»Wenn das Internet der Buchdruck wäre, würden wir gerade im Jahr 1460 leben.« Dieses Zitat habe ich schon einmal hier im Blog verwendet, ohne zu wissen, von wem es stammt. Aber es beschreibt, so finde ich, ziemlich gut die Dimension der technischen und gesellschaftlichen Umwälzungen, in denen wir uns befinden und die uns ein Leben lang begleiten werden. Ebenso wie die Leben der kommenden Generationen. Seit ich den Satz das erste Mal zitiert habe, sind inzwischen fast zehn Jahre vergangen; ich weiß immer noch nicht, woher ich ihn habe, aber wir wären nun im Jahr 1470 – und stehen gerade an der Schwelle zur nächsten Stufe der technischen Entwicklungen. Entwicklungen, die vermutlich drastische Auswirkungen auf unsere Zukunft und unser Verhalten haben werden. Der Roman »Candy Haus« von Jennifer Egan passt perfekt in unsere sich rasant verändernde Welt und ich habe ihn nicht nur mit großer Begeisterung, sondern auch mit einem leichten Gruseln gelesen. Denn die nahe Zukunft, in der er zum großen Teil spielt, könnte bald auch unsere Gegenwart sein – so eng liegen beide zusammen. „Seele zu verkaufen“ weiterlesen
Zurück auf Null
Es beginnt wie ein klassischer historischer Roman. Der junge, unerfahrene Priester Christopher Fairfax wird vom Bischof von Exeter in einen abgelegenen Ort im Südwesten Englands entsandt. Dort war der Pfarrer bei einem Unfall ums Leben gekommen; Fairfax soll die Beisetzung regeln und alles für einen Nachfolger vorbereiten. Robert Harris schickt uns mit »Der zweite Schlaf« in das Jahr 1468, mitten hinein in die Zeit des Spätmittelalters. Denkt man jedenfalls auf den ersten Seiten. „Zurück auf Null“ weiterlesen
Unsere Welt. Nur anders
Natürlich war mir das Buch mit dem düsteren Cover und dem einprägsamen Titel schon in einer der Buchhandlungen meines Vertrauens aufgefallen. Doch spätestens nach der mitreißenden Besprechung im Blog masuko13 war klar, dass ich an dem Roman »American War« von Omar El Akkad auf keinen Fall vorbeikommen würde. Und es hat sich gelohnt, denn diese finstere Geschichte wird für eine lange Zeit im Gedächtnis bleiben.
Um was geht es? Der Titel sagt es schon, um einen amerikanischen Krieg. Genauer: Um den zweiten amerikanischen Bürgerkrieg, der zwischen den Jahren 2074 und 2095 stattgefunden hat und über den rückblickend berichtet wird. Um eine Welt in Auflösung; die letzten zwei Sätze des Prologs fassen das gesamte Buch zusammen: »Dies ist keine Geschichte über den Krieg. Es ist eine Geschichte über Zerstörung.« Und zerstört wird im Laufe der Handlung nicht nur das Land, nicht nur die Städte, nicht nur Straßen und Brücken und Bahnlinien. Zerstört werden die Menschen, auch wenn sie nicht ihr Leben im Krieg verlieren. Zerstört wird alles, was das menschliche Miteinander ausmacht. „Unsere Welt. Nur anders“ weiterlesen
Ein Vorhang der Wirklichkeit
Jetzt bin ich tatsächlich über Amazon auf ein Buch aufmerksam geworden. Ausgerechnet. Wer schon öfters einmal hier war, der weiß, dass die Firma Amazon mit ihren rabiaten Geschäftspraktiken auf Kaffeehaussitzer Hausverbot hat. Gleichwohl fand ich die Nachricht interessant, dass der Gemischtwarenkonzern aus Seattle jetzt als Film- bzw. Serienproduzent agiert, um sich im Streaminggeschäft Marktanteile zu sichern. Eines der ersten großen und offensiv beworbenen Serienprojekte ist »The Man in the High Castle«, die filmische Adaption des 1962 erschienenen, gleichnamigen Romans von Philip K. Dick. Eines Klassikers der phantastischen Literatur, der seit vielen Jahren in deutscher Übersetzung als »Das Orakel vom Berge« vorliegt. Und von dem ich zuvor noch nie etwas gehört hatte.
