Eine Chance nutzen

Cynan Jones: Alles, was ich am Strand gefunden habe

»Alles, was ich am Strand gefunden habe« von Cynan Jones ist eines dieser Bücher, bei denen man erst einmal tief durchatmen muss, wenn die letzte Seite gelesen ist. Zumindest mir ging das so. Nachdem mich schon der Vorgänger »Graben« sehr begeistert hat, war ich gespannt auf den neuen Roman – und wurde nicht enttäuscht. Ganz und gar nicht. »Alles, was ich am Strand gefunden habe« ist eine düstere Geschichte voller erhabener Momente; eine Geschichte, die unter die Haut geht. Und die man nicht so schnell wieder aus dem Kopf bekommt. Erhaben sind die Beschreibungen der walisischen Landschaft, düster die Schicksale dreier Männer.

Die Handlung beginnt mit dem Fund einer übel zugerichteten Leiche an einem Strand irgendwo in Wales. Was war geschehen? Das erfahren die Leser nach und nach, wobei von Beginn an eine unterschwellige Anspannung in jedem Satz mitschwingt. Denn schnell spitzt es sich auf die Frage zu: Für wen geht es nicht gut aus? Wer wird am Ende als Leiche am Strand liegen?

Ist es Grzegorz? Der den kleinen elterlichen Bauernhof in Polen aufgegeben hat und mit seiner Frau und zwei kleinen Kindern nach Großbritannien gekommen ist. Das Versprechen der Vermittlungsagentur auf ein besseres Leben endete in einem heruntergekommenen Haus, in dem sie mit zahlreichen anderen polnischen Leiharbeitern zusammengepfercht wohnen müssen. Schlafsäle, Gemeinschaftsduschen, Schmutz, fehlende Privatsphäre – kein schöner Ort für eine Familie. Die Trostlosigkeit dort ist nur schwer zu ertragen. Dazu tagein, tagaus die mühsame, schlecht bezahlte Plackerei in einer Großschlachterei. Und die immer gewisser werdende Erkenntnis, sein Leben und die seiner Lieben in eine Sackgasse manövriert zu haben. Grzegorz wartet auf die eine Chance, den einen richtigen Augenblick, aus alldem herauszukommen, den nächsten Schritt zu machen. Als ihm diese Chance angeboten wird, greift er zu.

Oder ist es Hold, manchmal auch Holden genannt? Er lebt als Fischer und Jäger fast buchstäblich von der Hand in den Mund, haust in einem Wohnwagen, kommt irgendwie über die Runden. »Er nahm keine Arbeit mehr an, in der er keinen Sinn sah oder die ihm nichts gab. Er besaß nicht viel Geld. Punktum. Aber wie er es verdiente, war für ihn so in Ordnung.« Wenn da nicht Cara und Jake wären, Witwe und Sohn seines besten Freundes Danny, der seit drei Jahren tot ist. Hold traut sich nicht, sich in Cara zu verlieben, möchte erst als eine Art Vermächtnis das verfallene Elternhaus Dannys renovieren, möchte Cara Verlässlichkeit bieten können. Sein Einkommen reicht dafür hinten und vorne nicht und auch er wartet auf eine Chance. Die eine Gelegenheit, die alles ändern könnte. Er wird sie bekommen. Und ebenfalls zugreifen. »Er fragte sich, ob es besser war, eine Entscheidung zu treffen, eine Richtung einzuschlagen und zu riskieren, in ein Netz zu geraten – oder aber irgendwo am Grund zu liegen und zu warten und zu riskieren, dass etwas Großes mitten durch einen hindurchgeschleift worden war.«

Vielleicht aber auch Stringer? Ein kleines Rädchen in einem Drogenkartell, taucht er erst spät in der Geschichte auf. Etwas war schiefgelaufen im gut geölten Netzwerk der Drogenkuriere und er soll es wieder richten. Mit einer konkreten Anweisung von oben:

»Soll es unauffällig vonstatten gehen?«, fragte Stringer.
»Nein. Es soll eine Botschaft sein.«
»Wie deutlich?«
»Sehr deutlich?«
Stringer verstand.

