

Seit Jahren versuche ich, Informationen über die Geschichte dieses Viertels zu finden. Ein sehr schwieriges Unterfangen, denn es gibt fast nichts dazu. Natürlich existieren Bilder von den großen Druckhäusern und Verlagen. Aber wie sahen die Straßen aus? Die Menschen, die dort arbeiteten? Photos der Häuser? Der regen Betriebsamkeit? Fehlanzeige. Historische Bilder von Leipzig klammern das Graphische Viertel fast vollkommen aus. Literatur darüber? Ebenfalls Fehlanzeige, wie mir in der Deutschen Bücherei und vom Verleger des auf Leipziger Geschichte spezialisierten Lehmstedt Verlags bestätigt wurde. Das einzige Buch, das sich konkret mit dem Graphischen Viertel beschäftigt, ist »Der Leipziger Gutenbergweg« von Sabine Knopf und Volker Titel. Und dieses Buch ist ein faszinierender Reiseführer in die Vergangenheit. Neben vielem Wissenswertem über die Geschichte der Buchstadt Leipzig enthält es eine Übersichtskarte des Graphischen Viertels mit der Beschreibung eines Rundwegs, der zu den wichtigsten Landmarken der großen Zeit führt. Zu den verschwundenen Verlagsgebäuden, Druckerpalästen, Buchbindereien und Verlegervillen.

Den Besuch der Leipziger Buchmesse 2014 nahm ich zum Anlass, um mich mit Hilfe des Buches und mit meinem Photoapparat selbst auf Spurensuche zu begeben. Und wenn man erst einmal weiß, wo man schauen muss, findet man vieles. Weit gekommen bin ich allerdings nicht. Zwar hatte ich mir vorgenommen, das gesamte Graphische Viertel abzulaufen, aber schon die ersten Stationen boten solch eine Vielzahl an Details, dass ich mich komplett darin verloren habe. Besonders beeindruckend war die Ruine von Hermann J. Meyers Bibliographischem Institut.

»In dem palastartigen Domizil, an dessen Schwelle ein Portier in goldbetreßter Livree wachte, waren um 1900 etwa 400 Mitarbeiter beschäftigt. Zur Ausstattung der Druckerei zählten 22 Schnellpressen und zwei Rotationsmaschinen. Das Kernstück des Verlagsprogramms bildete das berühmte achtzehnbändige Konversationslexikon, das Auflagen bis zu 200.000 Exemplaren erreichte.« 

Soweit der »Reiseführer«. Heute stehen nur noch der vordere und der hintere Gebäuderiegel als Ruinen, der Rest ist eine Wiese. Es gab einen Zugang in den vorderen Ruinenbereich und so lief ich über Scherben, Trümmer, aufgeplatzte Parketböden und versuchte mir vorzustellen, welches Leben früher in dem Gebäude geherrscht hatte. Dort, wo seinerzeit das prachtvollste Lexikon der Epoche vor dem Ersten Weltkrieg hergestellt wurde, ein Juwel der Buchdruckkunst.

Im Deutschen Buch- und Schriftmuseum, das in der Deutschen Bücherei in Leipzig beheimatet ist, steht ein Modell der Stadt. In akribischer Recherchearbeit haben Mitarbeiter des Museums anhand alter Adressverzeichnisse alle Häuser Leipzigs markiert, in denen es um 1920 einen Verlag, eine Druckerei oder eine Buchhandlung gab. Das Ergebnis ist überwältigend. Und wirkt völlig irreal, wenn man noch den Ruinenstaub an den Schuhen hat.

Die Suche wird fortgesetzt. Erste Photos der Spurensuche gibt es hier.

Zum Weiterlesen: Kai Meyer hat in seinem Roman »Die Bücher, der Junge und die Nacht« das Graphische Viertel wiederauferstehen lassen und setzt es schaurig-schön in Szene. Große Leseempfehlung.

Buchinformation
Sabine Knopf/Volker Titel, Der Leipziger Gutenbergweg
Sax Verlag
ISBN 978-3-934544-04-8

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15 Antworten auf „Spurensuche im Graphischen Viertel“

  1. Um genau zu sein, ist das graphische Viertel weniger durch den Bombenhagel als vielmehr durch den real existierenden Sozialismus untergegangen. Denn die Firmen haben ihren Stammsitz vor allem aus diesem Grund verlassen, während im Westen alle traditionsreichen Firmen ohne Ortsveränderung weitergemacht haben (vielleicht nicht im selben Gebäude, aber fast immer in derselben Stadt).

    Das Erbe hat z.T. Frankfurt am Main übernommen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Frankfurter Buchmesse so berühmt, und wichtige Verlage waren dort angesiedelt. Hier die Frankfurter Stadtgeschichte als Stadt des Buches, Frankfurt wird darin als Profiteur des Leipziger Niedergangs genannt:
    https://www.frankfurt.de/sixcms/detail.php?id=2923&_ffmpar%5B_id_inhalt%5D=7346427

    Aber auch das verändert sich seit 1989/90 massiv. Viele Verlage sind von Frankfurt nach Berlin gezogen. Weil jetzt dort die intellektuelle (und ökonomische) Musik spielt. Eigentlich ein klarer Verstoß gegen die Dezentralität Deutschlands, die immer ein Kernmerkmal dieses Landes war.

    Das Buch besorge ich mir, und den Spaziergang werde ich auch irgendwann nachvollziehen. Eine schöne Anregung!

  2. Spannendes Thema, schöne Fotos! Gibt es eigentlich auch thematische Stadtführungen durch das „Graphische Stadtviertel“? Könnte mir vorstellen, dass es da (zumindest an den Wochenenden) eine Nachfrage gibt. Wäre jedenfalls lohnend, gibt ja offenbar einiges Interessantes zu sehen und noch mehr Interessantes zu erzählen.

    1. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, ob es da regelmäßig thematische Stadtführungen gibt. Lohnen würde es sich auf jeden Fall, man benötigt zwar einige Phantasie, um sich in dieser Gegend Leipzigs einen lebendigen Stadtteil vorzustellen, aber einige Zeugen der Vergangenheit sind ja noch zu sehen.

  3. Ein sehr interessanter Streifzug durch die Stadt und schade, dass es nicht noch mehr Spuren und Hinweise gab (das wundert mich!). Ich stelle mir vor, wie es damals gewesen sein muss…

    1. Dankeschön! Das ist aber nur ein kleiner Ausschnitt dieser wunderbaren Stadt mit ihren schönen Gebäuden, unzähligen Cafés und Bars und vielen sympathischen Menschen. Ich bin immer sehr gerne dort, nur leider viel zu selten…

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