Um was geht es? Es ist die Beschreibung, wie unsere Welt aussehen würde, wenn Nazi-Deutschland und Japan gemeinsam mit Italien den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätten. Eine düstere Was-wäre-wenn-Dystopie, die einen komplett anderen Verlauf der Weltgeschichte schildert. „Ein Vorhang der Wirklichkeit“ weiterlesen
Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*
Die Welt ist aus den Fugen, so scheint es. An manchen Tagen möchte man sie schon nach dem ersten, morgendlichen Blick auf die Nachrichtenlage gerne eintauschen gegen eine andere. Oder zumindest gegen eine andere Zeit. Denn gleichzeitig habe ich seit vielen Jahren das Gefühl, im falschen Zeitalter zu leben, so als wäre ich nur durch Zufall im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts geboren. Habe ich schon einmal gelebt? Der Glaube an Reinkarnation ist für mich esoterischer Unsinn, aber darum geht es nicht. Es ist eher ein diffuses Gefühl, das sich manchmal seinen Weg bahnt; vielleicht erklärt sich auch so mein Gruseln vor moderner Stadtplanung, mein völliges Desinteresse an Sportveranstaltungen oder auch meine Begeisterung für die einsamen Landschaften Caspar David Friedrichs, in die ich mich stundenlang vertiefen könnte. Die große Retrospektive dieses Meisters 2006 im Museum Folkwang war für mich der Höhepunkt eines Vierteljahrhunderts Ausstellungsbesuche.
Irgendwann hatte ich einmal einen Text entdeckt, der das alles viel besser in Worte zu fassen vermag, als ich es jemals könnte. Hier ist er. „Zeitreise als Utopie – Ein Textbaustein*“ weiterlesen
Die Liste der Neun. Ein Ausblick
In den letzten Wochen war es etwas ruhig auf Kaffeehaussitzer. Zwischen Weihnachten, Jahreswechsel, beruflichen und privaten Verpflichtungen gab es keine richtige Muße, um einen Blogbeitrag zu schreiben. Was aber nicht heißen soll, dass die Zeit auch zum Lesen nicht gereicht hat, ganz im Gegenteil. Mittlerweile warten neun Bücher darauf, hier vorgestellt zu werden und als kleinen Zwischenbericht möchte ich einen Ausblick geben, was in nächster Zeit auf Kaffeehaussitzer geplant ist. Das hilft mir auch dabei, eine Gliederung zu schaffen, um mich nicht zu verzetteln.
Es ist nicht so, dass ich jedes Buch bespreche, das ich gelesen habe. Manche hinterlassen zu wenig Eindruck, als das es sich lohnen würde, sich näher damit zu beschäftigen. Allerdings hatte ich Glück bei der Auswahl der letzten Lektüren und so sind neun ganz und gar unterschiedliche Bücher zusammengekommen, um die es hier in den nächsten Beiträgen gehen wird. „Die Liste der Neun. Ein Ausblick“ weiterlesen
Inszenierte Inszenierung
Das Buch »Kastelau« von Charles Lewinsky habe ich schneesturmumtost in einem abgelegenen Bauernhof gelesen – mit dem Gefühl, komplett von der Welt abgeschnitten zu sein. Selten passen äußere Umstände so perfekt zum Inhalt eines Romans, denn Kastelau ist ein Dorf in den Berchtesgadener Alpen, in dem ein Filmteam aus Berlin den Winter 1944/1945 verbringt – völlig abgeschnitten vom Rest der Welt. Und das ist auch der Grund ihrer Anwesenheit dort. Denn Berlin wird zu dieser Zeit ein immer gefährlicherer Ort, die Niederlage des Krieges beginnt sich abzuzeichnen und niemand – auch kein Star des Filmgeschäfts – ist mehr davor gefeit, sein Leben für das Ende des tausendjährigen Reiches geben zu müssen. „Inszenierte Inszenierung“ weiterlesen
Ein Thriller als Augenöffner