Er ist ein wütender Mensch. Wütend auf sein Leben, wütend auf die Umstände, die ihn nicht weiterkommen lassen. Während Stringers Zeit im Gefängnis haben seine alten Kumpels in der Hierarchie des Drogenkartells Karriere gemacht. Hat sich Dublin von einer ärmlich-schmuddeligen Stadt zu einer hippen Metropole entwickelt. Nur er ist immer noch jenes kleine Rädchen im Getriebe, das er schon immer war. Dann wird er mit der Fähre hinüber nach Wales geschickt, um etwas in Ordnung zu bringen. Auch er ergreift diese eine Chance, während seine Wut ihn antreibt.

Grzegorz, Hold und Stringer sind Männer am Rande der Gesellschaft. Alle drei träumen davon, ihr Leben zu ändern. Warten sehnsüchtig auf die eine Gelegenheit, die sie unter allen Umständen packen und nicht wieder loslassen wollen.

Die Chance besteht aus einem Päckchen Kokain. Es ist nur ein kleines Päckchen, das aber ausreicht, um Ereignisse in Gang zu setzen, die das Leben aller drei Männer bestimmen werden.

Unaufhaltsam nimmt das Schicksal seinen Lauf und Cynan Jones erzählt davon in einer lakonischen und gleichzeitig atemberaubenden Weise. Als Leser spürt man schon fast körperlich, wie sich die Handlung zuspitzt. Gleichzeitig erlebt man bei der Lektüre immer wieder kurze Momente der Ruhe, verbunden mit Schilderungen der rauen walisischen Natur, die sich kein bisschen für die Wege der Menschen interessiert. Damit schafft der Autor einen gelungenen Kontrast zur Getriebenheit der Protagonisten, steigert damit die Spannung noch weiter. Das Meer spielt eine entscheidende Rolle, »die sich hebenden Wellen vor der Küste besaßen die Kraft eines lauernden Tieres, etwas Männliches, wie wenn einer darauf wartet, dass sich jemand mit ihm anlegt.«

Cynan Jones hat keinen Thriller geschrieben, das Drogenkartell etwa existiert nur in vagen Andeutungen, vieles bleibt ungesagt. Solche Details sind auch nicht wichtig, denn im Mittelpunkt stehen die Gedanken der drei Männer. Gedanken, die sie immer weiter vorantreiben, die ihnen Hoffnung vorgaukeln, sie ihre Verzweiflung oder ihre Wut vergessen lassen. Aus diesen inneren Monologen besteht ein großer Teil des Buches, sie saugen den Leser regelrecht in die Handlung hinein, bringen uns die drei Männer nahe, lassen uns mithoffen, dass alles gutgehen möge. Zumindest bei den beiden, die sich wegen der Menschen, die sie lieben, immer weiter in eine Geschichte verstricken, deren Ausgang nichts Gutes ahnen lässt.

Denn einer von den dreien wird dann tot am Strand liegen.

Buchinformation
Cynan Jones, Alles, was ich am Strand gefunden habe
Aus dem Englischen von Peter Torberg
Liebeskind Verlag
ISBN 978-3-95438-074-9 

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9 Antworten auf „Eine Chance nutzen“

  1. Hallo Herr Kalkowski
    ok, ich gebe mich geschlagen. Das Buch möchte ich dann auch lesen. Schon alleine weil ich jetzt wissen muss wer da am Strand endet. Ich fange die Tage mal mit „Der Graben“ an und dieses hier folgt dann wohl direkt hinterher…mein kleiner Buchladen freut sich. Wenn die wüssten das Twitter schuld ist :-)
    Liebe Grüße und danke für den Tipp
    Kerstin

    1. Freut mich, dass ich auch Dir mal einen Tipp geben konnte – umgekehrt habe ich mir schon so einige Leseempfehlungen bei Dir abgeholt.

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