Vor einiger Zeit hatte ich das Buch »Zehn Milliarden« gelesen und hier vorgestellt. Es thematisiert die Überbevölkerung der Erde, die irreparable Umwelt- und Ressourcenzerstörung und den unaufhaltsamen Weg in den Kollaps unserer Welt. Nach etwas mehr als 200 Seiten gut aufbereiteter, aber erschreckender Daten zieht der Autor eine verstörende Bilanz: »Ich habe einen der nüchternsten und klügsten Forscher, die mir jemals begegnet sind, einem jungen Kerl aus meinem Labor, der sich weiß Gott in diesen Dingen auskennt, die folgende Frage gestellt: Wenn er angesichts der Situation, mit der wir derzeit konfrontiert sind, nur eine einzige Sache tun könnte, was wäre das? Was würde er tun? Wissen Sie was er geantwortet hat? ›Ich würde meinem Sohn beibringen, wie man mit einem Gewehr umgeht.‹«
Nicht zuletzt wegen dieses drastischen Schlusssatzes ist mir das Buch im Gedächtnis haften geblieben und deshalb bin ich sehr neugierig, wenn dieses Thema in einer Romanhandlung umgesetzt wird. So wie in »Noah« von Sebastian Fitzek. „Ein Thriller als Augenöffner“ weiterlesen
Humphrey Bogart im Drohnenland
Vor hundert Jahren sind Europas Armeen gegeneinander in den Krieg gezogen und das war erst der Beginn einer beispiellosen Gewaltspirale. Vor diesem Hintergrund mag man die Europäische Union als einen friedensstiftenden Fortschritt betrachten. Gleichzeitig ist sie aber auch ein Bürokratiemonster, dessen politische Entscheidungen zunehmend von den Lobbyisten der Industrie geprägt sind. Ein schönes Beispiel war hier die Abschaffung der Glühbirne: Nicht nur, dass Energiesparleuchten Giftstoffe enthalten, sondern viel unerträglicher ist es, dass es per Gesetz keine Alternative mehr dazu gibt. Mit Umweltschutz hat das nur am Rande zu tun. Aber ich schweife ab, denn eigentlich soll es hier nicht um Glühbirnen gehen, sondern um Drohnen, genauer gesagt um das Buch »Drohnenland« von Tom Hillenbrand. Es spielt in der Zukunft, etwa im Jahr 2050, und sollte die darin beschriebene EU jemals Wirklichkeit werden, würden wir uns alle das Bürokratiemonster von heute zurückwünschen. „Humphrey Bogart im Drohnenland“ weiterlesen
Lasst alle Hoffnung fahren?
Das Buch »Zehn Milliarden« von Stephen Emmott hat es in sich. Und zwar gleich in zweifacher Hinsicht. Zum einen ist es buchgestalterisch ein echter Hingucker, mit einem aufwändig produzierten und sehr haptischen Umschlag, der Innenteil schon fast ein typographisches Gesamtkunstwerk. Und zum anderen geht es um nichts Geringeres als den Untergang unserer Welt. „Lasst alle Hoffnung fahren?“ weiterlesen
Es kommt alles anders
Im August 2013 sorgte der Kurzfilm eines Filmakademie-Absolventen für Kontroversen. Zwei Dinge irritieren gleich in den ersten Sekunden des Films: Der nagelneue Mercedes passt nicht in die sepiafarben gehaltene Landschaft mit einem Dorf und Menschen aus dem 19. Jahrhundert. Und es ist kein Fahrer in dem schnell fahrenden Auto zu erkennen. Dafür reagiert der fahrerlose Wagen zuverlässig und intelligent: Zwei Mädchen spielen auf der Straße, das Fahrzeug bremst. Kurz darauf springt ein Junge auf die Fahrbahn. Der Mercedes beschleunigt und überfährt das Kind. Die Mutter schreit mit schreckgeweiteten Augen »Adolf!«, das Auto fährt weiter, passiert das Ortsschild »Braunau am Inn«, in der mercedeseigenen Schrift wird eingeblendet »Erkennt Gefahren, bevor sie entstehen«. „Es kommt alles anders“ weiterlesen
Im Reich der Finsternis
Das Buch »Vaterland« von Robert Harris ist mir während meiner Buchhändlerlehre in den Neunzigern in die Hände gefallen und es hat mich bis heute nicht losgelassen. Es fängt an wie ein Krimi-Klischee: An einem trostlosen, verregneten Morgen wird die Leiche eines älteren Mannes in der Berliner Havel gefunden. Der Kripo-Ermittler Xaver März – was für ein Name! – untersucht den Tatort. März scheint wie aus einem Noir-Krimi entsprungen, desillusioniert, geschieden, zynisch, die Whiskyflasche im Schreibtisch, eine gescheiterte Existenz. „Im Reich der Finsternis“ weiterlesen